Friedhelm Hengsbach SJ
Gottes Volk im kirchlichen Exil
Auf dem Weg zum Ökumenischen Kirchentag in München 2010

Friedhelm Hengsbach SJ, Ludwigshafen hielt das Hauptreferat auf der Bundesversammlung der KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche am 27. März 2010 in Würzburg. Wir geben Auszüge aus dem Referat weiter.

Wenn wir danach fragen, von welchen Schlagseiten die Medien im vergangenen Jahr beherrscht waren, stoßen wir auf die Finanzkrise, den Klimawandel sowie die Rettungsversuche der Regierung, bedrohte Banken oder Unternehmen über Wasser zu halten.

Überraschender Weise war auch die Religion häufig im Gespräch – beispielsweise die Bemerkungen der Bischöfin Käßmann, dass in Afghanistan nichts gut sei, oder der Volksentscheid in der Schweiz über den Bau von Moscheen, oder das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, der sich gegen die Kreuze in öffentlichen Einrichtungen Italiens aussprach, oder das Hin und Her um die Verweigerung bzw. die Annahme eines Preises durch Kardinal Lehmann, der die Verdienste um den christlich-islamischen Dialog anerkennen sollte, oder die Absicht des Papstes, mit einem Kardinal und einer kirchlichen Gruppe den Friedensgruß auszutauschen, die den Holocaust bestreitet, oder schließlich die sexuellen Übergriffe und den Missbrauch pädagogischer und religiöser Macht an so genannten Elitegymnasien der Jesuiten und weiterer Orden….

Die Religion ist also in der öffentlichen, politischen Debatte zum Thema geworden, allerdings mit zwei Vorzeichen: erstens geht sie an den innerkirchlichen Diskussionen ziemlich vorbei, die sich um weniger Geld, weniger Kirchenmitglieder und weniger Kleriker drehen, und zweitens sind es Zerrbilder dessen, was viele Christen als den Kern ihres Glaubens ansehen, nämlich in der Nachfolge Jesu den Weg der Gerechtigkeit zu gehen.

1. Glaube ist Praxis

Einige von uns können sich daran erinnern, wie ihnen im Kommunionunterricht eingeschärft wurde, was Glauben bedeute, nämlich alles für wahr halten, was Gott geoffenbart hat und die Kirche zu glauben lehrt. Später hatten wir den Eindruck, als bestehe der Glaube in einer Ansammlung exotischen, spekulativen Wissens, das auf Abruf zur Verfügung steht, damit wir den kritischen Anfragen Andersdenkender Rede und Antwort stehen können. Vor und während des Konzils lernten wir dann – zum Teil aus dem ökumenischen Aufbruch, dass Glauben in erster Linie ein restloses Vertrauen auf Gott sei, in dessen Hände wir unsere Zeit und uns selbst legen können. Ein solches Empfinden, in Gott geborgen zu sein, auf ihn allein unsere Existenz zu gründen, werde uns glücklich machen und unser Leben verklären.

Aber was wissen wir schon über Gott, das unsagbare Geheimnis? Wir wissen eher, was wir von ihm nicht aussagen können, als dass wir in der Lage wären, ihn in menschliche Begriffe einzusperren. Seine Gedanken sind soweit von unseren Gedanken entfernt wie der Sonnenaufgang vom Untergang. Er ist größer als unser Herz. Deshalb sollten wir eher schweigen, als großspurig und selbstsicher über ihn daherreden.

Alltägliche Praxis

Wenn wir vom Gottesdienst reden, ergreift uns unterschwellig die Vorstellung eines abgegrenzten Raumes, nämlich des Gotteshauses sowie einer geheimnisvollen Liturgie. Einen Gottesdienst, der dem Willen Jesu Christi entspricht, gibt es jedoch nicht, ohne dass dieser sich in der Sympathie, Liebe und Gerechtigkeit gegenüber den anderen Menschen verkörpert.

Also findet der Gottesdienst nicht zuerst in einem Kirchengebäude statt, sondern in der Familie, in der Fabrik oder im Büro, in der Kommunikation mit anderen Menschen, mit denen wir zusammen leben. Folglich sind nicht die sakramentalen Symbolhandlungen die erste Liturgie. Und auch nicht das Kirchengebäude ist der erste Ort der Liturgie, sondern unser alltägliches Leben, das praktisch die Arbeit leistet, die biblische Botschaft in den Alltag unserer Zeit zu übersetzen.

