Matthias Drobinski
Mea culpa
Unfassbar: Die Kirche befindet sich wegen eigener Vergehen in der Krise

Die Karwoche beginnt, der Höhepunkt des katholischen Kirchenjahres, mit der dramatischen, faszinierenden, ergreifenden Kar- und Osterliturgie, dem Gründonnerstag, der das letzte Abendmahl und die Ölbergstodesangst Jesu in Erinnerung ruft, dem Kreuzestag, der Osternacht, wo erst ein Licht aufleuchtet und dann das Dunkel hell wird. 'Oh glückliche Schuld, welch großen Erlöser hast Du gefunden', singt der Priester vor der Osterkerze. Dieses Jahr wird der Gesang eine Spur gedrückter klingen als sonst. Die Schuld hat keinen Erlöser gefunden, in dieser Welt jedenfalls nicht. Und vielen Gläubigen wird es so vorkommen, als ginge die österliche Bußzeit einfach weiter.

So tief war die Krise der katholischen Kirche seit Jahrzehnten nicht. Nicht als die Pillen-Enzyklika Papst Pauls VI. kam oder der Theologe Hans Küng gemaßregelt wurde, nicht einmal, als der Papst in Rom und die Bischöfe in Deutschland um die Schwangeren-Konfliktberatung stritten, keinesfalls während der Debatte um die traditionalistischen Pius-Brüder im vergangenen Jahr. Es waren intellektuelle oder seelsorgliche Krisen, Streitigkeiten um den rechten Weg. Der jetzige Skandal um den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester und Ordensleute ist dagegen existentiell.

Man muss mit den Opfern reden, dann versteht man, worum es geht. Sie rufen an und reden und hören gar nicht mehr auf, sie schreiben Mails, die kein Ende finden, die schreien vor Not und Bitterkeit. Die Verletzung von vor 20, 30 oder 40 Jahren ist ihnen Gegenwart geblieben, die Demütigung, die ins Intime, ins letzte Eigene, vordringt und es zerstört. Ein Erwachsener übt totale Macht aus über den Körper und die Seele eines Kindes - das allein ist furchtbar. Dass er es im Namen der Institution, der guten Sache, der Religion, gar Gottes tut, macht das Verbrechen unfassbar. Die Opfer durchbrechen nun die Spirale des Schweigens, die sie Jahrzehnte gefangen hielt, sie führen die katholische Kirche an den Rand des Abgrunds. Papst Benedikt XVI. selber ist verwoben in den Skandal - als Erzbischof von München handelte er vor 30 Jahren nicht anders als andere Bischöfe, überschätzte die Therapiefähigkeit von Pädophilen, unterschätzte die Gefahr, wie viele damals. Nur noch 17 Prozent der Befragten einer Forsa-Studie vertrauen derzeit der katholischen Kirche, vor sechs Wochen waren es noch 29 Prozent.

Vor sechs Wochen, da zögerte die katholische Kirche noch, sprach von Einzelfällen und dass man die Konsequenzen in Ruhe bedenken müsse. Inzwischen gehen die Bistümer mit schmerzhafter Härte vor, wenn ein Missbrauchsverdacht auftaucht, schalten die Staatsanwaltschaft ein, haben externe Ansprechpartner für Opfer benannt, lassen die Bereitschaft zu Entschädigungszahlungen erkennen. Wer es nicht von sich aus tut, wird gedrängt, schließlich hat Papst Benedikt XVI. in seinem Brief an die irische Kirche schonungslose Aufklärung angeordnet und die alte Geheimhaltungspolitik aufgegeben: Die Kirche soll bei der Aufklärung mit der weltlichen Gerichtsbarkeit zusammenarbeiten. Null Toleranz gegenüber Missbrauch, andere Institutionen sind da noch nicht so weit.

Und trotzdem wird die Krise so schnell nicht vorübergehen. Die katholische Kirche ist derzeit zwar stark darin, administrativ gegen den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen vorzugehen. Sie ist aber schwach darin, die tieferen, im System liegenden Ursachen zu erkennen, den katholischen Geschmack des Missbrauchsskandals, wie es der Berliner Jesuitenpater Klaus Mertes formuliert hat - so wie es zum Beispiel den reformpädagogischen Geschmack des Missbrauchs an der Odenwaldschule gibt, den zu erkennen die Reformpädagogen sich mindestens so schwer tun wie die Vertreter der katholischen Kirche.

Es müsste jetzt um Selbsterkenntnis und Selbstkritik gehen, um die notwendige Selbstverunsicherung einer Institution, die sich im letzten Grund als heilig begreift. Die Kirche bräuchte eine Karwoche für sich selber: Das Alte leidet und stirbt, das Neue steigt aus dem Grab. Es müsste um die Lebensform der Priester und Ordensleute gehen, um das Verhältnis der Kirche zu Sexualität und Macht.

