Henri
Boulad
Persönlicher Brief an Papst Benedikt XVI.
SOS für die Kirche von heute
Die französische Zeitschrift „Vagues d’Espérances“
(Hoffnungswellen), das Mitteilungsblatt der Reformgruppen JONAS im Elsass, veröffentlichte
in ihrer Dezember- Nummer 2009 einen Brief, den der ägyptische Jesuit Henri
Boulad bereits im Juli 2007 an den Papst geschrieben hatte. Er spricht eine
sehr deutliche Sprache und hat auch nach fast zweieinhalb Jahren nichts von
seiner Brisanz verloren. Wir veröffentlichen diesen Brief eines im französischsprachigen
Bereich sehr bekannten und angesehenen Kirchenmannes, der aber auch in deutschsprachigen
Raum, besonders in Österreich, mit Vorträgen und Veröffentlichungen
öffentlich aufgetreten ist, in eigener Übersetzung. Henri Boulad,
der 1931 in Alexandria geboren ist, studierte Theologie im Libanon, Philosophie
in Frankreich und Psychologie in den USA. 1950 trat er in den Jesuitenorden
ein. Im übrigen stellt er sich in seinem Brief dem Papst – und damit
auch den imprimatur-Lesern - selbst vor. Red.
Heiliger Vater,
ich wage es, mich direkt an Sie zu wenden, denn mir blutet das Herz, wenn
ich sehe, wie unsere Kirche dabei ist, im Abgrund zu versinken. Sie werden bitte
meinen ganz und gar kindlichen Freimut entschuldigen, der mir sowohl von der
„Freiheit der Kinder Gottes“ auferlegt ist, zu der uns der hl. Paulus
auffordert, wie von meiner leidenschaftlichen Liebe zur Kirche. Sie wollen bitte
auch den alarmierenden Ton dieses Briefes entschuldigen, denn ich glaube, dass
es „fünf vor zwölf“ ist und die Situation kein Abwarten
mehr erlaubt.
Erlauben Sie mir zuerst, mich vorzustellen. Ich bin ägyptisch-libanesischer
Jesuit des melkitischen Ritus und werde bald 76 Jahre alt. Ich bin seit drei
Jahren Rektor des Jesuitenkollegs von Kairo, nachdem ich vorher folgende Aufgaben
wahrgenommen hatte: Oberer der Jesuiten von Alexandrien, Regionaloberer der
Jesuiten
Ägyptens, Theologieprofessor in Kairo, Direktor der Caritas Ägypten
und Vizepräsident der Caritas Internationalis für den Nahen Osten
und Nordafrika. Ich kenne sehr gut die katholische Hierarchie Ägyptens,
da ich mehrere Jahre an ihren Zusammenkünften als Vorsitzender der Ordensoberen
in Ägypten teilgenommen habe. Ich habe sehr persönliche Beziehungen
zu jedem Mitglied der Hierarchie, manche sind meine früheren Schüler.
Im übrigen kenne ich Papst Schenuda III. persönlich und treffe ihn
ziemlich regelmäßig.
Was die katholische Hierarchie Europas betrifft, hatte ich mehrfach Gelegenheit,
einige ihrer Mitglieder persönlich zu treffen, so die Kardinäle König,
Schönborn, Daneels, Erzbischof Kothgasser, die Diözesanbischöfe
Kapellari und Küng, andere österreichischen Bischöfe sowie Bischöfe
anderer europäischer Länder. Diese Begegnungen fanden statt anlässlich
meiner jährlichen Vortragsreisen in verschiedene Länder Europas, Österreich,
Deutschland, Schweiz, Ungarn, Frankreich, Belgien ... Bei diesen Reisen wende
ich mich an ein sehr unterschiedliches Publikum, ebenso an unterschiedliche
Medien (Zeitungen, Radio, Fernsehen). Das tue ich auch in Ägypten und im
Nahen Osten.
Ich habe etwa 50 Länder in vier Kontinenten besucht und etwa 30 Werke
in 15 Sprachen veröffentlicht, besonders in Französisch, Arabisch,
Ungarisch und Deutsch. Von meinen 13 Büchern in dieser Sprache haben Sie
vielleicht „Gottessöhne, Gottestöchter“ gelesen, das Ihnen
ihr Freund P. Erich Fink aus Bayern übergeben hat.