Liebesgeschichten

Glaubensgeschichten sind Liebesgeschichten. Diese Einsicht können wir aus dem Lesen der Bibel gewinnen: Wie Adam und Eva geliebt und geglaubt haben, Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und Rachel, David und Batseba, Tobias und Sara, Zacharias und Elisabeth, Josef und Maria, Jesus und Magdalena.

„Dein Ort ist, wo Augen dich ansehn, wo sich die Augen treffen, entstehst Du. Es gibt dich, wo Augen dich wollen, dich ansehen und sagen, dass es dich gibt“, so beschreibt Hilde Domin den beglückenden Augenblick, da Menschen sich wechselseitig entdecken, anschauen, anerkennen, aufrichten und an sich glauben. Und in diesem Glauben öffnen sie sich für den Glauben an Gott.

Weg der Gerechtigkeit

Glauben heißt den Weg der Gerechtigkeit gehen. Der Reichtum Israels, des Volkes Gottes, lag gemäß dem Zeugnis der Bibel nicht in einer schlagkräftigen Armee, in der durch den Staat garantierten inneren Sicherheit oder in reichen Wäldern, wasserreichen Flüssen und fruchtbaren Feldern. Die Gebote, die Gott dem Volk gegeben hat, das eine Gebot, nämlich Gott aus ganzem Herzen zu lieben und den Nächsten wie sich selbst, waren der größte Schatz Israels. Das Volk wurde von Gott aufgefordert, den Weg der Gerechtigkeit zu wählen: Leben oder Tod. „Meine Gebote sind keine Last, sie sind nicht schwer - Wähle das Leben!“

Zwei Dimensionen

Indem Glaube als Glaubenspraxis gesehen wird, sind in einer solchen Sicht zwei Dimensionen gebündelt: Die Hingabe an Gott und die Hinwendung zum Mitmenschen. …

Die Brüder in Taizé sprechen von „Kampf und Kontemplation“, die Franziskaner nennen es „Mystik und Politik“, die Jesuiten formulieren ein Ineinander von „Glaube und Gerechtigkeit“.

Und Papst Paul VI. erklärt, dass die „Verkündigung des Evangeliums notwendiger Weise eine Botschaft der Befreiung“ einschließt.

2. Bezugspunkt des Glaubens

Der Wurzelgrund meines persönlichen Glaubens liegt in der Gemeinschaft der Glaubenden, unmittelbar in der konfessionell abgegrenzten Kirche. Deren Orientierungsmarke übersteigt jedoch die organisatorischen Grenzen, die durch Taufurkunde, den gültigen Empfang der Sakramente und das Zahlen der Kirchensteuer angegeben sind.

Die konfessionelle Kirche

Es ist verständlich, die konkrete Ortsgemeinde, die konfessionell organisierte Kirche als den vertrauten Lebensraum zu identifizieren, der uns seit Kindesbeinen katholisch oder evangelisch „bis aufs Skelett“ als Christen oder Christinnen geprägt hat. „Römischkatholisch“ steht auf der Lohnsteuerkarte. Wir können uns zwar nicht daran erinnern, aber wir sind ins Taufbuch einer Kirchengemeinde eingetragen. Oft sind wir in derselben Kirche zur ersten Kommunion gegangen oder konfirmiert worden. Die Katholiken hat der Bischof gefirmt. Und wir erwarten, dass ein katholischer Pfarrer, eine protestantische Pfarrerin, eine Pastoralreferentin oder ein Gemeindereferent unserer Heimatgemeinde uns beerdigt.

Nun gibt es die „katholische“ Kirche in der Abgrenzung zur evangelischen Kirche erst seit der Reformation. Und die „westlich-römische“ Kirche ist auch erst in der Abgrenzung zur orthodoxen Kirche des Ostens entstanden. Insofern ist auch die katholische Kirche nicht einfach mit der Kirche Jesu Christi gleichzusetzen. Denn jede Spaltung ist ein Verlust an echter „Katholizität“, dem Kennzeichen einer Kirche, die über den ganzen Erdkreis eine einzige sein will. Und mit jeder Abspaltung geht etwas vom Glaubensleben, von der Glaubenspraxis und der Glaubensfülle verloren. Dass es auch andere christliche Kirchen und kirchliche Gemeinschaften gibt und diese als solche anzuerkennen sind, hat in einer überraschenden und umwälzenden Eindeutigkeit das Zweite Vatikanische Konzil erklärt….