Doch parallel zur zunehmenden Offenheit bei der Verfolgung des Missbrauchs finden ideologischer Rückzug und Vermeidung statt. Die sexuelle Revolution sei eine wichtige Ursache des Missbrauchs, hat der Augsburger Bischof Mixa allen Ernstes gesagt; Papst Benedikt sieht ein falsches, weil zu liberales Verständnis des Konzils am Werk sowie die Vernachlässigung des Gebets. Und Bischof Gerhard Ludwig Müller geißelt eine angeblich antiklerikale Medienkampagne, die fast so schlimm sei wie einst der Kirchenkampf der Nazis. Mit der Realität hat das alles wenig zu tun; Pädophile finden in konservativen wie in liberalen Schulen ihre Opfer und in jedem ideologischen Milieu ihre eigenen Begründungen. Das hat mit Angst zu tun. Die Angst und die Hilflosigkeit treiben einen Teil der katholischen Kirche in den intellektuellen Rückzug statt in die Selbsterforschung. Dieses Drama wird bleiben, es ist der ewige Kampf der katholischen Kirche mit sich selbst in der modernen Gesellschaft.

Der katholische Geruch des Missbrauchs. Er ist der Grund, warum gerade die katholische Kirche so in der Auseinandersetzung steht, warum sich derzeit vor allem Männer melden, denen Gewalt von katholischen Geistlichen oder Lehrern widerfuhr, Journalisten besonders hart recherchieren. In der Kirche empfinden das viele als ungerecht: warum wir? Abseits des unsäglichen Nazivergleichs gibt Müller wieder, was viele, vor allem konservative Katholiken denken: Wir sollen sturmreif geschossen werden, die kirchliche Sexualmoral ins Lächerliche gezogen, die zölibatäre Lebensform ins Halbkriminelle. Wir müssen uns rechtfertigen, wenn wir Ja zu unserer Kirche sagen.

Und es stimmt ja auch: Sexueller Missbrauch und Gewalt gegen Kinder sind ja kein rein katholisches Problem, und die zölibatäre Lebensform führt nicht aus sich heraus in den Missbrauch. Der findet vor allem in Familien statt, aber auch in Sportvereinen und bei der Jugendfeuerwehr, an privaten und staatlichen Internaten und Schulen, in der evangelischen Kirche. Ja: derzeit melden sich die meisten Opfer aus dem Bereich der katholischen Kirche. Ja: Wunibald Müller, der im Recollectiohaus in Münsterschwarzach Priester und Ordensleute in seelischen Schwierigkeiten betreut, sagt, der Anteil der Pädophilen unter der katholischen Geistlichkeit läge bei vier Prozent, verglichen mit zwei Prozent in der männlichen Gesamtbevölkerung. Aber das allein erklärt weder die Aufregung der Öffentlichkeit noch die innere Krise der katholischen Kirche.

Warum also diese Kirche? Weil es für Journalisten prickelnd ist, über den heutigen Papst zu recherchieren, weil es besonders viele katholische Internate gibt oder gab, weil hier die Schweigespirale zuerst brach? Da sind Erklärungen von kurzer Reichweite. Es geht um Tieferes. Es steht die Institution in Frage, das hat Bischof Müller durchaus klar erkannt - mit ihrem Unfehlbarkeitsanspruch, den Lebensformen, die sie verordnen möchte, der Sexualmoral, die sie vertritt. Der Missbrauchsskandal hat den Graben zwischen hehrem Ideal und der abgründigen Wirklichkeit offenbar werden lassen.

Manfred Lütz, der katholische Psychiater und Theologe, hat ein Vaterproblem der Journalisten diagnostiziert, die sich an einer der letzten Institution abarbeiteten, die noch Maßstäbe setze und Ansprüche quer zum Zeitgeist stelle. Das ist durchaus bedenkenswert. Die wahre Dramatik ist aber vielmehr: Mutter Kirche ist auf einmal nicht mehr die reine Mutter Kirche des kindlich Gläubigen; das Bild der heiligen Väter hat Risse bekommen. Die katholische Kirche macht den Prozess durch, den Menschen auf dem Weg zum Erwachsenwerden durchmachen. Das idealisierte Bild der Eltern stimmt nicht mehr. Es muss ein neues, realistisches, ehrliches, reiferes Bild gefunden werden. Manche Menschen schaffen das, andere schleppen ihr so idealisiertes wie falsches Elternbild durch die Zeit; die Risse und Brüche ignorieren sie. Reif werden sie so nicht.

