In den letzten Folgen wurde kurz dargelegt, dass es für die Anfänge des Islam keine belastbaren zeitgenössischen Zeugnisse gibt. Der Koran schweigt zu dieser Frage, die ältesten islamischen Schriften, die „Biographien“ Mohammeds, entstammen dem 9. und 10. Jahrhundert. Erst gegen Ende des 8. und im 9. Jahrhundert hat sich der Islam als neue Religion gebildet.
2.44 Der Wechsel vom Christentum zum Islam
Die Religionsgeschichte zeigt, dass neue universale Religionen auf ihren Vorgängerreligionen basieren. Religionssystematisch unterscheiden sie sich von ihnen dadurch, dass sie aus deren Traditionen eine Auswahl treffen und die gewählten Schwerpunkte vertiefen, bis zu einem Punkt, der weiterführend zu einem (nicht gänzlich) neuen Konzept führt. Nicht gänzlich, weil sowohl Selektion wie auch Vertiefung in der Linie der Strukturen und Vorgaben der Vorgängerreligionen liegen. So greift z.B. der Upanishaden-Monismus die schon in der vedischen Religion angelegten monistischen Tendenzen auf und macht sie zur zentralen Aussage; ebenso verhält es sich bei den chinesischen universal-religiösen Konzepten: die latent monistischen Denkweisen der chinesischen Reichsreligion greift der Daoismus auf und macht sie zur alleinigen Idee, die starken gesellschaftlich-ethischen Traditionen der Reichsreligion gipfeln im Konfuzianismus auf; der Monokult der älteren Jahwereligion wird in der Exilszeit zu einem auch theoretischen Monotheismus weitergedacht, die ethischen Impulse zu einer differenzierten humanen Ethik.
Diese Beobachtung lässt sich bei allen universalen Religionen machen, nicht aber – so sieht es aus – für den Islam. Ein das syrische vornizenische Christentum überbietendes und vertiefendes Konzept oder eine neue Idee ist für den Religionswissenschaftler nicht zu erkennen. Dies gilt auch für den streng unitarischen Monotheismus, der zum Erbe und Zentrum des Islam zu rechnen ist. Es scheint so, als sei der Islam deswegen eine neue Religion, weil er für die eigene Bewegung – entgegen seiner tatsächlichen Geschichte – einen neuen Anfangsmythos geschaffen hat, der ihn unabhängig vom Christentum begründet. Alles Übrige wird im Grunde beibehalten.
Allerdings führt diese neue Begründung durchaus zu Veränderungen, die sich aus der bloßen Existenz der neuen Religion ergeben: So wird z.B. die koranische Christologie beibehalten und durch die These vom Offenbarungscharakter des Koran fest etabliert. Weil aber Jesus Christus nicht mehr die entscheidende Heilsrolle zukommt, sondern der Offenbarung Gottes durch Mohammed, werden die christologischen Aussagen des Koran (Jesus, Sohn der Maria, ist Messias, Gesandter, Knecht Gottes, der Gepriesene usf.) zwar weiter überliefert, haben aber nicht mehr die Funktion eines Christusbekenntnisses. Sie verlieren, trotz verbaler Identität, ihren bisherigen christologischen Charakter. Anders gesagt: Christlich-theologisch betrachtet kann (und muss) man zwar von einer Christologie des Koran sprechen, nicht aber – trotz verbal gleich bleibender Aussagen – von einer Christologie des Islam.
Wahrscheinlich sind dieses Fehlen einer erkennbaren neuen, vertiefenden Idee sowie das Beibehalten der tradierten Aussagen der Grund dafür, dass der Islam lange Zeit keine Mission betrieb und in vielen christlichen Regionen der Wechsel zum Islam keine eigentliche „Konversion“ erforderlich machte. Das Christentum konnte in diesen Fällen beinahe unmerklich zum Islam „kippen“. Vieles, was über Gott und Jesus Christus gedacht wurde, war ja gegeben, zunächst in der koranischen Bewegung, dann auch im Islam. Erst allmählich merkte man, dass man einer neuen Religion zugehörte. Dies kann auch erklären, warum in Teilen des ostsyrischen Christentums, aber auch im adoptianischen oder ibaditischen westgotischen Spanien der Wechsel zum Islam so unproblematisch vor sich ging – und man gelegentlich noch längere Jahrhunderte nicht so recht unterscheiden kann, ob hier (noch) Christentum oder (schon) Islam vorliegt.
