„Spurensicherung“ der Kirche Jesu. Sind die neutestamentlichen Aussagen, auf die die Kirche ihre Existenz und ihr Selbstverständnis zurückführt, nicht längst gefunden und (dogmatisch) gesichert? Die Erinnerung an eine Unterrichtsvisitation bei einem Kollegen im Fach Katholische Religion vor Jahrzehnten zum Thema „Jesus, der Stifter der Kirche“ stand ganz unter dieser Prämisse. Beim Betreten des Klassenraumes, stach mir ein bereits vorgefertigtes großes Tafelbild in die Augen. Zu sehen war hoch oben der Begriff „Gott“, darunter „Jesus Christus“ und darunter das Wort „Kirche“. Wie Jesus von Gott kommt, so die Kirche von Christus. Von Spurensuche nach der Kirche des Neuen Testamentes war nicht die Rede. Das Unterrichtsgespräch blieb denn auch im wesentlichen im Rahmen der alten Katechismusantworten: „Wer hat die Kirche gestiftet?“ Antwort: „Christus hat die Kirche gestiftet“. Der „Grüne Katechismus“ von 1956 formuliert bei der Frage nach der Kirchenstiftung durch Jesus schon behutsamer: „Jesus Christus hat während seines öffentlichen Lebens mit der Gründung der Kirche begonnen“.
Paul Hoffmann, emeritierter Professor für Neues Testament an der Fakultät
für Katholische Theologie der Universität Bamberg, stellt an die Spitze
seiner „Spurensicherung“ der Kirche im Neuen Testament ein Wort
von Walter Benjamin, das die grundsätzliche geschichtsphilosophische Position
seines Buches umschreibt: „Vergangenes historisch artikulieren heißt
nicht, es erkennen, wie es denn eigentlich gewesen ist. Es heißt, sich
einer Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt…In
jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus
abzugewinnen, der im Begriffe steht, sie zu
überwältigen.“ (9)
Es geht dem Autor auf dem Hintergrund der Geschichtsphilosophie Walter Benjamins exegetisch-theologisch beim Thema „Jesus von Nazaret und die Kirche“ vor allem um zwei Problembereiche: „In welchem Verhältnis steht unser heutiges Verständnis von Kirche zu dem, was Jesus von Nazaret mit seiner Botschaft von der Gottesherrschaft initiierte?“ und „Wie kam es eigentlich dazu, dass die spätere Gemeinde in diesem prophetischen Boten der Gottesherrschaft den Israel verheißenen Messias oder Gottes ewigen Sohn erkannte?“ (10)
Hoffmann weist zu Recht darauf hin - es gilt für beide Problembereiche - dass es sich sowohl bei der Entstehung der „Kirchensituation“ als auch bei der Ausbildung des christologischen Bekenntnisses um sehr komplexe Entwicklungen handelt, die sich „von ihren sozio-historischen und kulturellen Voraussetzungen nicht isolieren lassen“. Beide Voraussetzungen bedingen die Pluralität der Gemeindeverfassungen und der Jesusdeutungen.
Unter diesen Voraussetzungen gliedert Hoffmann sein Buch in drei Teile. Im ersten Teil geht es darum, das „Profil der Botschaft Jesu“ im Kontext der jüdischen Gesellschaft seiner Zeit deutlich zu machen. Im zweiten untersucht er die „Entwicklung der Christologie“, soweit sie in den Briefen des Paulus, in den Evangelien und in der Spruchquelle Q zu fassen ist. Im dritten Teil, „Von der Jesusbewegung zur Kirche aus allen Völkern“, untersucht Hoffmann, ausgehend von Jesus als dem prophetischen Boten der Gottesherrschaft, die Entwicklungsgeschichte der Kirche in ihrer pluralen Ausformung.
