Wie kann man über Erlösung sprechen, wenn doch so viele Zerstörungsgeschichten die Güte des Lebens in Frage stellen?
Diesen Text schreibe ich als alter Mensch. Ich weiß nicht, ob es allen
Alten so geht, sicher aber vielen, dass sie nicht mehr in stimmigen und einleuchtenden
theologischen Zusammenhängen reden; nicht, weil der Verstand schwächer
geworden ist, sondern, weil einem das Leben die Systematik und die einleuchtenden
Erklärungen ausgetrieben hat. Es sprechen so viele Todesdaten, Zerstörungsgeschichten
und Unstimmigkeiten gegen den Zusammenhang und die Güte des Lebens, dass
man sich
eher wundert, dass Menschen das Leben loben und Gott preisen können.
Wenn es schon nicht mehr zur Systematik reicht, so doch zur Konfession. Das Glaubensbekenntnis als systematische Aussage und Lehre zerbröckelt einem unter den Händen, aber umso fester hält man die Brocken, die man nicht aufgeben kann: Jesus Christus - das aufgedeckte Antlitz Gottes; Jesus Christus - in unsere Tode hineingestorben; Jesus Christus - die Hoffnung auf die Heilung aller Lebenswunden und Lebensschulden.
"Das Glaubensbekenntnis zerbröckelt einem unter den Händen."
Es spricht viel dagegen, dieses zu glauben; vielleicht mehr dagegen als dafür, aber ich erzähle eine Geschichte, bei der einem nichts anderes übrig bleibt als zu glauben (oder nicht zu glauben). Ich finde sie bei Carlos Mesters, dem brasilianischen Befreiungstheologen. (Die Botschaft des leidenden Volkes, Neukirchen-Vluyn 1982)
Es ist die Geschichte von Teresinha, einer Frau aus dem brasilianischen Bergland (in das Gesicht dieser Frau kann ich hineinlesen das Gesicht der alten Frau, die in Hamburg-Altona mit hungrigen Augen vor ihrem Fernseher sitzt; die Gesichter der Zwangsprostituierten in unserem Land und die Gesichter aller hungernden Kinder). Das Kind der Teresinha war erst wenige Monate alt und schwer krank. Sie geht zu einem Arzt, der ihm die Behandlung verweigert. Sie geht von Krankenhaus zu Krankenhaus, aber sie hat nicht die richtigen Papiere und wird abgewiesen. Schließlich stirbt das Kind in ihren Armen.
Einmal erzählt diese Frau die Geschichte des Sterbens ihres Kindes einer Nonne, und diese antwortete ihr: "Wie können Sie das nur aushalten, so zu leiden?" Teresinha antwortet: "Ich weiß nicht, Schwester. Wir sind arm, wir wissen nichts. Das einzige, was für uns übrig bleibt in dieser Welt, ist leiden. Lassen Sie nur, Schwester, eines Tages wird sich das ändern! Gott hilft Leuten wie uns."
"Gott hilft Leuten wie uns"
"Eines Tages wird sich das ändern!", sagt die Frau. "Den Tod vernichtet er für immer", sagt Jesaja. "Gott hilft Leuten wie uns", sagt die Frau. "Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen", heißt es im letzten Buch der Bibel. Die Frage, was Erlösung bedeutet und ob man auf sie hoffen kann, kann ich nicht abstrakt beantworten.
Ich könnte es nicht in der Bibel lesen, wenn ich es nicht aus den Worten dieser Frau lese. Die Frau in ihrem Schmerz und in ihrer Hoffnung ist meine Zeugin. Ich verstünde sehr gut, wenn sie verstummte oder wenn ihre Sprache bescheiden würde und wenn sie nur noch sagte: "So ist das Leben! Das Kind ist tot, und mehr hat unsereins nicht zu erwarten." Aber sie hat keinen Grund, so bescheiden zu sein. Sie geht mit ihrer Hoffnung aufs Ganze und sagt: "Eines Tages wird sich das ändern. Gott hilft Leuten wie uns."
Was mich in ihre Sprache und in ihren Glauben lockt, ist zunächst ihre Schönheit. Es ist schön und menschenwürdig, dass ein Mensch sich die Hoffnung nicht verbieten lässt; dass sie einen neuen Himmel und eine neue Erde erwartet, in denen sie nicht mehr ein erniedrigtes und beleidigtes Geschöpf ist. Ich finde den dickköpfigen Stolz der Frau schön, in dem sie ein Land erwartet, in dem "das Frühere vergangen" ist.
Verlockung zum Glauben
Etwas schön zu finden, ist übrigens die erste und vielleicht kräftigste Verlockung zum Glauben. Diese Schönheit lehrt mich, unzufrieden zu sein mit der unterernährten Vernunft, die nur sagt, was zu sagen ist. "Gott erlöst sein Volk" - diesen Satz kann die Vernunft nicht sagen. Es ist auch nicht ihre Sache, ihn zu sagen. Es ist Sache der Hoffnung der gequälten Wesen, die verlangen, erlöst zu werden aus ihrer Qual. Ich greife nicht die Vernunft an, aber die Vernünftigen, die den Kopf schütteln vor der Unvernunft all der Teresinhas, die sich in ihren Jammertälern herumtreiben.