Zwar wurde in Teilen der ostsyrischen („nestorianischen“) Kirche dezidierter die seit 410 übernommende Bini- und Trinitätslehre sowie die Gottessohnschaft Jesu internalisiert. Vielleicht gilt dies weniger für die einfachen Christen auf dem flachen Land, die mühelos zum Islam wechselten (wenn das denn als formeller Wechsel wahrgenommen wurde), aber es ist anzunehmen, dass dort, wo auch täglich die syrische Liturgie gefeiert und die mit ihr verbundenen Lehren in die Frömmigkeit eingegangen waren, eine größere Widerständigkeit bestand. Die ostsyrischen Kirchen unterschiedlicher Art gingen nicht gleich unter, machten aber einen Schrumpfungsprozess durch. Die noch bis in die jüngste Zeit existierenden Gemeinden und ihr Klerus werden aber in den letzten Jahren mehr oder weniger ins Exil gezwungen und leben, bis auf kleine Gruppen, in der Westlichen Gesellschaft fort.
Dieses „Kippen“ zum Islam gilt aber nicht für die Regionen, in denen ein griechisches oder hellenistisches, später auch ein lateinisches Christentum verbreitet waren. Für griechisch denkende Christen war schon – spätestens nach Nizäa – das syrisch-vornizenische Christentum nicht akzeptabel; es erschien als häretisch. Nachdem es im Gewand des Islam auftrat, wurde es erst recht als Bestreitung der christlichen Essentials wahrgenommen. Deswegen grenzten sich die Christentümer in Kleinasien, Griechenland und Ägypten (Kopten) polemisch gegen die neue Religion ab und blieben, als Majorität in der Bevölkerung oder als starke Minoritäten, auch unter islamischer Herrschaft, bestehen; oft gab es nur in Randbereichen, nicht selten durch Zwangsmaßnahmen (z.B. Beamten oder Reichen gegenüber), eine Übernahme des Islam. Auch die spätere lateinische Kirche erlebte in der Konfrontation mit den arabischen Reichen zugleich den Gegensatz zu einer neuen Religion, die das bestritt, was sie für christlich hielt, neben Gottessohnschaft Jesu und Trinität vor allem die Heilsbedeutung des Kreuzes.[1]
Diese lateinisch-westliche Erfahrung des Islam spiegelt sich leider bis in die heutige – islamwissenschaftliche und christlich-theologische – Literatur hinein. Immer wieder wird vertreten, dass der Islam Glaubensaussagen bestreite, die zum Kern des Christentums gehören. Übersehen wird, im Gefolge der wissenschaftsgeschichtlichen Engführung der theologischen Forschung auf den antiken Mittelmeerraum und danach das lateinische Europa, dass die im Islam vertretenen Thesen der eigenen christlichen Theologiegeschichte, nämlich der frühen syrischen Theologie, entstammen. Das Christentum führt im Dialog mit dem Islam im Grund ein Selbstgespräch mit den eigenen frühen Zeiten (deren Strukturen übrigens auch der Theologie der synoptischen Evangelien – Matthäus, Markus und Lukas – entsprechen). ...
3. Die Traditionsliteratur
3.1 Allgemeine Charakteristik
In dieser Literatur, die eine neue Religion oder wenigstens den Übergang zu ihr dokumentiert, liefern die biblischen bzw. generell christlichen Traditionen weiterhin den Verstehenshorizont und die wichtigsten Motive. Diese aber werden in einem neuen, anderen Sinn gewertet und verwendet. So ist z.B. die Sira gänzlich von biblischen Rastern geprägt, wie z.B. Albrecht Noth und Hans Jansen (in seiner Mohammedbiographie) aufgezeigt haben. Auch noch in den gemäß der Tradition rund hundert Jahre (in Wirklichkeit wohl noch wesentlich) jüngeren „Annalen“ des at-Tabari dienen biblische Muster und Motive dazu, eine biblische Heilsgeschichte zu erzählen[2]. Aber trotz der Internalisierung und Verwendung dieser biblischen Raster und Motive entsteht etwas Neues: Erzählungen vom Anfang und der frühen Geschichte einer neuen Religion, die von dem arabischen Propheten Mohammed im Auftrag Gottes begründet ist.
Dabei mag man durchaus noch Zweifel daran haben, ob die Sira Mohammed tatsächlich nicht nur als Held, Prophet und um seine Autorität kämpfende Figur, sondern auch formell als eine Art Religionsstifter vorstellt; im Munde Mohammeds kommen keine programmatischen religiösen Aussagen vor. Dennoch aber ist der Hintergrund der Erzählungen von der Überzeugung bestimmt, in seiner Gestalt die Anfänge der koranischen Bewegung, die sich gegenüber dem Christentum verselbständigt hat, dingfest machen zu können. Viele der in der Traditionsliteratur aufgeschriebenen Geschichten verraten noch ihre Herkunft von volksnahen Geschichtenerzählern, die neben einem religiösen Interesse auch unterhalten wollten und spannende, manchmal phantastische oder kuriose Szenen schilderten.