Das Reich Gottes, die Gottesherrschaft

Was war der Inhalt der Botschaft, was war der Lebensentwurf der Person Jesu? Nicht irgendeine Kirche, sondern das Reich Gottes, die Gottesherrschaft, die nahe gekommen und unmittelbar da ist. Mit diesem Wort ist Gottes schöpferisches und heilsames Handeln gemeint, das alles zerbricht, was den Menschen bedrückt, niederhält und unterjocht, das ihn vielmehr befreit und frei atmen lässt, damit er aufrecht gehen kann.

Die Gottesherrschaft bezeichnet eine wechselseitige Beziehung zwischen Gott und Mensch, eine Art Wechselwirkung. Gott sieht seine Ehre, seine Herrlichkeit darin verwirklicht, dass der Mensch heil und ganz, dass alles, was ihn krümmt, gerade gebogen wird. Der Mensch soll den Atem Gottes in sich spüren, ein lebendiges Wesen werden und so mehr sein, mehr können, mehr wissen, mehr lieben und mehr glauben.

„Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf der Erde!“ So beten wir, wenn wir beten, wie Jesus uns gelehrt hat. Wir beten darum, dass das Kommen dieses Reiches im Herzen der Liebenden und Glaubenden brennt und dass es die Glut ihres Engagements für Gerechtigkeit befeuert.

Doppelte Identität

Das Reich Gottes erzeugt in den Glaubenden eine doppelte Identität. Die eine Seite besteht in dem Willen zur Nachfolge Jesu, dessen Leben restlos auf Gott ausgerichtet war, so dass er sich trauen konnte, ihn „lieber Vater“, „Papa“ zu nennen.

Die andere Seite besteht im Gespür für das Dasein des Heiligen Geistes in der gegenwärtigen Zeit. Dieses Dasein bewegt die glaubenden Christen zum Hinsehen und Hinhören auf die Ereignisse in der Welt, auf die spirituelle Bewegung im Menschen von heute. Sie werden sprachlos, indem sie über den Atem Gottes im anderen Menschen staunen, dass Gott längst im Anderen da ist, noch bevor wir ihn dort erst entdecken müssten….

Prophetischer Widerstand

Wer Jesus nachfolgt, steht auf gegen die Verblendung der Gedanken und die Verkrustung der Herzen, gegen Dummheit und Bosheit, die arm macht, entwürdigt, entrechtet und niederdrückt. Gegen das Abspeisen armer Kinder in Tafeln, deren Grundrechte missachtet werden, gegen einen Lebensstil, der die Tragfähigkeit des Planeten sprengt, gegen die Bereicherung weniger auf Kosten derjenigen, die sich nicht wehren können, gegen die Diskriminierung der Frauen im patriarchalen Kapitalismus und gerade auch in der katholischen Kirche. Es scheint an der Zeit, die weichspülenden theologischen Wolken um die Person und die Botschaft Jesu zu vertreiben. Insbesondere jene Deutungsmuster gehören in die Mottenkiste, die um den Sinn seines Todes gesponnen worden sind. Als hätte ein zorniger Gott verlangt, dass von einem Menschen, der als Schlachtvieh büßen muss, die Sünden der ganzen Menschheit ein für allemal getilgt werden. Dabei hat Jesus sich auf Grund seiner Botschaft vom guten und gerechten Gott mit den religiösen und politischen Eliten angelegt.

Deshalb wurde er wie ein Weizenkorn zwischen die Mühlsteine der Pharisäer, des Herodes und des Pilatus zerrieben. Dennoch hat Gott ihn nicht fallen gelassen, sondern dem Abgrund des Todes entrissen. Dies haben die drei Frauen bezeugt, die am ersten Tag der Woche, ganz früh, als die Sonne aufging, zum Grab gingen, um dem toten Jesus die letzte Ehre zu erweisen. Sie hatten seinem entehrenden Tod von fern zugeschaut. Auf ihrem Weg zum Grab sehen sie nun den großen Stein weggewälzt und hören das befreiende Wort des Engels, dass Er ihnen, den sie unter den Toten vermuten, als Lebender begegnen wird.
Dürfen wir es wort- und tatenlos hinnehmen, dass Christen, die in der Nachfolge Jesu den Weg der Gerechtigkeit gehen, indem sie an das Reich Gottes, nicht an die Kirche glauben, in eben dieser katholischen Kirche einsam und entfremdet leben – im kirchlichen Exil?

