„Trauen Sie keinem Pfarrer!“
Der Jesuit Friedhelm Mennekes spricht im FR-Interview über den Missbrauch im Orden, seine Schuldgefühle, sein Empfinden gegenüber dem Täter und den eigenen Kampf ums Zölibat.

Pater Mennekes, Sie kennen die Täter seit vielen Jahren. Was ist das für ein Gefühl?
Mit einem von ihnen, Wolfgang S., bin ich oft Langlaufen gewesen. Er wirkte auf mich hart, eher verschlossen. Lange nachdem er den Orden verlassen hatte, kam er vor drei Jahren mit seiner schwer behinderten Tochter zu mir in meine Kölner Pfarrei und bat mich, dass ich das Kind mit zur Erstkommunion führe. Das habe ich gemacht. Umso schwerer tue ich mich jetzt mit diesen Nachrichten umzugehen.

Sie hatten nie eine Ahnung, "da stimmt was nicht"?
Nein. Mir verschlug es völlig die Sprache. Aber trotzdem muss ich auch sagen: Respekt. Er hat sich seinen Verbrechen gestellt, ist aus dem Orden ausgetreten, hat eine Therapie gemacht. Wie man mit dem Wissen um so ein Verbrechen weiterleben kann, ist eine andere Frage. Ich musste schlucken, als ich ihn irgendwo wörtlich zitiert mit der Aussage las, er sei mit sich und seinem Gott im Reinen. Also, das kann ich mir nicht vorstellen.

"Respekt" - ist das die angemessene Kategorie?
Ich verliere grundsätzlich nicht den Respekt vor Menschen, auch wenn sie Furchtbares getan haben. Das gilt auch für diesen ehemaligen Mitbruder. Zugleich bin ich natürlich tief enttäuscht und fühle mich auch hintergangen. Und glauben Sie mir: als ein Pfarrer, der "noch mehr für Kinder als für Kunst getan hat", wie es mal jemand gesagt hat, machen mich die Vergehen an Kindern umso betroffener. Betroffenheit und Respekt schließen sich nicht aus.

Gibt es bei Ihnen und Ihren Mitbrüdern ein Schuldgefühl, das an Ihnen nagt: "Habe ich sorgfältig genug hingesehen? Hätte ich etwas bemerken müssen?"
Ja und nein. Die Mechanismen des Verdeckens sind offenbar sehr entwickelt. Auch die Fähigkeit zu radikal offenen Gesprächen in der Gemeinschaft des Ordens ist nicht übermäßig groß. Dafür braucht es ein sehr gutes Gespür für Nähe und Distanz. Und natürlich können Sie mit Verdachtsmomenten ja auch leicht danebenliegen.

Ihre Ordensoberen kannten die Vergehen und haben die Täter teilweise einfach nur versetzt.
Da hat der Orden keine glückliche Rolle gespielt. Also, im Moment ist es schwer, Jesuit zu sein. Ich hatte schon mit manchen Klöpsen zu tun, aber nie waren sie so dick und nie kamen sie so nah an mich heran. Andererseits finde ich das Verhalten der heute Verantwortlichen vorbildlich. Der Weg der schonungslosen Aufklärung, der klaren Rede ist alternativlos. Wer weiß, was noch alles herauskommt? Aber ich glaube, es gibt bei uns den Mut zu sagen: Okay, dann muss es jetzt raus!

Sie erwähnten Ihre Arbeit mit Kindern. Fällt darauf jetzt ein Schatten?
Wenn ich es mit neuen Eltern zu tun bekam, war einer meiner ersten Sätze: "Trauen Sie keinem Pfarrer! Schauen Sie genau zu, was ich mache! Ich möchte, dass bei unseren gemeinsamen Aktionen immer mindestens ein Elternteil präsent ist. Ich bin auch nicht Ihr Vorbild, zwingen Sie mich nicht in diese Rolle." Eine Pädagogik unter Aufsicht war mir immer sehr wichtig. Und die Kirche per se verdient keine größere Vertrauensseligkeit als andere Institutionen.

Sie pflanzen bewusst den Zweifel in das seelsorgerliche Verhältnis, das doch von Vertrauen und Offenheit geprägt sein sollte?
Man muss sich immer sehr klar sein, was man tut. Ich habe es mir zum Beispiel zur Regel gemacht, nie ein Kind in den Arm zu nehmen. Nun sind Kinder ja oft sehr spontan mit Berührungen und Zärtlichkeiten. Aber da muss man in einer guten Form auf Distanz bleiben, möglichst so, dass die Kinder es nicht als distanzierend empfinden. Anders geht es nicht.

Macht einen das nicht selbst höchst befangen?
Die Weitergabe des Glaubens hat mit Emotionalität und Atmosphäre zu tun. Das heißt, Sie müssen die eigene Emotionalität in die Beziehung geben. Aber Sie müssen das gleichzeitig sofort rationalisieren und sich distanzieren. Jeder Priester ist in der Gefahr, idealisiert zu werden – bis hinein ins Erotische. Der Pfarrer in seinen Gewändern, der vor den Leuten steht, ist ein Übertragungsobjekt...

... und durch den Zölibat obendrein mit einer besonderen Aura umgeben: der Ehelose als "heiliger Mann".
Das ist der unglaubliche Druck auf dieser Rolle. Genau dem muss man sich widersetzen und sagen: "Nichts da! Ich bin ganz normal – mit all meinen Fehlern, Launen und Überspanntheiten." Das ist kein Kneifen vor der eigenen Lebensform, aber ein Regulativ. Ich muss ja auch selbst mit dem ungeheuer großen Kostenfaktor zurechtkommen, den der Zölibat darstellt.

Kostenfaktor?
Der Verzicht auf Ehe und Familie ist doch – gerade in unserer Zeit – ein immens hoher Preis. Ich zum Beispiel habe es immer als besonders großen Verlust empfunden, keine eigenen Kinder zu haben. Zumal ich so viele Kinder um mich hatte und das "Wunder des Lebens" auf die Eltern habe ausstrahlen sehen.

Was ist der Gegenwert des Preises, den Sie zu zahlen haben?
In der Bibel finden Sie als Motiv für die Ehelosigkeit – nicht ausdrücklich, aber doch ableitbar – das "Dasein für andere". Zudem erfahre ich als Jesuit im Orden eine Gemeinschaft, eine Brüderlichkeit, die schön ist und trägt. Ich gebe allerdings zu: Mit rationalen Erklärungen kommt man bis zu einem bestimmten Punkt, aber nicht bis zum Ende des Phänomens Ehelosigkeit. Als religiöser Mensch lebe ich auf einem "Gottestrip". Sie können es Ergriffenheit oder Begeisterung für die Sache des Glaubens nennen.

Wer diesen Gottestrip zum Lebensinhalt machen möchte, der bekommt zu hören: Als Katholik kannst du das nur, wenn du zölibatär lebst.
Als junger Mensch in seiner Begeisterung schluckt man das sehr schnell - leider. Ich habe manchem jungen Theologen gesagt: "Weißt du, was Zölibat heißt? Ohne große persönliche Reifung wirst du das nicht schaffen!" Leider ist das System Kirche nicht ausreichend in der Lage, beides zusammenzubringen: eine reife erotische Persönlichkeit und ein reifes "Nein" zu gelebter Sexualität. Zumal das ja kein einmaliger Entschluss ist, "so, ich mache das jetzt". Sondern ein permanenter Kampf.

Kampf?!
Was denn sonst? Sie müssen Ihren Standpunkt, Ihren Lebensstil immer neu erringen. Und ich habe viele vorbildliche Priester gesehen, die irgendwann gesagt haben – nein, ich kann und will diesen Weg jetzt nicht mehr weitergehen, weil ich zum Beispiel in einer Partnerschaft leben möchte. Das ist eine schwere Entscheidung, die aber glücklich machen kann. Die Verbrechen, über die wir jetzt reden, zeigen eine andere, abgründige Seite des Kampfes.

Ist es das alles wert?
Das eigentlich Schlimme ist, dass der Kirche die Selbstreinigungskräfte fehlen. Diese ständige Tabuisierung der sexuellen Verfehlungen in der Kirche –ist doch schrecklich! Als Kirche stellen wir ganz offen einen Anspruch an uns, und wir müssen ebenso offen darüber reden, wenn wir diesem Anspruch nicht gerecht werden.

Was muss sich ändern?
Wir müssen weg von der antiquierten Vorstellung, das Leben, das Sexualleben zumal mit Verboten und Geboten richten zu können. Ich kriege das nicht zusammen, wenn ich in der Zeitung über diesen Missbrauchsskandal lesen muss, und ein paar Seiten weiter hetzt der Papst gegen die Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften. Diese Fixierung der obersten Hierarchie auf die Frage, wie Menschen ihre Sexualität leben, blockiert letztlich einen offenen und freien Umgang mit den Problemen, die wir in unseren eigenen Reihen genau damit haben. Und letztlich kommt es damit unfreiwillig zu einer unglaublichen Sexualisierung des Alltags, die einem freien, entspannten und wertschätzenden Umgang mit der Sexualität zuwiderläuft. Nicht zuletzt durch die rigide Beichtpraxis früherer Zeiten hat die Kirche ihre Legitimation verspielt, den Menschen in ihr Sexualleben hineinzureden.

Und der Zölibat?
Dass es mit dem Zölibat als Verpflichtung für alle Priester so nicht weitergehen kann, ist völlig klar. Eigentlich ist er nur noch in den Ordensgemeinschaften auf freiwilliger Basis möglich. Und in einem zweiten Schritt müssen wir über die Öffnung des Priesteramts für Frauen nachdenken. Sonst fährt das System vor die Wand.

Friedhelm Mennekes, geboren 1940 in Bottrop, ist seit 1961 Mitglied des Jesuitenordens. Er studierte Philosophie, politische Wissenschaft und katholische Theologie. Seit 1980 ist er Professor für Praktische Theologie und Religionssoziologie an der Jesuiten-Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Mennekes initiierte die Kunst-Station im Frankfurter Hauptbahnhof. 1987 gründete er die Kunst-Station an der Kölner Jesuitenkirche St. Peter, wo er bis 2001 als Pfarrer tätig war. Heute bekleidet er diverse Gast- und Honorarprofessuren.

(Interview: Joachim Frank)


© imprimatur Juni 2010
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