Man kann die Atheisten verstehen, die aus Verzweiflung am Leben und daran, was ihm angetan wird, den Namen Gottes nicht mehr nennen können. Sie haben ja einigen Grund für ihre Haltung. Schwer nur kann ich die verstehen, die - anders als Teresinha - gut im Leben davongekommen sind und sich in schmerzensfreier Rede darauf beschränken, zu sagen, was zu sagen ist. Über ihre "trockene Tapferkeit" spotte ich mit Gottfried Keller: "Seinen (des liberalen Pfarrers) Schilderungen konnte dann die unvermählt gebliebene Greisin entnehmen, dass wir in unseren Kindern und Enkeln fortleben; der Arme im Geist getröstete sich der unsterblichen Fortwirkung seiner Gedanken und Werke. ... Der Mühselige und Beladene endlich durfte auf ein durchgreifendes Ausruhen von aller Beschwerde hoffen." (Die Leute von Seldwyla)
In fremder Sprache
Das eigene Herz ist zu klein für die Hoffnung auf die endgültige Bergung des Lebens. Man muss Zeugen haben. Der Glaube jener Teresinha bewahrheitet den Glauben daran, dass die Opfer nicht Opfer bleiben und endgültig verspielt haben. Ich versuche, meinen Glauben an Gott zu nennen, und ich stelle fest, dass ich dies dauernd in fremder Sprache tue. Ich zitiere Jesaja, wenn ich auf das Land hoffe, "aus dem die Seufzer geflohen sind". Ich zitiere die Apokalypse, wenn ich behaupte: "Der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz." Man sucht sich Zeugen für die Hoffnung. Der Glauben geht Umwege, er glaubt nicht hauptsächlich "etwas". Glauben heißt, den Zeugen ihren Glauben zu glauben.
Welch ein Glück, dass ich eine Fremdsprache für meinen Glauben habe! In der fremden Sprache, in den Geschichten und den Bildern von gestern berge ich meinen Glauben unter der Maske der Toten. Ich stehe nicht allein, nicht einmal für meinen Glauben. Ich benutze die Sprache meiner lebenden und toten Geschwister, und ich benutze damit auch ihren Glauben. In den Formeln und in der fremden Sprache der Zeugen springe ich weit hinaus über mein eigenes Sprachvermögen. Ich spiele den Clown in der Sprache der anderen, und ich lese die Hoffnung ab von ihren Lippen. Wie buchhalterisch ist das Bestehen darauf, alles vor dem "eigenen Gewissen" allein verantworten zu wollen. Mein Herz verantwortet nicht die Sprache, die die Auferstehung der Toten und den Sturz der Tyrannen nennt. Oft genug spricht man die fremden Sätze gegen das eigene Herz.
"Die Sprache der Liebe und die Sprache des Schmerzes nehmen den Mund immer zu voll."
Ja, ich kenne den Einwand: Die Hoffnung auf jene endgültige Stadt und
auf Gott, der die Teresinhas erlöst, sei eine Vertröstung, die den
Augenblick entwichtige und die Kraft für die Gegenwart verschleudere.
Aber es ist auch an der Zeit zu überlegen, was die Sprachlosigkeit anrichtet
und was eine Sprache anrichtet, die das Elend beschreibt; die aber das Lied
"Einmal wird es sein!" nicht mehr kennt. Wünsche und Hoffnungen
sterben, wenn sie sich in eine zu kurze Sprache ducken müssen. Die Sprache
der Liebe und die Sprache des Schmerzes nehmen den Mund immer zu voll.
Aber wehe, wenn sie bescheiden werden und die Unsäglichkeiten vermeiden! Der Tod darf nicht das letzte Wort haben, sonst wäre er größer als Gott. Die Toten drängen mich, an Gott zu glauben. Die Opfer fordern Versprechungen, die größer sind, als mein Herz wissen und vertreten kann. Da ich niemanden Opfer sein lassen will, nicht einmal mich selber, rufe ich: Gott wird die Toten nicht vergessen. Es wird ein Land kommen, aus dem die Seufzer geflohen sind und in dem jeder seine Sprache und seinen Gesang gefunden hat.
Nein, es ist mir zu wenig, dass Gott keine anderen Hände hat als die unseren und kein größeres Herz als das unsere. Ich lese in der Zeitung, dass in Hamburg ein Kind ermordet wurde. Nein, ich lasse Gott nicht davonkommen. Er soll für das ungelebte Leben und den schrecklichen Tod des Kindes stehen. Er soll seine Tränen abwischen und ihm sein Lachen zurückgeben. So wahr es ist, dass Gott selber in die Hände der Räuber gefallen ist in allen Gestalten der Armut, die sich auf der Welt herumtreiben, so wahr ist - ich behaupte es, und ich verlange es! -? dass Gott alle Wunden heilen und die Toten erwecken wird. Ich setze darauf, und ich kümmere mich nicht darum, dass ich die Wette verlieren kann.
