Die Weihe verschaffe dem männlichen Klerus zu viel Macht, sagt Peter von Sury (59), Abt des Klosters Mariastein in einem Interview mit S. Gross, M. ROCKENBACH, Basler Zeitung (BaZ).
Die Kirche tue sich schwer mit ihren dunklen Seiten, sagt Abt Peter von Sury. Das zeige ihr Umgang mit Judas, dem Verräter. Das zeige aber auch ihr Umgang mit Kindsmissbrauch und Kindsmisshandlung.
BaZ: Abt Peter, die katholische Kirche hat schwierige Wochen hinter sich.
In Deutschland und in der Schweiz haben sich Hunderte von Menschen gemeldet,
die als Kinder von Priestern missbraucht wurden. Mit welchen Gefühlen begehen
Sie dieses Jahr das Osterfest?
PETER VON SURY: Das habe ich mich auch gefragt. Dieses Jahr ist für mich
die Figur des Judas wichtig. Judas, der ja eine sehr bewegte Geschichte hat
als Verräter. Die Kirche hat sich immer schwer getan mit Judas –
und mit den anderen Figuren in der Leidensgeschichte Christi. Petrus macht ja
auch nicht gerade eine gute Figur in der ganzen Sache, und die anderen auch
nicht.
Betrachten Sie die Kinderschänder in den Reihen der Kirche als Verräter?
Nein, darum geht es nicht. Der Bezug zur Geschichte des Judas besteht darin,
dass im allerengsten Kreis von Jesus ganz schlimme Sachen passiert sind, dass
einer der Seinen den Verrat begangen hat, und dass man sich damit in der Kirche
von Anfang an schwer getan hat. Das ist auch jetzt so. Es fällt der Kirche
schwer zu sehen, dass nicht nur die Menschen außerhalb der Kirche dunkle
Seiten haben, sondern dass es auch innerhalb der Kirche Schatten gibt.
In der Kirche geht es viel um Schuld und Sühne. Warum fällt
es gerade ihr so schwer, ihre Fehler zu akzeptieren?
Im Prinzip sehen alle, dass der Mensch sündig ist und dass auch die Kirche
aus sündigen Menschen besteht. Hier geht es aber darum, im Einzelfall anzuerkennen,
dass sich ein Mensch schuldig gemacht hat. Das sind zwei Paar Stiefel. Das lässt
sich nicht mit ein paar frommen Sprüchen abtun. Vor allem, weil es um die
verletzlichsten Menschen geht: die Kinder. Das macht es noch viel schlimmer.
Da hilft es nichts, wenn man sagt, es handle sich nur um Einzelfälle. Es
trifft die Kirche im Kern.
Inwiefern?
Die katholische Kirche macht gerade die Erfahrung, dass nicht nur die Menschen
draußen für die Verdorbenheit und das Böse anfällig sind,
sondern dass auch sie damit zu kämpfen hat.
Werden Sie morgen in Ihrer Osterpredigt auf die Missbräuche eingehen?
Ich habe nur zehn bis 15 Minuten zur Verfügung. Zudem muss ich mich fragen:
Wie soll ich die Leute entlassen? Soll ich ihnen noch «eins auf den Deckel»
geben oder soll ich ihnen Mut machen? Sie sollen sich ja am Schluss der Messe
sagen können: gut, dass ich gekommen bin.
Sie sollen sich zum Beispiel freuen?
Ja, darum geht es. Wobei das nicht auf eine billige Tour geschehen darf, man
kann nicht am Schluss noch etwas nachwerfen im Sinne von: Es ist alles nicht
so schlimm, und der liebe Gott hat uns trotzdem alle gern. Aber es sollte schon
gelingen, den Kirchgängern Hoffnung zu machen.
Was haben die Meldungen bei Ihnen ausgelöst?
Vor allem Trauer. Die Tatsache, dass diese Menschen erst nach 30, 40 oder gar
50 Jahren von dem erzählen, was ihnen passiert ist, zeigt, wie tief die
Verletzungen gehen. Dass in diesen Menschen etwas zerbrochen ist, das nicht
wieder gutzumachen ist. Das ist schon deprimierend.
Haben sich Opfer bei Ihnen gemeldet?