Ich sage das nicht, um mich zu brüsten, sondern um Ihnen zu sagen, dass
meine Worte sich auf eine wirkliche Kenntnis der universalen Kirche und ihrer
Situation heute, im Jahr 2007, stützen.
Ich komme zum Gegenstand dieses Briefes, wobei ich möglichst
kurz, klar und objektiv zu sein versuche. An erster Stelle eine gewisse Zahl
von Feststellungen, deren Liste keineswegs erschöpfend ist:
- Die religiöse Praxis ist in permanentem Niedergang.
Die Kirchen Europas und Kanadas werden nur noch von einer stets geringer werdenden
Zahl von Personen des dritten Lebensalters besucht, die bald ganz verschwunden
sein werden. Es wird dann nichts anderes übrig bleiben, als diese Kirchen
zu schließen oder sie in Museen, Moscheen, Clubs oder Stadtbibliotheken
zu verwandeln, wie es schon geschieht. Was mich erstaunt, ist, dass viele
von ihnen zur Zeit völlig renoviert und mit großen Kosten modernisiert
werden, in der Absicht, dadurch Gläubige anzuziehen. Aber dies wird den
Exodus nicht stoppen.
- Die Priesterseminare und Noviziate leeren sich im selben Rhythmus
und die Berufungen sind im freien Fall. Die Zukunft ist eher düster,
und man fragt sich, wer die Ablösung übernehmen wird. Europäische
Pfarreien werden gegenwärtig mehr und mehr von Priestern aus Asien oder
Afrika übernommen.
- Viele Priester verlassen ihr Amt und die kleine Zahl derer,
die es noch ausübt – oft jenseits des Rentenalters –, müssen
ihren Dienst in mehreren Pfarreien ausüben, in Eile und verwaltungsmäßig.
Viele von ihnen, sowohl in Europa wie der Dritten Welt, leben im Konkubinat,
vor den Augen ihrer Gläubigen, die das oft billigen, und ihres Bischofs,
der nichts dagegen machen kann – angesichts des Priestermangels.
- Die Sprache der Kirche ist überholt, anachronistisch, langweilig,
sich ständig wiederholend, moralisierend und völlig unzeitgemäß.
Es geht keineswegs darum, mit dem Strom zu schwimmen und in Demagogie zu machen,
denn die Botschaft des Evangeliums muss in seiner ganzen herausfordernden
Anstößigkeit vorgestellt werden. Was vielmehr nötig ist, ist
jene „neue Evangelisierung“, zu der uns Johannes Paul II. eingeladen
hat. Diese besteht jedoch im Gegensatz zu dem, was viele denken, keineswegs
in der Wiederholung der alten, die nicht mehr zieht, sondern in der Erneuerung,
in einer neuen Sprache, die den Glauben treffend und bedeutsam für die
Menschen von heute ausspricht.
- Dies ist nur zu machen durch eine tiefgehende Erneuerung der Theologie
und Katechese, die von Grund auf neu gedacht und reformuliert werden müssten.
Ein deutscher Ordenspriester, den ich neulich traf, sagte mir, dass das Wort
„Mystik“ nicht ein einziges Mal im neuen Katechismus vorkommt.
Ich war davon verblüfft. Man muss wohl feststellen, dass unser Glaube
sehr verkopft, abstrakt, dogmatisch ist und wenig das Herz und den Leib anspricht.
- Als Konsequenz wenden sich zahlreiche Gläubige den Religionen
Asiens zu, den Sekten, dem New Age, evangelikalen Kirchen, dem Okkultismus
usw. Darüber braucht man sich nicht zu wundern. Sie suchen anderswo
die Nahrung, die sie bei uns nicht finden, denn sie haben den Eindruck, dass
wir ihnen Steine statt Brot geben. Der christliche Glaube, der früher
dem Leben der Menschen einen Sinn verliehen hat, ist heute für sie zu
einem Rätsel, einem Überbleibsel einer zu Ende gegangenen Vergangenheit
geworden.