3. Kirchliches Exil

Der Begriff des „kirchlichen Exils“ ist an die babylonische Gefangenschaft Israels und deren Deutung durch die Propheten angelehnt. Die drei Merkmale des kirchlichen Exils sollen durch die „Kirche der sechs K“, ein Leben im Exil und die Zeit nach dem Exil gekennzeichnet werden.

3.1 Kirche der sechs „K“

Die gegenwärtige Kirche liefert sich dem wirtschaftlichen Druck kapitalistischer Prozesse und Strukturen aus. Sie macht sich mit der staatsnahen Körperschaftsform vertraut. Sie ist der unteren Klasse der Bevölkerung entfremdet. Sie fördert den Trend zur hierarchischen Zentralisierung und räumlichen Konzentration. Sie schließt sich in ein kultisches und spirituelles Sondermilieu ein. Und sie konzentriert die Entscheidungsmacht auf den Stand ehelos lebender männlicher Kleriker.

(1) Kirche im Kapitalismus

Die katholische Kirche lässt sich im Dreijahresrhythmus das Evangelium vorhalten: „Ihr wisst, dass die Fürsten der Heiden sie beherrschen und die Großen über sie Macht ausüben. Bei euch soll es nicht so sein!“ Aber das Gebot Jesu: „Nicht so“ wenden die Kirchen weder auf ihre teilweise zentrale bzw. monarchische Verfassung noch auf ihre Arbeitgeberrolle an. Sie anerkennen zwar weithin die Bestimmungen des staatlichen Arbeitsrechts, wenn es sich um das individuelle Recht handelt, nicht jedoch, wenn es um das Koalitionsrecht, um Tarifverträge oder gar um das Streikrecht geht. Dabei ahmen sowohl die verfassten Kirchen als auch die ihr zugeordneten Einrichtungen die Praxis der gewerblichen Unternehmen und des Öffentlichen Dienstes bedenkenlos nach, indem sie Personal abbauen, die Arbeit verdichten, Teileinheiten bei abgesenktem Entgelt und verlängerter Arbeitszeit in Leiharbeitsfirmen auslagern, aus kollektiv geregelten Arbeitsverhältnissen aussteigen und sich gleitend von der so genannten Dienstgemeinschaft verabschieden.

(2) Kirche in der Körperschaftsform

Als öffentliche Körperschaften lassen sich die Großkirchen in Deutschland vom Staat mit privilegierten Sonderrechten ausstatten. Sie nimmt das hoheitliche Recht in Anspruch, Steuern zu erheben und einzuziehen. In Bayern werden die Bischöfe, Weihbischöfe und die Regenten der Priesterseminare vom Staat bezahlt. Sie mischt sich in die inneren Angelegenheiten theologischer Fakultäten an staatlichen Hochschulen ein und beansprucht ein Mitspracherecht bei der Gestaltung eines konfessionell, manchmal sogar katechetisch ausgerichteten Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft. Die Seelsorge bei der Bundeswehr und bei der Polizei sowie im Justizvollzug ist Bestandteil der staatlichen Verwaltung und wird vom Staat bezahlt.

(3) Klassenkirche

Neuere Milieustudien belegen, dass die katholische Kirche überdurchschnittlich im konservativen, traditionellen Milieu der älteren Generation und im Milieu aufsteigender bürgerlicher Eliten beheimatet ist. Dagegen hat sie keinen oder nur extrem geringen Zugang zu den modernen Milieus, die durch eine jüngere Generation sowohl in den unteren Bevölkerungsschichten charakterisiert ist als auch in jenen Schichten, die sich durch ein höheres Bildungsniveau und eine höhere soziale Stellung im Beruf auszeichnen.

Auffallend ist darüber hinaus, dass die Kirchen in die Falle der Milieuforschung hinein stolpern, die davon fasziniert zu sein scheint, dass die subjektiven Einstellungen, Lebensstile und Mentalitäten in Deutschland zunehmend pluraler und variabler werden, und dass sie sich von traditionellen zu modernen und postmodernen Wertorientierungen verlagern. Über der Diagnose solcher Wertorientierungen ist die wachsende vertikale Ungleichheit mehr oder weniger aus dem Blick geraten. Dass die katholische Kirche, indem sie überdurchschnittliche mentale und finanzielle Ressourcen in kirchliche Gymnasien investiert, den Blick und erst recht den Zugang zu den unteren Schichten der Arbeitslosen und der nachwachsenden Generation verliert, scheint billigend in Kauf genommen zu werden. Die katholische Kirche wird tendenziell zur bürgerlichen Klassenkirche.

