Erklärung der deutschen Moraltheologen zu den Fällen von sexuellem Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen

Bei ihrem diesjährigen Treffen im März 2010 haben sich die anwesenden Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Moraltheologen ausführlich mit den bekanntgewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in katholischen Einrichtungen befasst. Dabei standen sowohl die Vorkommnisse selbst wie auch der kirchliche Umgang mit ihnen in Vergangenheit und Gegenwart im Fokus der Erörterungen.

Die Vertreter des Fachs Moraltheologie haben ihr Entsetzen über Art und Ausmaß der bekanntgewordenen Fälle von Missbrauch zum Ausdruck gebracht. Auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der heutige Wissensstand über die Gefährlichkeit und Nichtheilbarkeit von Pädophilie noch vor wenigen Jahren nicht vorhanden war, waren und sind die entsprechenden Taten unter keinen Umständen hinnehmbar. Bemühungen im Raum der Kirche, die Ursachen für sexuellen Missbrauch in permissiven Entwicklungen der Gesellschaft zu suchen, setzen sich dem Verdacht aus, sie wollten von der eigenen Verantwortung ablenken.

Deshalb begrüßen die Moraltheologen alle Anstrengungen und Forderungen im kirchlichen Raum und darüber hinaus, die darauf abzielen, die Hinweise auf Verletzungen ernst zu nehmen, die schonungslose Aufklärung verlangen, die über Maßnahmen der Wiedergutmachung nachdenken und die in dem gesamten Vorgang – so schmerzlich er sein mag – eine Chance für die Kirche dazuzulernen erkennen.

Im Zentrum all dieser Bemühungen müssen die Opfer stehen.

(1) Für den Umgang mit geschehenem Fehlverhalten und mit den Tätern bedeutet dies, dass das Handeln nicht mehr – wie es in der Vergangenheit gängige Praxis war – vom Grundsatz bestimmt sein darf, möglichst Schaden vom Ansehen der Institution abzuhalten.

(2) Für die Aufklärung von Vorwürfen und Hinweisen bedeutet es, dass die Fähigkeit und der Mut von Opfern, Verletzungen
oder auch schon Belästigungen anzuzeigen, Unterstützung erfahren muss. Unabhängige Vertrauenspersonen, von der Kirche bewusst beauftragt, spielen hierbei eine wichtige Rolle, sowohl was die Ermutigung der Opfer, als auch was das Handeln der kirchlich Verantwortlichen betrifft. Die Einrichtung entsprechender Stellen muss zur üblichen Information über die von der Kirche angebotenen Dienste gehören.

(3) Für die Prävention schließlich bedeutet es, dass Kinder und Jugendliche ermutigt und gestärkt werden, zu selbstbewussten Personen heranzuwachsen, die für Grenzverletzungen, seien sie seelischer oder körperlicher Art, sensibel sind.

Als die zuständigen Fachleute für die theologische Ethik sehen sich die Moraltheologen besonders von der Behauptung bzw. Vermutung eines Zusammenhanges zwischen den Missbrauchsfällen und der traditionellen kirchlichen Lehre über die Sexualität sowie der Lebensform des Zölibats herausgefordert. Auch wenn die Herstellung einer direkten Kausalität leicht zurückgewiesen werden kann, darf nicht übersehen werden, dass indirekte systemische Zusammenhänge sehr wohl bestehen. Insbesondere gilt es, dem Zusammenhang zwischen dem psychisch unreifen Bedürfnis nach Nähe, Bestätigung und sexueller Erfüllung einzelner Personen gegenüber Kindern und Jugendlichen und ermöglichenden, begünstigenden und das Schweigen sichernden Strukturen (Abhängigkeitsverhältnisse, Machtgefälle, Sakralisierung von Personen und Funktionen, Straf- und Belohnungsmonopole, etablierte Denk- und Sprachtopoi über das andere Geschlecht u. a. m.) selbstkritisch nachzugehen. Auch die erst im Lauf der Kirchengeschichte zustande gekommene Verknüpfung zwischen Zölibatsverpflichtung und dem Zugang zum Priestertum bedarf unter dem Aspekt möglicher problematischer Auswahleffekte einer sorgfältigen Überprüfung. Dabei ist selbstverständlich darauf zu achten, dass pauschale Verdächtigung und kollektive Haftbarmachung Widerspruch erfahren.

Als Wissenschaftler sehen sich die Moraltheologen in der augenblicklichen Lage in einer besonderen Verpflichtung, die vielen ungelösten Fragen im Zusammenhang einer zukunftsfähigen Sexualethik in den kommenden Jahren entschlossen anzugehen. Sie erwarten von den zuständigen Bischöfen und allen Verantwortlichen, für eine Atmosphäre in der Kirche zu sorgen, in der diese Arbeit offen, angstfrei, wertschätzend und ermutigend möglich ist.