Wenn auch keine ernsthaften religiösen Aussagen in Richtung einer Trennung vom Christentum getroffen werden – dem sich bildenden Islam fehlte ein Paulus – und sich alles auf einer anekdotischen Erzählebene bewegt – Mohammed als Wundertäter, Weissager, Kämpfer, Beter, potenter und auch grausamer Mann usf. –, so wird er doch zum Mittelpunkt und Maß dessen, was für die koranische Entwicklung wichtig ist. Und diese verrät nicht mehr eine christliche Ausrichtung. Wenigstens insofern sind die Sira und die anderen Biographien als Dokumente einer neuen Religion, so unscharf sie in ihren Konturen auch noch erscheint, anzusehen.
Diese Literatur scheint Begebenheiten, Ereignisse, Kämpfe, Eroberungen darzustellen; zusätzlich finden sich in ihnen Genealogien, Gedichte, Gemeindeordnungen usf. Zwar wurde schon seit dem 19. Jahrhundert ihr weithin legendarischer Charakter festgestellt. Für die Sira z.B. stellt C.H. Becker fest, dass sie „keine selbständige historische Quelle“ sei. ...
Der legendarische und anekdotische Charakter vieler Erzählungen drängt sich schon beim einfachen Lesen auf. Schon Albrecht Noth hat 1973 die Verwendung literarischer Formen und Topoi in der islamischen Traditionsliteratur nachgewiesen, die ihren Charakter und ihre Nutzung als historische Quellen problematisch bzw. unmöglich erscheinen lässt.[3]
3.2 Religionswissenschaftliche Beobachtungen zu den Anfangs- bzw. Gründungsmythen universaler Religionen
Die meisten universalen Religionen haben Mythen ausgebildet, die ihre Anfänge und Begründung betreffen. „Mythen“ deshalb, weil über die Distanzen von zweihundert bis mehr als tausend Jahren historische Zugänge zu dem Erzählten nicht mehr möglich waren. Alttestamentliches Schrifttum wurde frühestens seit dem Exil im 6. Jahrhundert v. Chr abgefasst, berichtet aber in den Patriarchenerzählungen, z.B. zu Abraham, von mindestens 1.000 Jahre zurückliegenden Geschehnissen, im Fall der Moseüberlieferungen und des Exodus sind es immerhin noch mehr als 600 Jahre, die zu überbrücken sind. Die zoroastrische Literatur muss noch größere Zeiträume überbrücken: „Ungefähr 2.000 Jahre ... trennen die ältesten Stammhandschriften der avestischen Texte von der vermeintlichen Lebenszeit Zarathustras und der Entstehung der ,altavestischen’ Texte.“[4] Die buddhistische Literatur wurde kurz vor der Zeitenwende im Pali-Kanon aufgeschrieben und bezieht sich auf einen Verkünder, der vor einem halben Jahrtausend gelebt haben soll. Kleinere Zeitabstände finden sich bei den neutestamentlichen Schriften, aber selbst bei ihnen ergibt sich das Problem der Spannung zwischen dem Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens, dem historischen Jesus und dem kerygmatischen Christus.
Die Anfangsmythen können (und wollen) also keine Geschichte erzählen, sondern sie projizieren den jeweiligen Glauben ihrer Erzähler und Autoren in frühe Zeiten. Ihr Zweck ist nicht ein Bericht über frühere Begebenheiten, sondern die theologische Postulierung eines Anfangs der Religion, wie sie zur Zeit der Abfassung verstanden wird. Sie sind deswegen so wichtig, weil sich in ihnen die zentralen Eigenarten dieser Religionen narrativ aufzeigen und für konstitutiv erklären lassen.