- Auf der Ebene der Moral und Ethik berühren die Einlassungen
des Lehramtes, wiederholt bis zum Überdruss, zu Ehe, Empfängnisverhütung,
Abtreibung, Euthanasie, Homosexualität, Priesterehe, wiederverheiraten
Geschiedenen usw. niemanden mehr und rufen nur mehr ein müdes
Lächeln und Indifferenz hervor. Alle diese moralischen und pastoralen
Probleme verdienen mehr als unumstößliche Erklärungen. Sie
bedürfen einer pastoralen, soziologischen, psychologischen, humanen Herangehensweise
... auf einer mehr dem Evangelium gemäßen Linie.
- Die katholische Kirche, die Jahrhunderte lang die große Erzieherin
Europas war, scheint zu vergessen, dass dieses Europa zu Reife und Mündigkeit
gelangt ist. Unser erwachsenes Europa lehnt es ab, als minderjährig
behandelt zu werden. Der paternalistische Stil einer Kirche als Mater et Magistra
ist endgültig überholt und zieht heute nicht mehr. Unsere Christen
haben gelernt selber zu denken und sind nicht mehr bereit, alles Mögliche
zu schlucken.
- Die katholischen Nationen von früher – Frankreich,
„die älteste Tochter der Kirche“ oder das ultrakatholische
französischsprachige Kanada – haben eine Kehre um 180 Grad vollzogen
und verfallen dem Atheismus, Antiklerikalismus, Agnostizismus und
der Indifferenz. In anderen europäischen Nationen ist dieser
Prozess im Gang. Man kann feststellen, dass je stärker ein Volk in der
Vergangenheit von der Kirche bemuttert wurde, desto heftiger die Reaktion
gegen sie ist.
- Der Dialog mit den anderen Kirchen und Religionen zeigt heute einen
beunruhigenden Rückgang. Die seit einem halben Jahrhundert erzielten
Fortschritte scheinen gegenwärtig in Frage gestellt.
Angesichts dieser niederdrückenden Feststellungen ist die Reaktion
der Kirche eine doppelte:
- Sie versucht die Schwere der Situation zu minimalisieren und sich mit der
Feststellung zu trösten, dass es auf ihrem erztraditionellen Flügel
und in der Dritten Welt eine gewisse Erneuerung gibt.
- Sie setzt auf Vertrauen in Gott, der sie in zwanzig Jahrhunderten gehalten
habe und wohl in der Lage sei, ihr bei der Überwindung dieser neuen Krise,
wie bei den vorhergehenden, zu helfen. Hat sie nicht das Versprechen ewigen
Lebens?
Darauf antworte ich Folgendes:
- Nicht indem man sich auf die Vergangenheit stützt, deren Bruchstücke
einsammelt, wird man die Probleme von heute und morgen lösen.
- Die scheinbare Vitalität der Kirchen der Dritten Welt ist trügerisch.
Aller Wahrscheinlichkeit nach werden diese jungen Kirchen früher oder
später dieselben Krisen wie die alte europäische Christenheit durchmachen.
- Die Moderne ist unumgehbar, und weil sie dies vergessen hat, ist die Kirche
heute in einer solchen Krise. Das 2. Vatikanum hat versucht, vier Jahrhunderte
Rückstand aufzuholen, doch man gewinnt den Eindruck, dass die Kirche
die damals aufgestoßenen Türen langsam wieder schließt und
versucht, sich eher am Tridentinum und 1. Vatikanum als am 2. Vatikanum auszurichten.
Erinnern wir uns an die mehrfach wiederholte Einschärfung Johannes’
Pauls II.: Keine Alternative zum 2. Vatikanum!
- Wie lange werden wir noch mit der Vogel-Strauß-Politik fortfahren
und unseren Kopf in den Sand stecken? Wie lange wollen wir uns noch weigern,
den Fakten ins Gesicht zu schauen? Wie lange wollen wir noch versuchen, um
jeden Preis die Fassade, eine Fassade, von der sich heute niemand mehr täuschen
lässt, zu wahren? Wie lange noch starren wir auf und sperren wir uns
gegen jede Kritik, statt darin eine Chance zur Erneuerung zu sehen? Wie lange
werden wir eine Reform, die sich aufdrängt und die man schon zu lange
zurückgestellt hat, auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben?