(4) Kathedralkirche

Die katholischen Bistümer haben sich von privaten Unternehmen beraten lassen, um die drei belastenden Knoten sinkender Steuereinnahmen, sinkender Kirchenmitglieder und einer sinkenden Zahl von Priesteramtskandidaten auf einen Streich durchzuhauen. Diese Beratungsfirmen haben den Kirchen dasselbe geraten, was sie den Unternehmen in der Blütezeit des Finanzkapitalismus und vor dessen beispielloser Krise zu empfohlen gewohnt waren: Kosten senken, Personal abbauen, sich auf das Kerngeschäft konzentrieren, zu größeren Einheiten fusionieren und die hierarchischen Strukturen verstärken. Zwar wurden – allerdings parallel – Finanz- und Pastoralkommissionen eingerichtet, doch die pastoralen Ziele wurden überwiegend defensiv gemäß den oben genannten dreifachen Restriktionen definiert.

Nun darf man nicht McKinsey oder Roland Berger vorwerfen, dass sie vermutlich den Grad unterschätzt haben, wie sehr das Leben einer Glaubensgemeinschaft vom Funktionieren eines kapitalistischen Unternehmens abweicht. Den Kirchenleitungen jedoch bleibt der Vorwurf nicht erspart, sie hätten absichtlich oder fahrlässig übersehen, dass das erste Subjekt einer Glaubensgemeinschaft, deren Mitglieder aus dem familiären Milieu gewonnen werden, in dem Kinder eine große Rolle spielen, die Gemeinde vor Ort ist. Eine Kirche, die sich stärker auf den Lebensstil mobiler großstädtischer Milieus mit einem hohen Anteil an Einzelhaushalten orientiert, gerät unweigerlich in eine Schieflage nicht nur der Milieubindung, sondern auch ihres Zugangs zur unteren Mittel- bzw. Unterschicht und darüber hinaus zum ländlichen Raum.

Schwerwiegender sind jedoch die starke Zentralisierung der Organisation und der institutionelle Rückzug der Kirche aus der Fläche einzuschätzen. Diese Entscheidungen sind zwar pastoral gegenproduktiv, weil eine lebendige Sorge um Menschen in spiritueller Not ohne die konkret erfahrbare Lebensnähe hauptamtlicher Ansprechpartner und deren unmittelbare Präsenz vor Ort kaum vorstellbar ist. Aber die Kirchenleitungen sind offensichtlich bereit, diese ihre eigene Entfremdung von den Orts- und Personalgemeinden ziemlich bedenkenlos als Preis einer bewusst entschiedenen hierarchischen und patriarchalen Kirchenverfassung zu zahlen.

(5) Kultkirche

Wie sind die Kirchenleitungen von ihren Beraterfirmen angeleitet worden, das Kerngeschäft einer christlichen Glaubensgemeinschaft in der Nachfolge Jesu zu formulieren? Oder worin sehen sie selbst das unverwechselbar kirchliche Profil gemäß den eigenen Präferenzen?

Haben die liturgischen und spirituellen Segmente gegenüber den caritativen, sozialpolitischen und pädagogischen Engagements ein größeres Gewicht erhalten?

Es hat den Anschein, als würde der Hauptakzent darauf gelegt, was Sozialwissenschaftler im Sinn eines größten gemeinsamen Nenners als die gesellschaftliche Funktion von Religion definieren. So weisen sie auch den christlichen Kirchen als „Civil Religion“ die Rolle zu, die Stabilität einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft durch ein diffuses Wertegerüst, die symbolische Reproduktion im Kult und durch einen wie immer artikulierten Bezug zu so etwas wie Transzendenz zu stärken. Vermutlich sind die katholischen Kirchenleitungen damit in eine kultisch-spirituelle Falle hineingestolpert, die von Religionssoziologen ausgelegt worden ist. Diese sind nämlich stark vom vielleicht berechtigten, eigenen kirchenkritischen Interesse und der Faszination exotischer, fremder Religionen geleitet gewesen, indem sie den so genannten Natur- und Kultreligionen eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben, um deren Eigenarten auf die Problemlage der Kirchen zu übertragen.