Ausnahmen von dieser Regel sind nur diejenigen universalen Konzepte, die lediglich eine Art Vertiefung schon bestehender Hochreligionen geblieben sind; hier waren keine begründenden Anfangsmythen erforderlich. Das gilt vor allem für den Hinduismus, der nur unter Vorbehalt als „Weltreligion“ bezeichnet werden kann, weil seine universal-religiöse Komponente, der Upanishadenmonismus, lediglich eine übergreifende Vorstellung blieb, die im indischen Raum, wenn nötig, zur Vertiefung der im Hinduismus versammelten Polytheismen und auch Henotheismen (Shiva- und Vishnuverehrung) dienen kann. Wenn man die religiösen Konzepte der hellenistischen philosophischen Schulen oder die Mysterienkulte als universal-religiös betrachten will, gilt für sie Ähnliches, weil sie nicht zu einer Überwindung, sondern „nur“ zur – allenfalls gelegentlichen – Vertiefung der völkischen religiösen Traditionen führten. In diesen Fällen waren keine Ursprungsmythen notwendig, diese waren schon von den weitergeführten hochreligiösen Traditionen vorgegeben.
Die anderen „Weltreligionen“ aber haben ihre Anfänge in Mythen dargelegt. Im Konfuzianismus rankten sie sich um eine wohl in der Vergangenheit „reale“ Person, im Daoismus um einen mythischen Laotse. Im Zoroastrismus wird recht spät, nach weit mehr als tausend Jahren, die religiöse Tradition auf einen, wie die neuere Forschung zeigt, fiktiven Zarathustra begründet und für ihn eine Biographie entworfen. Die „ältesten Texte, die eine Zarathustra-Vita enthalten, stammen aus dem 9. Jahrhundert u.Z.“, wie Michael Stausberg schreibt[5] – interessanterweise die gleiche Zeit, in der die Mohammedbiographien entstanden sind. Diese Zarathustra-Vita, von der die ältere Literatur nichts weiß, bietet genaueste Details, „präzise nach Tagen und/oder Monaten datiert“[6], und darüber hinaus „eine 14 Generationen zurückreichende Genealogie,“[7] ein wahrhaftig erstaunlicher „Wissenszuwachs“, gebildet ohne irgendwelche Quellen.
Diese Mythen werden durch die Anfangsmythen des Buddhismus noch übertroffen: Gemäß dem Pali-Kanon aus dem späteren ersten Jahrhundert v. Chr. – die früheste (erhaltene) schriftliche Aufzeichnung buddhistischen Gedankenguts – wird das Rad der Lehre angestoßen durch einen Verkünder, Gautama Sidharta, später Buddha (der Erleuchtete) genannt. Obwohl (oder weil) sein Leben mittlerweile einige hundert Jahre zurücklag, wurden sehr schöne Legenden von ihm erzählt: von seiner Präexistenz und Geburt, seinem behüteten Leben, den vier Ausfahrten, seinen Wanderjahren, der Rede von Benares usw. Diese Erzählungen veranschaulichen wichtige Aspekte der buddhistischen Lehre und sind wohl Basis der Rezeption des Buddhismus in weiten Bevölkerungskreisen, die mit den abstrakten Lehren und der differenzierten buddhistischen Philosophie nicht viel anfangen konnten.
Die lange Zeit wohl weithin mündlichen Erzählungen, die in Israel über seine frühere – wirklich nicht glanzvolle – Geschichte kursierten, sind z.Zt. seiner „nationalen“ Bedrohung in der Exilszeit verschriftet worden. Der gleichzeitig erfolgende Durchbruch zur monotheistischen Gottesvorstellung aber scheint einen grandioseren Anfangsmythos erforderlich gemacht zu haben, der zurückgriff bis auf den Anfang schlechthin (Gen 1,1), auf die Erschaffung des Chaos und der geordneten Welt, von der Erschaffung der ersten Menschen über die Völker- und Patriarchengeschichte bis hin zu Mose und der Landnahme. Dieses beeindruckende Präludium korrespondiert der Größe der monotheistischen Jahwevorstellung und begründet zugleich, im Augenblick seiner tiefen Ohnmacht, die Bedeutung der jüdischen Geschichte und somit die zentrale Rolle Israels für „das Heil“ der Völker.
Das Christentum hat diesen Anfangsmythos übernommen und musste ihn infolgedessen zur Begründung der eigenen Besonderheit nur noch christologisch spezifizieren, ihn also als Glauben an Jesus Christus erläutern. Dies wurde verwirklicht vor allem durch die Sammlung und Verkündigung der Jesustraditionen, die – ein Glücksfall, aber dennoch ergibt sich daraus das Problem um den historischen Jesus – erst wenige Generationen Überlieferungsgeschichte hinter sich hatten, und durch Jesus-bezogene Anfangsmythen in den Kindheitsgeschichten und im Johannesprolog, welcher den Bezug zum allerersten Anfang (Gen 1,1) herstellte (ähnlich im pseudopaulinischen Kolosserbrief 1,14-17). Diese Beispiele mögen genügen.
(wird fortgesetzt)
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