Die Ignoranz angesichts der Risse und Brüche - das ist der katholische Geschmack der Ereignisse. Die Kirche muss sich dem stellen, was nun an strukturellen, intellektuellen und theologischen Problemen offenbar wird, sonst werden die Wunden nicht heilen, die der Opfer nicht, die der Kirche nicht. Es steht das katholische Milieudenken in Frage, das Innen-Außen-Bewusstsein, der gepflegte Gegensatz zwischen relativistischer, sündiger Welt und der Institution als Hüterin der Wahrheit.

Das Milieu ist nah und warm, es bietet Heimat, alles dies ist wertvoll, weil es knapp geworden ist in dieser Zeit. Aber es bietet auch Platz denen, welche die Nähe zur Enge machen, die Wärme zur Schwüle, die Heimat zum Gefängnis - so war es im großstädtischen jesuitisch geprägten Canisius-Kolleg, so war es in der konservativen Ettaler Abgeschiedenheit der Benediktiner. Wer hier nein sagt, wer einen Täter anzeigt, der stellt sich außerhalb der Gemeinschaft, der beschmutzt das Nest, zerstört das Heilige; er, nicht der Täter.

Zum katholischen Geschmack gehört die verdrängte Sexualität im Klerus, in den Orden, letztlich auch bei den Laienangestellten. Geradezu beiläufig kommt in den vielen Geschichten der Opfer zutage, wie sehr in diesem zölibatären Leben homo- und heterosexuelle Beziehungen eine Rolle spielen, wie es homosexuelle Netze gibt oder wie ein Pfarrer vom Kind des anderen weiß. Schon wenn ein Priester onaniert, ist das Sünde - wer also als Kleriker seine Sexualität nicht vollständig in Kreativität
oder Lust an der Seelsorge sublimieren kann, lebt im Status des Unreinen. Wer einen Freund hat, ist erpressbar, wer eine Freundin hat, ist erpressbar. Macht und Sexualität verbinden sich. Es verschwimmen im Bund der Brüder die Maßstäbe, wenn augenscheinlich alles gleich sündig ist: das gebrochene Keuschheitsgelübde genauso wie die seelentötende Straftat.

Der Bund der Brüder. Er zieht Männer an, die Liturgie, Gesang, das Weiche und die leisen Töne mögen, Männer, die für andere da sein wollen: Zum Glück ist nicht jeder Mann ein Macho wie Gerhard Schröder. Der Bund der Brüder zieht aber auch jene an, die sexuell unreif sind, die ihre Probleme heiligen wollen, indem sie ihre Sexualität dem lieben Gott opfern. Die meisten Leiter der deutschen Priesterseminare kennen das Problem, offen diskutieren dürfen sie, dürfen die Bischöfe das nicht. Der Zölibat ist samt der Sexualität der Priester ein Tabu, so wie die Diskussion über die katholische Sexuallehre ein Tabu ist, über die zum Beispiel ein Bischof in einer Talkshow nicht so einfach frei von der Leber weg reden dürfte. Sex ist in der katholischen Ehe nur erlaubt, wenn die Partner keine künstlichen Verhütungsmittel benutzen, lautet die katholische Lehre. Da muss kein Journalist einen Widerspruch konstruieren, wenn bei denen, die dies verkünden sollen, sexuelle Übergriffe bekannt werden. Der Graben zwischen der Lehre und dem Leben der Gläubigen war schon vorher da, jetzt wird er zum Abgrund.

Es ist Dunkelheit und Grabeszeit für die Kirche, Häme darüber sollten sich aber auch ihre Kritiker verkneifen. Das Land braucht eine katholische Kirche, die reift und Neues aus dem Grab steigen lässt. Eine, die quer zum Zeitgeist steht, ohne in ihm die Diktatur des Relativismus zu sehen. Eine, in der Priester und Bischöfe ein glaubwürdiges Leben führen, mit oder ohne Zölibat.

Diese Kirche sollte sich von der Vorstellung verabschieden, dass Lust und Erotik gefährliche Tiere sind, die in den Käfig der genauen Vorschrift gehören. Sie sollte eine Kultur der Achtsamkeit vor dem Intimen der körperlichen Liebe pflegen, gegen eine Sexualisierung ohne Menschlichkeit, gegen jede Prüderie, aber auch gegen jede Grenzüberschreitung. Man muss ihr Frohe Ostern wünschen, dieser katholischen Kirche. Gegen alle, die so weitermachen wollen wie bisher und riskieren, dass ihre Kirche zur bleichen Untoten wird.

Quelle: Süddeutsche Zeitung. Nr. 72, 27.3.2010, S.63


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