Als Hochschullehrer der Theologie und als Gläubige im Volk Gottes sind die Moral-theologen bestürzt über den Vertrauens- und Glaubwürdigkeitseinbruch, den die katholische Kirche in Deutschland und weit darüber hinaus aufgrund des Bekanntwerdens so zahlreicher Missbrauchsfälle und des z. T. wenig professionellen Umgangs damit in den letzten Wochen hinnehmen musste. Ihnen ist bewusster als vielen anderen, dass die Höhe der von der Kirche vertretenen und oft kompromisslos eingeforderten moralischen Standards (erinnert sei bloß an den Ausstieg aus der staatlichen Schwangerschaftskonfliktberatung) jetzt vielfach zum Maßstab genommen wird, an dem das Verhalten, das im Namen der Kirche geschehen ist, selbst gemessen wird. Sie sehen andererseits in der gestiegenen Sensibilität gegenüber körperlichen und seelischen Verletzungen von Kindern und Jugendlichen, wie es heute in der Öffentlichkeit übereinstimmend eingefordert wird, ein hoffnungsvolles „Zeichen der Zeit“.

Hirschberg bei Beilngries, im April 2010

für die Arbeitsgemeinschaft der deutschen Moraltheologen
Prof. Dr. Konrad Hilpert, Vorsitzender

Im Interview mit Radio Vatikan erklärt der Vorstandvorsitzende Prof. Konrad Hilpert ergänzend einige Details.

„Ich meine, dass es einen möglichen oder wahrscheinlichen Zusammenhang gibt zwischen dem psychisch unreifen Bedürfnis nach Nähe, Bestätigung, sexueller Erfüllung einzelner Personen gegenüber Kindern und Jugendlichen und ermöglichenden, begünstigenden oder sogar absichernden Strukturen, die etwas mit Abhängigkeit, Macht, Sakralisierung und Idealisierung von Personen und Funktionen zu tun haben. Ich vermute, dass es diesen Zusammenhang gibt.“

Natürlich dürfe man jetzt nicht alle Priester pauschal verurteilen oder kollektiv haftbar machen, betont Hilpert. Die Missbrauchsfälle in der Kirche zeigten eher ein anderes Grundproblem auf.

„Die jetzigen Fälle des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und Kindern sind auch so eine Bruchstelle oder Indikator für eine Problemstelle, die bisher zu wenig wahrgenommen wurde und die auch in der traditionellen kirchlichen Moral eigentlich gar keinen richtigen systematischen Ort hat, nämlich die Ausnutzung von Machtgefälle und die Überschreitung von Grenzen. Dort, wo die umgebenden Verhältnisse sehr nah und intensiv sind. Ich glaube, sexueller Missbrauch hat nicht selten eben mit Distanzlosigkeit zu tun zwischen Menschen, die in einem besonderen Vertrauensverhältnis zueinander stehen oder in dieses hineingewachsen sind.“

Nicht der Zölibat an sich sei zu hinterfragen, stellt der Moraltheologe klar, sondern die Verpflichtung zu ihm:

„Zu hinterfragen ist die kirchenrechtliche Koppelung, dass nur Menschen, die sich zum Zölibat verpflichten, zum Weiheamt zugelassen werden. Man muss doch berücksichtigen, dass diese Koppelung historisch entstanden ist, möglicherweise unter ganz anderen Bedingungen der Sozialisation und des biographischen Personwerdens und dass sie sich entsprechend der gesellschaftlichen Verhältnisse gewandelt hat.“

Kirchenvertreter hatten in den letzten Wochen für eine bessere Auswahl von Priesteramtskandidaten plädiert. Dem Moraltheologen Prof. Hilpert geht dies nicht weit genug. Er meint, dass die Frage nach der sexuellen Identität der angehenden Seelsorger immer wieder aufs Neue gestellt werden muss. Hilpert:

„Ich meine sogar, dass diese Fragen weit über die Phase des Studiums und der Hinführung zu diesem Beruf hinausreichen, weil nämlich erst im Nachhinein - wenn die Leute in der Praxis stehen - die eigentlich strapazierenden Anforderungen dieses Berufes kommen, des Alleinseins, der Überlastung, der Arbeit, der Routine, der stets neuen Suche nach den Wurzeln, aus denen man seine Anforderungen mit Blick auf die Menschen und Anforderungen des Evangeliums auch leben kann.“

(Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Moraltheologen ist ein Zusammenschluss von Professoren der Moraltheologie, die an deutschen Universitäten und Hochschulen lehren oder lehrten).


© imprimatur Juni 2010
Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Sagen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel!
Bitte füllen Sie die folgenden Felder aus, drücken Sie auf den Knopf "Abschicken" und schon hat uns Ihre Post erreicht.

Zuerst Ihre Adresse (wir nehmen keine anonyme Post an!!):
Name:

Straße:

PLZ/Ort:

E-Mail-Adresse:

So und jetzt können Sie endlich Ihre Meinung loswerden: