In den letzten Folgen wurde kurz dargelegt, dass es für die Anfänge des Islam keine belastbaren zeitgenössischen Zeugnisse gibt. Der Koran schweigt zu dieser Frage, die ältesten islamischen Schriften, die „Biographien“ Mohammeds, entstammen dem 9. und 10. Jahrhundert. Erst gegen Ende des 8. und im 9. Jahrhundert hat sich der Islam aus der koranischen Bewegung als neue Religion gebildet. Ausdruck und Begründung bieten die neuen Anfangsmythen, die der Islam – vergleichbar dem Vorgehen in anderen Religionen – in seiner Traditionsliteratur geschaffen hat. Diese haben nichts mit realer Geschichte zu tun, sondern sind narrative Theologie zur Begründung der neuen Religion. In den ersten neun Jahrhunderten n.Chr. ist im Vorderen Orient eine Fülle von heiliger Literatur geschaffen worden, mit der verschiedene religiöse Bewegungen ihr Konzept dokumentieren und als normativ festschreiben. In diesem Kontext hat auch die koranische Bewegung ein heiliges Buch, den Koran, hervorgebracht.
4.2 Zur Textgestalt und sprachlichen Eigenart des
Koran
4.21 Die z.Zt. zugänglichen Materialien
Der Koran ist entstanden in einer Zeit, als im religiösen Umfeld auch andere Religionen, Bewegungen, Richtungen eine auffällige Tendenz zu schriftlichen Fassungen ihrer Konzepte an den Tag legten; ebenso bemerkenswert ist die Tendenz, hierfür neue Schriftsysteme zu benutzen. Es wäre seltsam gewesen, wenn die – nennen wir sie einmal so – koranische Bewegung keine solche Dokumentation hervorgebracht hätte.
Wie auch bei den anderen damals entstandenen heiligen Literaturen sind auch für den Koran längere Entstehungszeiten anzunehmen, die nicht genau zu fixieren sind. In endgültiger und voll ausgeschriebener Textform lag er wohl gegen Ende des 9. Jahrhunderts (3. Jh. H.) vor (?).
Die ältesten Handschriften sind nur noch fragmentarisch erhalten. Die umfangreichsten Fragmente bieten die als Faksimile zugänglichen Editionen: die Pariser Handschrift (eine zweite soll bald publiziert werden), ein Londoner Faksimile (auch hier steht die Publikation eines zweiten bevor) und eine Samarkander Handschrift. Zugänglich, aber bisher nicht ediert, sind die Handschriften von Sanaa (Fotodokumentation an der Universität des Saarlandes) und St. Petersburg, darüber hinaus noch weitere mehr oder weniger umfangreiche Fragmente. Soweit sich das bisher übersehen lässt, ließe sich aus all diesen Fragmenten weit mehr als die Hälfte des heutigen Korantextes zusammenstellen.[2]
Die Datierung des vorliegenden Handschriftenmaterials ist schwierig. Analysen mittels der C14-Methode sind für die Untersuchung von Manuskripten, bei denen ohnehin nur das Alter des beschriebenen Materials untersucht werden kann, recht ungenau. Eine präzise Altersbestimmung – in diesem Fall kommt es wenigstens auf eine Genauigkeit von Jahrzehnten an – setzte eine ungefähre Kenntnis der Aufbewahrungsbedingungen und auch der klimatischen Einflüsse auf die Manuskripte voraus, so dass mögliche Ergebnisse eine sehr große Bandbreite haben (was bei der Datierung etwa von Funden aus der Prähistorie, in der mit größeren Zeitspannen gerechnet wird, keine Probleme macht).
Eine Datierung mit Bezug auf die Text- und Schreibtraditionen ist ebenfalls nicht leicht, solange nicht wenigstens ein Koranfragment, das dann zum Vergleich herangezogen werden könnte, zeitlich exakter bestimmt werden kann. Philologische Gesichtspunkte sprechen dafür, dass die meisten jetzt bekannten Handschriften schon einer zweiten oder dritten Generation von Kopiervorgängen zugehören und somit erst der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts zuzurechnen sind. Demgegenüber behaupten manche, so z.B. der Leiter des Corpus-Coranicum-Projekts, Michael Marx, schon für das Jahr 660 mehr als die Hälfte des Korantextes durch alte Handschriften dokumentieren zu können – allerdings fehlen hier bisher alle Argumente oder gar Belege.
4.22 Zur Textgestalt der koranischen Fragmente
Im Folgenden soll nur kurz erwähnt werden, was schon lange bekannt ist, aber des besseren Verständnisses wegen auch hier nicht übergangen werden darf[3]. Die arabische Schrift ist erst im Zusammenhang mit der Koranschreibung allmählich zu ihrer vollen Form entwickelt worden, sie hat „keine nennenswerte vorislamische Geschichte; kaum eine Handvoll kurzer, graffito-artiger Inschriften sind historisch bestimmbar“[4] , und der Verweis auf die angeblich vorislamische arabische Dichtung geht ins Leere, weil sie eben nicht vorislamisch ist, zumindest nicht in der jetzt vorliegenden Form.
Der Koran ist in den ältesten Fragmenten in der sogn. Hidschasi-Schrift, etwas später auch in Kufi geschrieben. Für beide Varianten gilt, dass sie in einer unvollständigen Schreibweise (scriptio defectiva) geschrieben sind: ohne Vokalzeichen, aber auch – was gravierender ist – ohne oder mit nur ganz seltenen diakritischen Zeichen. Letztere – ein bis drei Punkte über oder unter einem Konsonantenzeichen – legen erst einen Konsonanten fest, weil im Arabischen oft mehrere Konsonanten mit dem gleichen Zeichen geschrieben werden.
Die arabische Schrift unterscheidet 28 Konsonanten, aber „nur sieben von ihnen sind eindeutig ... In den ältesten Koranfragmenten machen die mehrdeutigen Buchstaben mehr als die Hälfte des Textes aus.“[5] Erst durch die diakritischen Punkte wird Eindeutigkeit erreicht. Ein einziges Konsonantenzeichen kann zwei bis fünf verschiedene Konsonanten bezeichnen, wenn sie nicht durch diakritische Punkte festgelegt sind. So kann in den alten Handschriften nach Ibn Warraq z.B. nicht unterschieden werden „f and q; j and kh; s and d; r and z; s and sh; d and dah; t and z.“[6] Jeder kann sich leicht vorstellen, wie unterschiedlich eine solche defektive Schrift gelesen werden könnte, noch ganz abgesehen von der fehlenden Vokalisierung.
Mit anderen Worten: diese Texte sind nicht lesbar. Deswegen wird in der islamischen Tradition behauptet, dass die Leser damals den ganzen Korantext auswendig kannten und der geschriebene Text nur eine Spur (rasm) sei, gewissermaßen eine Stütze für die Rezitation des ohnehin Bekannten. Doch ist diese ungebrochene mündliche Rezitationstradition eine Wunschvorstellung. Die im Lauf der Zeit entstandenen unterschiedlichen Lesarten des Koran, also Varianten des Textes, sind nachweislich nicht auf unterschiedliche mündliche Überlieferungen, sondern auf verschiedene Lesungen des immer gleichen, aber mehrdeutigen rasm zurückzuführen; sie können „auf keinen Fall durch Fehler bei der mündlichen Weitergabe, sehr leicht aber durch verschiedene Interpretation defektiver Schreibung erklärt werden.“[7]
Erst im Lauf des 9. Jahrhunderts kam es zu einer immer vollkommeneren Festlegung des Textes durch Zufügung diakritischer Punkte und dann auch der Vokalzeichen. Wann genau erstmals diese scriptio plena abgeschlossen war, lässt sich z.Zt. noch nicht genau bestimmen.
Es liegt auf der Hand, dass bei der durch die Handschriften dokumentierten Ausgangslage die Pleneschreibung einen Interpretationsvorgang bedeutet. Die Interpreten aber waren jetzt muslimische Araber, so dass sie – abgesehen von den vielen sogn. dunklen Stellen, denen sie keinen rechten Sinn zuzulegen vermochten (der rasm musste natürlich bestehen bleiben) – im Ergebnis die Vorlagen zum einen arabisch, zum anderen muslimisch gelesen haben. In dieser letzten Variante, die bis heute den kanonischen Koran repräsentiert, ist dieser durch diese Interpretationen ein islamisches Buch, und so wird es auch in andere Sprachen übersetzt.
4.23 Zur Sprache des Koran
Es war lange Zeit unumstritten, dass der Koran nicht nur in arabischen Schriftzeichen geschrieben, sondern auch in arabischer Sprache abgefasst ist. Dass sich im Text auch zahlreiche Aramäismen finden, hat allerdings im frühen 20. Jahrhundert schon Alphonse Mingana festgestellt; auch Gerhard Endreß dachte in diese Richtung.[8]
Einen völligen Paradigmenwechsel in der Koranphilologie brachte die Publikation von Christoph Luxenberg zur syro-aramäschen Lesart des Koran aus dem Jahre 2000[9]. Er konnte nachweisen, dass viele Passagen des Koran nicht in arabischer Sprache verfasst sind, sondern mit arabischen Schriftzeichen geschriebene aramäische Wörter und Sätze bieten. Hierdurch wurde es erstmals möglich, die dunklen Stellen im Koran – etwa ein Viertel des Textumfangs – sinnvoll und zu ihren Kontexten passend zu übersetzen. Syro-aramäische Begriffe finden sich aber nicht nur an diesen dunklen Stellen, sondern auch quer durch die bisher für eindeutig arabisch gehaltenen Texte. Auch Konjunktionen, Partikel und Syntax sind oft nur aus dem Aramäischen zu erklären. Der aramäische Sinn ergibt sich oft – aber nicht nur – durch eine andere Setzung diakritischer Punkte, was zeigt, dass die späteren Plene-Schreiber nur noch arabisch verstanden, nicht aber die ursprüngliche Sprache des Koran. Möglich waren diese Fehllesungen durch die Nähe der beiden semitischen Sprachen, bei denen aber dennoch ein und derselbe Wortstamm in der je anderen Sprache unterschiedliche Bedeutungen angenommen haben konnte.
Der Koran ist offensichtlich also in einer arabisch-syro-aramäischen Mischsprache oder in einem Arabisch, das durch syrische Wendungen oder auch Begriffe angereichert war, abgefasst, die die Schreiber und Redaktoren des Textes noch kannten – sie war wohl (auch) ihre („deutliche“) Umgangssprache –, die aber nach der vollzogenen Arabisierung mehr und mehr verdrängt wurde und in Vergessenheit geriet. Durch diese neue Übertragungsmöglichkeit Luxenbergs erschließen sich viele sinnvolle Zusammenhänge, und es wird deutlich, dass sich im Koran sehr viel mehr christliches Material findet, als bisher schon angenommen: Reste einer alten syrischen Liturgie[10] , Schilderungen des christlichen Paradieses, bisher nicht erkannte Schriftzitate, Hymnen, christologische Bekenntnisformeln usf.
Vor allem wird deutlich, dass die bisherigen Koranübersetzungen, die ihre Vorlage als rein arabisch verstanden, in vielen Aspekten zu revidieren sind. Dies gilt natürlich auch für muslimische Leser des Koran, sofern sie des Arabischen mächtig sind.
Angestoßen durch diese neuen Einsichten wurde darüber hinaus auch deutlicher als bisher wahrgenommen, dass auch eine Reihe von Vorstellungen, Rastern und Begriffen aus der persischen religiösen Tradition – meist durch Vermittlung ihrer Rezeption im syrischen Sprachraum – auch in den Koran eingegangen sind[11]; zudem sind Spuren buddhistischer Motive zu erkennen.[12]
4.24 Der syro-aramäisch geschriebene Koran („Urkoran“)
Christoph Luxenberg hat in einem neueren Aufsatz zu Relikten syro-aramäischer Buchstaben in frühen Koranhandschriften seine Erkenntnisse zur Koransprache und –schrift noch erweitert, erweitert in die Vergangenheit hinein[13]. Diese Untersuchungen führt er in seinem Beitrag in diesem Sammelband weiter. Bei der Analyse früher Koranfragmente ist ihm aufgefallen, dass eine Reihe von arabischen Buchstabenzeichen so geschrieben sind, dass sie syro-aramäischen Schriftzeichen zum Verwechseln ähnlich sind, dort aber einen anderen Konsonanten bezeichnen. Liest man sie in ihrer syrischen Bedeutung, ergeben manche bisher als arabische Zeichen aufgefasste und dann recht seltsame Wörter einen plausiblen Sinn.
Diese empirischen Untersuchungen machen deutlich, dass die Niederschrift des Koran in arabischen Schriftzeichen nicht aus einer mündlichen Tradition schöpft, sondern eine syro-aramäische schriftliche Vorlage hatte; denn nur auf diese Weise sind die Verschreibungen zu erklären.
Luxenberg verweist auf die Tradition in syro-aramäisch-sprachigen Kirchen des Vorderen Orients, die sowohl in liturgischen Texten wie in ‚umfangreicher christlich-arabischer Literatur’ auch zum Schreiben des Arabischen eine syro-aramäische Schrift benutzten, was dort Garschuni bzw. Karschuni genannt wird. „Dass der Urkoran in dieser Schrift abgefasst war, macht der Befund der vorläufigen Analyse deutlich.“[14] Das bedeutet, dass der Koran eine Vorlage in arabisch-syro-aramäischer Mischsprache (oder: in arabischer Sprache mit starken syro-aramäischen Bestandteilen) hatte, die zunächst einmal in einer Art Garschuni-Schrift, also mit syro-aramäischen Schriftzeichen geschrieben und anhand dieses Textes in das (defektive) arabische Schriftsystem übertragen wurde.
Wenn es so ist, reichen der Korantext oder wenigstens größere Teile davon (wie lange?) in die Zeit vor ’Abd al-Malik zurück. Vieles spricht dafür, dass er diese Texte aus seiner Heimat kannte. Möglich ist, dass er sie mitbrachte, ebenso aber auch, dass sie schon weiter im mesopotamischen Raum verbreitet waren.
Offensichtlich kommt ’Abd al-Malik bei der Herstellung des schließlich (defektiv) in arabischen Schriftzeichen geschriebenen Koran – nur von diesem gibt es noch alte Handschriften – eine wichtige Rolle zu[15]. Sein Arabisierungsprojekt und die Etablierung eines arabisch-christlichen Großreichs scheinen der „Sitz im Leben“ für die Erstellung des arabisch geschriebenen Koran zu sein, in welchem Umfang auch immer dieser Koran zu seinen Lebzeiten schon vorlag.
(wird fortgesetzt)
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