- Nur im entschiedenen Blick nach vorn und nicht zurück wird die Kirche
ihren Auftrag, Licht der Welt, Salz der Erde und Sauerteig zu sein, erfüllen
können. Was wir heute aber leider feststellen müssen, ist, dass
die Kirche, die Jahrhunderte lang Pionierin war, unserer Epoche hinterher
bummelt.
- Ich wiederhole, was ich zu Beginn dieses Briefes sagte: „Es ist fünf
vor Zwölf“ (an dieser Stelle im Original auch auf Deutsch –
damit der deutsche Papst es ja versteht! Anm. d. Übers.). Die Geschichte
wartet nicht, vor allem nicht in unserer schnelllebigen, sich beschleunigenden
Epoche.
- Jedes Wirtschaftsunternehmen, das ein Defizit oder Dysfunktionen feststellt,
stellt sich sofort in Frage, versammelt Experten und versucht sich zu fangen
und alle Kräfte zur Überwindung der Krise zu mobilisieren.
- Warum macht es die Kirche nicht ebenso? Warum mobilisiert sie nicht alle
lebendigen Kräfte für ein radikales aggiornamento? Warum?
- Faulheit, Feigheit, Stolz, Mangel an Phantasie und Kreativität, ein
schuldhafter Quietismus in der Hoffnung, dass es der Herr schon richten wird
und die Kirche schon manch anderes in der Vergangenheit gekannt hat?
- Im Evangelium warnt uns Christus: „Die Söhne der Finsternis
sind viel geschickter bei ihren Geschäften als die Söhne des Lichts...“
Was ist nun zu tun?
Die Kirche von heute bedarf zwingend und dringend einer dreifachen
Reform:
- Eine theologische und katechetische Reform, um den Glauben
neu zu denken und für unsere Zeitgenossen kohärent zu reformulieren.
Ein Glaube, der nichts mehr bedeutet, der dem menschlichen Leben keinen Sinn
verleiht, ist nur noch bloße Verzierung, eine unnütze Superstruktur,
die in sich zusammenfällt - was heute geschieht.
- Eine pastorale Reform, um die überkommenen Strukturen
von Grund auf neu zu konzipieren.
- Eine spirituelle Reform, um die Mystik wieder zu beleben
und die Sakramente neu zu verstehen, ihnen existenziellen Sinn zu geben und
ins Leben einzubeziehen. Ich hätte dazu viel zu sagen.
Die Kirche ist heute zu formal, zu formalistisch. Man gewinnt den Eindruck,
dass die Institution das Charisma erstickt und dass letztlich nur die äußere
Stabilität, eine respektable Oberfläche, die Fassade zählen.
Laufen wir nicht Gefahr, eines Tages von Jesus als „weiß getünchte
Gräber“ (vgl. Mt 23,27. Anm. d. Übers.) behandelt zu werden?
Um zu schließen, schlage ich die Einberufung einer Generalsynode
auf der Ebene der Weltkirche vor, an der alle Christen teilnehmen könnten
– Katholiken und andere –, um in Freimut und Klarheit die oben genannten
und alle anderen vorgeschlagenen Punkte zu prüfen. Eine solche Synode,
die drei Jahre dauern sollte, würde abgeschlossen mit einer Generalversammlung
– vermeiden wir den Begriff „Konzil“ -, die die Ergebnisse
sammelt und Schlüsse daraus zieht.
Ich schließe, Heiliger Vater, mit der Bitte, meinen Freimut und Wagemut
zu verzeihen, und erbitte Ihren väterlichen Segen. Erlauben Sie mir auch
Ihnen zu sagen, dass ich diese Tage mit Ihnen verbringe, dank Ihres bemerkenswerten
Buchs „Jesus von Nazareth“, das Gegenstand meiner spirituellen Lektüre
und täglichen Meditation ist.
In aufrichtiger Verbundenheit im Herrn
Graz, 18. Juli 2007 P. Henri Boulad
(Übersetzung aus dem Französischen von Werner Müller)
© imprimatur April 2010
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