Verhängnisvoll wäre es jedoch, wenn bei der sozialwissenschaftlichen Reflexion über die Rolle der Religion erstens der spezifische geschichtliche Charakter der jüdisch-christlichen Tradition, die in den Ursprungserzählungen der Befreiung Israels aus Ägypten und der Jesusbewegung gründet, abgewertet und wenn zweitens die prophetischen, staats-, eliten- und kultkritischen Anteile dieser Tradition ausgeblendet würden. In der Art und Weise, wie die knappen finanziellen, personellen und institutionellen Ressourcen einer von oben herab verordneten angeblich „spirituellen Erneuerung“ der Kirche verteilt werden, ist dieses Risiko nicht auszuschließen….

(6) Klerikerkirche

In der katholischen Kirche spielt die Eucharistiefeier unter den symbolischen Kulthandlungen eine zentrale Rolle. Sie gilt als Mitte, Ursprung und Ziel der Glaubensgemeinschaft, als Höhepunkt des christlichen Lebens. Zwar wird sie als Zeichen der Einheit doziert, entartet jedoch angesichts der Milieu- und Klassenbindung der katholischen Kirche zur Illusion, weil bestimmte Bevölkerungsgruppen faktisch von der Teilnahme ausgeschlossen sind. Außerdem werden in Zukunft mehr und mehr Orte und Regionen von diesem propagierten Höhepunkt des christlichen Lebens ausgeschlossen. Denn die Bedingungen, unter denen die Messe gültig und erlaubt gefeiert wird, sind viel zu eng definiert, um eine lebendige sakramentale Pastoral zu ermöglichen. Der Leiter der Eucharistiefeier muss ein vom Bischof mit einer Weihe ausgestatteter und dazu beauftragter unverheirateter Mann sein.

In der extrem patriarchalisch und hierarchisch ausgerichteten Verfassung der katholischen Kirche, die einer absoluten Monarchie ähnelt, ist die Entscheidungsmacht den weihebasierten Amtsträgern vorbehalten. Wegen des Mangels an Priestern und Priesteramtskandidaten werden derzeit die früher an lokalen Lebensräumen orientierten Kirchengemeinden in größere „Pfarrverbände“, „Gemeinden von Gemeinden“ oder „Seelsorgeeinheiten“ überführt.

Der Maßstab dieser Konzentrations- und Fusionsprozesse scheint fast ausnahmslos die Zahl der noch vorhanden weihebasierten Amtsträger, also der Kleriker zu sein.

Anstatt die Kopplung kirchlicher Leitungsmacht an ehelose, mit sakramentaler Weihe ausgestattete Männer zu lösen, und anstatt in der relativen Seltenheit solcher Berufungen einen Wink des Heiligen Geistes zu erblicken, der eine solche Klerikerkirche vielleicht nicht mehr will, hält die Kirchenleitung krampfhaft an der historisch gewordenen und inzwischen anachronistisch gewordenen Struktur fest. Sie riskiert damit ein dreifaches Risiko: Erstens überfordert sie die weniger werdenden Kleriker, bis diese ausbrennen, krank werden oder ihren Beruf quittieren. Zweitens entmutigt sie hoch movierte und kompetente, sowohl ehelose als auch verheiratete Frauen und Männer, die ihre Talente und Energien für den pastoralen Dienst in den Gemeinden mobilisiert haben und sich nun tendenziell aus diesem Beruf zurückziehen. Und drittens verstolpert sie sich in eine Reaktion, die Jesus an den Pharisäern und Schriftgelehrten geißelt, dass sie sich nicht um die Menschen in den Gemeinden sorgen, sondern sich an ihren eigenen Überlieferungen und Menschensatzungen festhalten. Dass sie die Schlüssel zum Himmelreich in der Hand halten, die Gemeinden aber nicht hinein lassen.

3.2 Leben im Exil

Das Leben im Exil hat einen Abschnitt der Heilsgeschichte Israels ausgemacht. Nachdem der König von Babylon Jerusalem erobert und niedergebrannt, den Tempel zerstört und den König vor den Augen seiner Söhne geblendet hatte, wurden große Teile des Volkers in die babylonische Gefangenschaft deportiert. Der Auszug aus dem vertrauten eigenen Land in die Gefangenschaft, die erzwungenen Gewohnheiten und fremden Lebensformen waren für die gläubigen Juden eine niederschmetternde Erfahrung. Sie sahen ihren Glauben an Gott dahin schmelzen. Hatte Gott sein Versprechen gebrochen, ihnen ein blühendes Land, einen heldenhaften König und einen Tempel zu sichern, in dem sie seine Nähe für alle Zeit erfahren durften? War der Gott Israels .. den fremden Göttern unterlegen?

Nachdem die Juden einige Zeit in der Gefangenschaft verbracht hatten, traten Propheten auf, die ihnen die scheinbar verzweifelte Lage zu deuten versuchten. Das Exil sei keine gottferne Zeit. Gott selbst habe sie nach Babylon begleitet, er sei inmitten seines Volkes geblieben, ihm nah, obwohl es von fremden Völkern eingeschlossen lebt. Aber er sei ihm anders gegenwärtig als in Israel. Wie ist das möglich – ohne König, ohne Land, ohne Tempel?

Die Nähe Gottes zu seinem Volk zeigt sich darin, dass die Juden den Glauben an Gott in ihrem persönlichen Leben bezeugen. Dass sie den Weg der Gerechtigkeit gehen, indem sie den Geboten treu bleiben und ihre Zeit ordnen, den Sabbat als Zeit der Freiheit für Gott achten.

Schließlich gibt es eine Zeit nach dem Exil: Es kommen Tage, da Gott sein Volk aus dem Norden und Süden zur Einheit sammelt. Es kommen Tage, da Gott Hirten berufen wird, die die Herde weiden und nicht auffressen. Und es kommen Tage, da aus dem Haus Davids ein Nachkomme auftreten wird, dessen Name heißt: „Gott ist unsere Gerechtigkeit“.

3.3. Eine Zeit nach dem Exil

In der Erinnerung an das große Exil des Volkes Israel löst sich jenes Rätsel auf, ob sich im kirchlichen Exil die Gottesherrschaft, das Reich Gottes behauptet. Das kirchliche Exil ist nicht das Ende der Geschichte der Gottesherrschaft. Es wird die Leidenschaft für das Reich Gottes nicht ersticken.

In dieser Zeit werden Christen mit anderen Menschen jenseits kirchlicher Grenzen Bündnisse schließen, damit die Güter der Erde allen Menschen verfügbar werden, und damit alle, die arbeiten wollen, eine Arbeitsgelegenheit finden, die zufrieden stellt, die sie angemessen leben lässt und die ihnen gesellschaftliche Anerkennung verschafft. Mit Menschen aus anderen gesellschaftlichen Szenen werden sie aufstehen, damit alle, die nach Bildungsgütern wie nach Wasser dürsten, ihre Wünsche erfüllt sehen, damit Frauen sich die gleichen Rechte und die gleichen Lebenschancen wie Männer erkämpfen, damit der Planet nicht von wenigen ausgebeutet wird, während die Mehrheit der Weltbevölkerung ihre gleichen Umweltrechte verliert, damit das Geld, eine geniale Erfindung der Menschen, wieder zu Gottes guter Schöpfung wird, und damit die politisch Verantwortlichen nicht über Nacht aus ihrem politischen Mandat in lukrative Positionen privater Unternehmen wechseln…

Nach dem Exil kommt eine Zeit, da auch die katholische Kirche eine private Vereinsform wählen wird. Sie wird als zivilgesellschaftlicher Akteur aus dem Schatten des Staatsapparats heraustreten. Sie wird sich darauf besinnen, dass sie zuerst eine Nachfolgegemeinschaft Jesu ist, des Propheten aus Nazaret in Galiläa, der alles gut gemacht hat. Ihm wird sie mit einer Option für die Armen nicht in Worten, sondern in der Tat die Ehre geben. Sie wird den Frauen die gleichen Rechte wie den Männern zuerkennen. Sie wird den Frauen den gleichen Zugang zu allen weihebasierten Leitungsämtern erschließen und die kirchlichen Ämter nicht an Lebensformen binden, die von denen abgelehnt werden, die für einen kirchlichen Dienst geeignet und berufen sind. Sie wird sich in die umfassende ökumenische Bewegung eingliedern - auf gleicher Augenhöhe mit allen, die Gott suchen.

Sie wird dem nachfolgen, der sie begleitet – wohin er sie auch führt. „Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen – Dein Reich komme, Herr. Dein Reich komme“.


© imprimatur Juni 2010
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