Ja, ich war kürzlich an einer Veranstaltung und da sind spontan zwei ältere
Personen auf mich zugekommen, denen als Kind und später Schlimmes widerfahren
ist. Wir sind dann so verblieben, dass sie sich wieder bei mir melden, damit
sie in einem ruhigeren Rahmen über das Geschehene sprechen können.
Was halten Sie von einer Meldepflicht der Kirche bei Übergriffen auf
Kinder?
Ich habe keine Erfahrung mit Kindern, die aktuell Opfer von Missbrauch wurden.
Ich weiß darüber zu wenig, um mir eine klare Meinung zu bilden. Ich
hatte bis jetzt nur mit Opfern zu tun, die 60, 70 oder gar 80 Jahre alt sind.
Bei denen liegen die Übergriffe und Misshandlungen so weit zurück,
dass sie ohnehin verjährt sind. Bei diesen Menschen geht es nicht mehr
um die strafrechtliche Verfolgung der Täter, sondern sie wollen einfach
mit jemandem darüber sprechen.
Warum werden diese Missbrauchsfälle erst jetzt bekannt?
Schwer zu sagen. Das Problembewusstsein war nicht da. Die angehenden Seelsorger
wurden nicht auf solche Probleme vorbereitet. Das ist mit anderen Dingen auch
so. Nehmen Sie das Passivrauchen. Vor 20, 30 Jahren wäre doch niemand auf
die Idee gekommen, Nichtraucherzonen einzurichten.
Der Kirchenkritiker Hans Küng sieht sich durch die Missbrauchsfälle
in seiner Forderung nach der Abschaffung des Zölibats bestärkt. Was
sagen Sie dazu?
Es bringt nichts, jetzt kurzfristig das Zölibat abzuschaffen. Richtig ist,
dass die Ehelosigkeit bei vielen Priestern zu einer emotionalen Unbehaustheit
führt. Das kann echt tragisch werden. Da müsste die Kirche viel selbstkritischer
schauen, was da abläuft.
Worum geht es dann?
Es geht um Entscheidungsmacht, und die liegt in der Kirche ausschließlich
beim Klerus, bei Leuten mit einer sakralen Weihe. Dadurch entsteht eine fatale
Verbindung zwischen Macht und Heiligkeit. Das verbindet sich mit einem weiteren
Element – dass nämlich nur Männer geweiht werden können.
Vereinfacht gesagt: Macht ist gleich Weihe und Weihe ist gleich Mann. Es geht
nicht um die persönliche Integrität der Kleriker, sondern darum, dass
die Kirche lernen muss, systemisch zu denken. Der Blick fürs Institutionelle
ist unterentwickelt. Es geht um einen tiefgreifenden Systemwechsel.
Wie könnte der aussehen?
Das weiß ich nicht, wichtig ist, dass sie sich darauf einlässt.
Wie lange wird er dauern?
Die Kirche ist ja für die Ewigkeit. Ich denke schon im Zeitraum von Jahrhunderten.
Was sagt die Bibel zum Thema Macht?
Die Bibel sagt sehr unterschiedliche Dinge. Jesus sagt: «Wer unter Euch
der Größte sein will, der sei der Diener aller.» Da ist ein
ungeheurer Anspruch. Wenn der Glaube institutionell verfasst ist – und
das ist in der katholischen Kirche sehr ausgeprägt der Fall –, dann
besteht die Gefahr, dass die Bibel im Sinne des Systemerhalts ausgelegt wird.
Viele Missbrauchsfälle wurden vertuscht. In Irland wurden den Opfern
sogar Schweigegelübde abverlangt. Was hat das mit dem System Kirche zu
tun?
Viel. Wenn man bedenkt, was in der katholischen Kirche alles geheim und hochgeheim
abläuft, dann wird einem ganz anders. Hier hat die Kirche einen gewaltigen
Nachholbedarf. Konflikte werden nicht offen angegangen. Die Kirche ist quasi
eine konfliktfreie Zone. In der Kirche muss man lieb sein miteinander. Das ist
ein großes Problem.
Der Papst hat einen Hirtenbrief zum Thema Kindsmissbrauch veröffentlicht.
Sind Sie zufrieden mit dem Inhalt?
Der Brief ist viel zu lang, er umfasst elf Seiten. Zudem gefällt mir die
Sprache nicht. Gut dünkt mich, dass diese Taten als Untaten gebrandmarkt
werden. In der Ursachenforschung aber ist der Brief oberflächlich. Die
These, dass die Missbräuche eine Folge der Säkularisierung seien,
greift zu kurz. Die Kirche müsste sich selbst hinterfragen.
Was hat Sie an der Sprache gestört?
Es ist halt diese römische Kurialsprache. Wenn wir so predigen würden,
dann würden die Leute den Kopf schütteln. Und dann wurde der Text
auch schlecht übersetzt. Man merkt, dass die Zeit drängte. Die Kommunikation
liegt im Argen bei der Kirche. Der Papst muss doch wissen, dass jetzt die ganze
Welt auf ihn schaut. Gewiss, die Situation ist schwierig. Er kann machen, was
er will, er macht es falsch. Aber man hätte schauen können, dass der
Schaden nicht noch größer wird.
Wie?
Ich bin ja jetzt, bei diesem Interview in einer ähnlichen Situation. Ich
frage mich auch: Was sage ich? Wie gelingt es mir, den Eindruck zu vermeiden,
ich würde ausweichen.
Das gelingt Ihnen recht gut. Sie sind kritisch der Kirche gegenüber.
Das ist der Papst nicht.
Der Papst ist ein alter Mann. Er ist jetzt 83 Jahre alt. Wenn ich an meine Mitbrüder
denke in diesem Alter, und wenn ich mir vorstelle, sie müssten eine Weltkirche
leiten – um Gottes Willen! Das ist das Handicap unserer Kirche: dass sie
sehr auf das Zentrum fokussiert ist. Alles läuft auf den Papst zu. Aber
die Kirche hat noch ganz andere Dimensionen. Deshalb bin ich Mönch geworden.
Im Kloster spielen die institutionellen Fragen der Kirche eine untergeordnete
Rolle. Vielleicht steckt ja eine Chance darin, dass sich die Kirche jetzt in
ihrer ganzen Schäbigkeit und Hinfälligkeit und Erlösungsbedürftigkeit
erfährt und wieder sehr demütig wird: dass die eigentliche Botschaft,
für die sie steht, wieder mehr zum Vorschein kommt.
Sie haben einmal von der «Kunst des Sterbens» geschrieben.
Was meinten Sie damit?
Die schmerzliche Erkenntnis, dass viele unserer klösterlichen Gemeinschaften
nach menschlichem Ermessen verschwinden werden. Wenn keine jungen Männer
mehr in unseren oder andere Orden eintreten wollen, dann sterben sie irgendwann
aus.
Aber die Kirche ist doch auf die Ewigkeit ausgerichtet?
Ja, und die Kirche als Ganzes wird auch nicht verschwinden, weil das Evangelium
nicht verschwindet.
Was ist die «Kunst des Sterbens»?
Sich darauf einzulassen, ohne den Glauben zu verlieren.
Sind Sie manchmal kurz davor?
Nein, aber es gibt natürlich immer wieder Momente, wo der Glauben wieder
neu formuliert werden muss. Wichtig, eine Art Durchbruch, war für mich,
als ich Ende der Achtzigerjahre Eugen Drewermanns Buch «Kleriker»
las (Drewermann war Theologe, Psychoanalytiker und wurde wegen seiner Kirchenkritik
als Priester suspendiert, die Redaktion). Dann wieder 1995: Das war das Jahr,
als Bischof Hansjörg Vogel Knall auf Fall zurücktrat (Hansjörg
Vogel war Vater geworden und hatte sich zu seiner Partnerin und seinem Kind
bekannt, die Redaktion).
Zeitgleich wurden in Kanada viele Fälle von Kindsmissbrauch bekannt. Das
hat mir zu schaffen gemacht.
Was hat Sie damals erschüttert?
Die Tatsache, dass die ganzen Probleme rund um die Ehelosigkeit der Priester
seit dem zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) auf dem Tisch lagen. Wenn
man sich vergegenwärtigt, wie wenig sich seither getan hat, dann muss man
sich nicht wundern, dass die Kirche in Schwierigkeiten steckt. Das nervt mich
manchmal schon ein bisschen.
Papst und Bischöfe erlassen moralische Appelle – und die Letzten, in diesem Falle die Priester, beißen die Hunde.
Aus: Basler Zeitung BaZ vom 3.4.2010
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