Die Solidarität nicht aufgeben
Ich weiß, dass ich in unverstandenen Bildern rede, wenn ich mit der Bibel sage: "Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird sein; denn das Erste ist vergangen." Die Toten und ihr Schicksal öffnen mir den Mund für diesen Gesang, der mit seiner Vision vom guten Ausgang allen Lebens wie Kitsch klingt. Aber lieber des Kitsches verdächtigt sein, als die Solidarität mit den Opfern aufgeben.
Und noch einmal die Frage: Ist der Glaube an die Bergung allen Lebens in der Hand Gottes nicht ein Verrat der Erde? Es ist ein Verrat, wenn der Himmel nicht zur regulativen Idee für die Erde selbst wird. Ich zitiere ein Lied des Schweizer Theologen Kurt Marti: "Der Himmel, der ist, ist nicht der Himmel der kommt, wenn einst Himmel und Erde vergehen. Der Himmel der kommt, das ist der kommende Herr, wenn die Herren der Erde gegangen. Der Himmel der kommt, das ist die Welt ohne Leid, wo Gewalttat und Elend besiegt sind. Der Himmel der kommt, das ist die fröhliche Stadt und der Gott mit dem Antlitz des Menschen. Der Himmel der kommt, grüßt schon die Erde, die ist, wenn die Liebe das Leben verändert."
Der Himmel, der kommt, wird zum Bauplan der Welt, die ist. Er ist nichts völlig anderes, er ist die Musik, die hier schon gespielt werden soll. Es soll im Himmel wie auf Erden sein und auf Erden wie im Himmel. Gottes Wille soll geschehen im Himmel wie auf Erden, wie die Bitte des Vaterunsers sagt. Himmel heißt nicht nur, eine Herkunft haben, es heißt nicht nur, eine Zukunft haben. Es heißt, eine Arbeit auf der Erde zu haben.
Koautor des Himmels
Die große Würde des Menschen: Er ist nicht nur nacktes Spatzenjunges, das den religiösen Schnabel aufsperrt und auf die tägliche Gnadenfütterung Gottes wartet. Der Mensch ist Mitarbeiter und Koautor des Himmels; er ist Autor des Trostes, der Gerechtigkeit und des Friedens dieser Welt. Der Glaube an die Herkunft von diesem Gott bedeutet die Unerträglichkeit des Todes, nicht nur am Ende des Lebens. Es heißt, die falschen Tode nicht hinnehmen, die Menschen mitten im Leben angetan werden. Die falschen Tode: der Hunger der Menschen, der ihnen das Leben nimmt, ihre Armut, ihre Folterqualen, ihre Stummheit und ihre Zukunftslosigkeit.
Der Himmel, der kommt, soll hereinbrechen in diese Welt, die ist. Man kann nicht an jenen Himmel glauben und sich zugleich mit gewaltsamen Toden abfinden. Man kann nicht an die Auferstehung glauben und das eigene Land zugleich zu Tode rüsten. Man kann nicht an die Auferstehung glauben und zugleich das Klima kaputt machen, das das Leben der Kinder und der Enkel gefährdet. Das ist nicht eine Moral, die aus den Sätzen der Güte Gottes folgert, sondern es sind Glaubenssätze selber: Du Mensch bist gewürdigt, Gott zu trösten in seinen Gestalten der Verlorenheit, im gefolterten Mann, in der vergewaltigten Frau, in den hungernden Kindern.
Ich zitiere ein anderes Lied von Kurt Marti: "Das könnte den Herren der Welt ja so passen, wenn erst nach dem Tod Gerechtigkeit käme, erst dann die Herrschaft der Herren, erst dann die Knechtschaft der Knechte. Vergessen wäre für immer. // Das könnte den Herren der Welt ja so passen, wenn hier auf der Erde stets alles so bliebe, wenn hier die Herrschaft der Herren, wenn hier die Knechtschaft der Knechte so weiter ginge wie immer. // Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden, ist schon auferstanden und ruft uns jetzt alle zur Auferstehung auf Erden, zum Aufstand gegen die Herren, die mit dem Tod uns regieren."
Die Hoffnung kommt nicht ohne Bilder aus
Die Kernfrage also bleibt: Führt der Glaube an die Erlösung nur aus der Welt hinaus oder in sie hinein? Die Solidarität mit den Opfern erlaubt mir kein Schweigen und sie öffnet mir den Mund, zu sagen, was man nicht sagen kann: dass keine Träne umsonst geweint ist und keine Wunde ungeheilt bleibt. Wie und wo dies wahr wird, weiß ich nicht. Wir kommen nicht umhin, uns von den Orten der Bergung Bilder zu machen. Denn die Hoffnung kommt nicht ohne Bilder aus. Zugleich muss man wissen, dass unsere Bilder Bilder sind und wie alle theologischen Aussagen im Bilderverbot gerichtet werden. Gott weiß, wo er unsere Tränen sammelt, und dies genügt.
Fulbert Steffensky ist emeritierter Professor für Religionspädagogik in Hamburg.
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