In einem eigenen Kapitel zeichnet er auf der Basis der komplexen Entwicklungsgeschichte der Kirche im Neuen Testament „Perspektiven für eine Zukunft der Kirche“: „Die Frage nach dem ´Wohin` der Kirche ist auf das Engste mit der Frage nach ihrem ´Woher` verbunden. Es ist die Frage nach dem Ursprung christlicher Glaubensüberzeugung bei Jesus von Nazaret zugleich die Frage, ob die Kirchen in ihrer historisch gewordenen Gestalt heute noch jenen Raum bilden, in dem der moderne Mensch das Evangelium Jesu Christi erfahren kann.“ (168) Dabei fehlt es nicht an konkreten perspektivischen Hinweisen, die Kirche als Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern zu verstehen. Wobei sich die Frage stellt, wie es gelingen kann, den antihierarchischen Vorbehalt des Neuen Testaments in der großkirchlich und sacerdotal-hierarchisch geprägten römischen Kirchenverfassung von heute umzusetzen. „Das Wissen um die absolute Zukunft Gottes lässt die `Vorläufigkeit´ jeder geschichtlichen Realisation von Kirche ebenso erkennen wie die Notwendigkeit des ständigen Aufbruchs.“ (178)
Ein anregendes und überzeugendes Buch im geschichtlichen Spannungsfeld Jesus von Nazaret - Reich Gottes - Kirche - Gesellschaft. Spurensuche und Spurensicherung, Perspektiven, nicht zuletzt auch für eine zukunftsgerichtete Verkündigung der Botschaft Jesu heute.
Zurück zur Auswahl Paul Gerhard Schoenborn
Hans-Joachim Lang: "Als Christ nenne ich Sie
einen Lügner" - Theodor Rollers Aufbegehren gegen Hitler
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2009, 255 Seiten
mit zahlreichen Fotos, ISBN 978-3-455-50104-9
Unerhört, was ein junger schwäbischer Pietist namens Theodor Roller aus Tübingen am 11. Februar 1939 an Adolf Hitler schreibt: "Als Christ nenne ich Sie einen Lügner und als Deutscher den größten Volksschädling, der je deutsche Erde betrat!" Er fühlt sich dazu verpflichtet, um "meine Pflicht getan zu haben, damit ich nicht mitschuldig bin am deutschen Untergang".
Roller, wird von der Gestapo abgeholt und kommt zur Untersuchungshaft ins Stuttgarter Polizeigefängnis. Man wirft ihm Beleidigung leitender Persönlichkeiten des Staates vor und bewertet den Brief im Sinne des " Heimtückegesetzes" als schädliche Propaganda. Die Berliner Kanzlei des "Führers der NSDAP" empfiehlt: "Die dauernde Unschädlichmachung des Roller ist dringend geboten." (Faksimile des Schriftstücks auf Seite 86) An diese Vorgabe hält sich die Justiz. Am 14. Februar 1940 erklärt das Sondergericht Stuttgart Roller für psychisch krank, spricht ihn wegen Unzurechnungsfähigkeit frei und weist ihn zur Sicherungsverwahrung in eine psychiatrische Anstalt ein.
Das klingt eher harmlos, ist es aber nicht. Denn Theodor Roller kann nun Opfer des Vernichtungsprogramms "lebensunwerten Lebens" werden. Vom 11. März 1940 an befindet er sich in der psychiatrischen Heilanstalt Weißenau bei Ravensburg. Er arbeitet in der Landwirtschaft der Einrichtung und macht sich – gelernter Buchhalter, der er ist - auch in der Küchenverwaltung nützlich. Weil er sich als eine wertvolle Arbeitskraft erweist, erlebt er dort schließlich das Kriegsende. Hingegen werden arbeitsunfähige Pfleglinge auch dieser Anstalt im Rahmen des Euthanasieprogramms aussortiert und in Tötungsanstalten abtransportiert und dort umgebracht. Zwischen dem 20. Mai 1940 und dem 13. März 1941 werden nachweislich 677 Weißenau-Patienten auf diese Weise ermordet.
Am 28. Mai 1945 besetzen die Franzosen die Region. Theodor Roller verlässt die Weißenau aber erst im Laufe des Sommers. Denn er dringt darauf, dass ihm schriftlich bestätigt wird, seine Einweisung sei aus politischen Gründen erfolgt und es bestehe somit kein Anlass mehr, ihn in der Anstalt festzuhalten. Er kehrt nach Tübingen zurück und schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Am 27. April 1949 hebt das Landgericht Tübingen das Sondergerichtsurteil auf. Der rehabilitierte Roller erhält Wiedergutmachung. Er arbeitet wieder als Buchhalter, heiratet, bekommt Kinder. Ein Stiller im Lande, der sich nie seiner Anfragen an und Angriffe gegen Hitler gerühmt hat.
Theodor Roller wird am 22. Februar 1915 geboren und stirbt am 30. Oktober 2008. Hans-Joachim Lang, promovierter Historiker und Wissenschaftsredakteur beim "Schwäbischen Tagblatt" in Tübingen wird auf ihn aufmerksam durch zahlreiche Leserbriefe, in denen der Schreiber aus einer tiefen religiösen Überzeugung heraus politische Aktualitäten kommentiert. Eine Andeutung, dass er den Fahneneid auf Hitler verweigert habe, weckt Hans-Joachim Langs Neugier.
Im Juli 2007 trifft er sich zum ersten Mal mit dem Leserbriefschreiber in dessen Wohnung im Tübinger Vorort Derendingen. Theodor Roller fasst Vertrauen zu ihm. Es entwickelt sich ein reger Gedankenaustausch bis zum Tode des alten Herrn, der bis zuletzt geistig klar ist und über ein gutes Gedächtnis verfügt. Er gibt Hans-Joachim Lang uneingeschränkten Einblick in seine große Sammlung an Notizen und Briefen. Der Historiker entdeckt zusätzlich zahlreiche Patienten- und Gerichtsakten. Im Bundesarchiv findet er schließlich in Unterlagen des Reichsjustizministeriums die Urteilsbegründung des Stuttgarter Sondergerichts, in der Auszüge des neun Seiten langen Briefs von Roller an Hitler zitiert werden.
In jenem Brief an Hitler lässt Theodor Roller den Diktator wissen, dass er einst dessen "tiefster Verehrer und Fanatiker der NS-Idee" war. Der aktive CVJMer hatte sich bereits 1930 der Hitler-Jugend angeschlossen und es dort bis zum Scharführer gebracht. Hitler verehrte er wegen dessen Kampfs gegen den "bewusst gottlosen Bolschewismus". Aber im November 1935 tritt er aus der HJ aus. Er kann als gläubiger Christ die ideologische NS-Schulung seiner HJ-Schar nicht mehr mit innerer Bejahung durchführen. Denn er hat erkannt, dass das Kreuz Jesu Christi und das Hakenkreuz Symbole zweier miteinander nicht zu vereinbarenden Glaubensweisen sind. In ihm ist ein Konflikt fundamentaler Werte entbrannt. Die Wahrheitsfrage stellt sich für ihn in einem Entweder-Oder dar: Er kann nur Jesus Christus oder Adolf Hitler als seine letzte Autorität anerkennen. Er muss als Christ die Oberhoheit des "Führers" über sich ablehnen und bittet Hitler in einem persönlichen Brief, ihn von seinem Eid zu entbinden.
1937 folgt Theodor Roller der Einberufung in die Wehrmacht. Als der Obrigkeit gehorsamer Christ will er als Soldat seinem deutschen Vaterland dienen. Er weigert sich aber, den Fahneneid auf den "Führer" zu leisten. Er wird daher sofort inhaftiert und psychiatrisch untersucht. Dabei wird ihm eine latente Schizophrenie attestiert. Nach längerem Klinikaufenthalt wird er aus der Wehrmacht entlassen und arbeitet ab 1938 wieder als Bankbuchhalter in Tübingen. Er richtet in der Folgezeit mehrere Briefe an den "Führer", die im Ton immer schärfer werden. Er sucht die Unterstützung der evangelischen Landeskirche, die ihm aber versagt bleibt. Schließlich – wie oben zitiert – greift er Hitler offen an und nennt ihn in einem persönlichen Brief einen Lügner, ja "den größten Volksschädling, der je deutschen Boden betrat". Wer so etwas schreibt, muss verrückt sein, jedenfalls nach der Logik des NS-Systems.
Aus gerichtlichem und medizinischem Aktenmaterial, Gesprächen mit Theodor Roller und dessen Briefen an die Mutter – die zugleich Pietistin und überzeugte Nationalsozialistin war - rekonstruiert Hans-Joachim Lang die Geschichte dieses Mannes. Er berichtet ausführlich über noch vorhandene psychiatrischen Gutachten. Aus ihnen geht hervor, dass keiner der Seelenfachleute den ungeheuren Wertekonflikt im Innern des jungen Menschen erkennt, geschweige denn, dass er ihn anerkennen will und kann. Bemerkenswert für alle, die sich mit dem gläubigen Verhalten Theodor Roller auseinandersetzen, halte ich die Tatsache, dass ein Gutachter sowohl im Hitlerreich als auch nach 1945 ausdrücklich feststellt, es liege keine Schizophrenie vor. Hans-Joachim Lang stellt auch ausführlich Einrichtung und Funktion der sogenannten Sondergerichte im Dritten Reich dar. Und er schildert eingehend die Lebensbedingungen des Patienten in der Nervenheilanstalt Weißenau. Kurz vor seinem Tod bekommt Theodor Roller Einblick in das Werk und gibt seine Zustimmung zur Veröffentlichung.
Für mich ist Theodor Roller wahrhaft ein christlicher Wahrheitszeuge. Denn er nimmt den möglichen Tod in Kauf, um seinem Glauben treu bleiben zu können, wie ein tatsächlicher Märtyrer. Erst jetzt erfahren wir von ihm, aber es ist gut, dass wir von dem einsamen Glaubenskampf dieses in keiner Weise prominenten Christen erfahren. Hans-Joachim Lang sei ausdrücklich Dank dafür gesagt, dass er uns in seinem hervorragend recherchierten historischen Sachbuch diesen aufrechten, schlichten Mann vor Augen stellt.
(Hans-Joachim Lang, 1951 in Speyer geboren, studierte in Tübingen Germanistik, Kultur- und Politikwissenschaft. 1980 Promotion (Germanistik). Seit 1982 Redakteur beim Schwäbischen Tagblatt. 1989 Wächterpreis der deutschen Tagespresse. Lehraufträge an der Universität Tübingen. Für sein bei Hoffmann und Campe erschienenes Buch "Die Namen der Nummern" erhielt er 2004 den Preis der Fondation Auschwitz in Brüssel und 2008 die Leonard-Fuchs-Medaille der Medizinischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen)
Zurück zur Auswahl Paul Gerhard Schoenborn
Friedrich Grotjahn: 'Eine Gerechte' und 'Zwei Schwestern'.
Mit einem Vorwort von Hugo Ernst Käufer und
Tuschzeichnungen von Horst Dieter Gölzenleuchter Brockmeyer Verlag, Bochum
2009, 180 Seiten, ISBN978-3-8196-0742-4
"In einer Zeit, in der Pop & Co die Literaturszene weitgehend für sich in Anspruch nehmen, ist es erfreulich, dass Geschichten wie die von Friedrich Grotjahn ihren Platz, ihren Zuspruch finden", schreibt der Senior der literarischen Ruhrgebietsszene Hugo Ernst Käufer in seinem Vorwort. "Ich habe mir geschworen, nicht zu schweigen", so der Titel eines seiner Bücher, sei ein Leitmotiv der Schreibarbeit Friedrich Grotjahns. Er zeichne Menschenschicksale im Deutschland der letzten Jahrzehnte nach, zeige die "Missachtung und Verfolgung Andersdenkender und der Juden in der Nazizeit, aber auch die Ansätze des Widerstands gegen das unmenschliche totalitäre System, sowie die politischen und gesellschaftlichen nicht immer erfreulichen Entwicklungen in den ersten Jahren der Nachkriegszeit." (Seite 6f)
"Eine Gerechte" ist die Hommage an eine alte Frau, die in den letzten Kriegsjahren ein jüdisches Mädchen bei sich versteckt hielt und vor der Deportation in ein Todeslager rettete. Die Fünfjährige weigert sich entschieden, statt ihres richtigen Namens Sarah den Tarnnamen Magdalene zu gebrauchen. Sie beschwört damit gefährliche Situationen für sich und die kleine Familie der Frau herauf, deren Mann, ein Dorfpfarrer in Niedersachsen, als Soldat in Russland steht. Das Kind versteht das alles nicht, es will nur eins: seine Identität bewahren. Es trotzt und lässt sich auf keine Kompromisse ein. Die Folge sind erbitterte Machtkämpfe zwischen dem Mädchen und der Pfarrfrau. Noch viele Jahre später, inzwischen in Israel lebend, lehnt die gerettete junge Frau jeden Kontakt mit ihrer Lebensretterin ab. Die Zeit damals im Pfarrhaus sei eine wahre Hölle für sie gewesen. – Die herbe Erzählung, hinter der konkrete Erfahrungen aus der Familie des Autors stehen, ist so ganz anders wie die Geschichten, die man sonst über vergleichbare Rettungsaktionen zu lesen bekommt. Dort geht es vorwiegend um bestandene Gefahren, mutige Schmuggelaktionen und gewagte Urkundenfälschungen, gelegentlich auch um "gute" Nazis, die etwas gemerkt haben, aber alle Augen zudrücken. Hier aber geht es um Grenzen des Verstehens, um seelische Verwundungen – und um Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft unter größter innerer Belastung. Auf ihrem letzten Lager erfährt die alte Frau von der "Allee der Gerechten" in Israel, wo man Rettern von Juden Bäume pflanzt. Sie findet das gut. Obwohl niemand ihr dort einen Baum gewidmet hat.
"Zwei Schwestern" berichtet von einem Zwillingspaar aus dem Ruhrgebiet. In ihrem Verhalten und in ihrer Weltsicht sind die alten Frauen gänzlich verschieden. Der Untertitel verheißt deshalb programmatisch: "Das unübersichtliche Leben der Hanna W. übersichtlich dargestellt von ihrer Schwester Lisbeth." (Seite 59) Lisbeth, die Ältere, lebt noch und zeigt sich kleinbürgerlich, konservativ, vorsichtig. Sie hat sich merkwürdigerweise das ganze Leben lang für Hanna, die Jüngere verantwortlich gefühlt. Obwohl sie am Verhalten ihrer Schwester nichts daran ändern, sondern darüber nur den Kopf schütteln konnte, hielt sie ihr solidarisch die Stange. "Blut ist eben dicker als Wasser."
Ein Rundfunkautor führt nach dem plötzlichen Tod ein langes Gespräch mit ihr über die plötzlich verstorbene Hanna. Er interessiert sich für die am Ort sehr bekannte politische Aktivistin und braucht O-Töne für eine Sendung. Diese Hanna W. muss eine ganz besondere Ruhrgebietspflanze gewesen sein, unangepasst, willensstark, draufgängerisch-mutig. Anhand von vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos aus einem Schuhkarton im Nachlass - erzählt die Lisbeth eine Abfolge von Zeitereignissen und wie Hanna darin agiert beziehungsweise darauf reagiert hat.
Vor uns entstehen die Verhältnisse im NS-Staat – Rassendiskriminierung, Kirchenkampf, Kriegsalltag. Aber Hanna, die Antifaschistin, kriegt es hin, einen Halbjuden zu heiraten, als Katholikin mit dem evangelischen Pfarrer eine Propagandaversammlung der Deutschen Christen zu sprengen, einen alten jüdischen Herrn erst lange in einer Gartenlaube zu verstecken und dann offiziell als Rotkreuzschwester in die Schweiz zu eskortieren. Und nach dem Kriege wird sie eine richtige handfeste Friedensfrau: Sie protestiert gegen die Wiederaufrüstung der BRD, ist Ostermarschiererin der ersten Stunde, entfernt nach dem Volkstrauertag die Kränze am Ehrenmal der Stadt und schichtet sie sorgfältig dahinter auf, legt sich mit Polizisten und Staatsanwälten an, weigert sich, die Volkszählungsbogen auszufüllen, und, und, und ...
Liesbeth erzählt viel und farbig, erzählt "Schoten", wie man im Ruhrpott sagt. Und sie hält dabei ihre eigenen Kommentare nicht zurück, Kommentare voller Bewunderung für die Schwester. Aber es fallen auch kritische Sätze, die zeigen, wes Geistes Kind Lisbeth ist. Wie verschiedenen können sich doch Zwillinge im gleichen Kontext entwickeln!
Einmal gelang es Hanna, ihre Schwester zur großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten mitzuschleppen. "Das war schon ein Erlebnis. 'Bürger lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein!' ... 'Petting statt Pershing!' Das ist nicht die offizielle Demo-Parole gewesen. Die offizielle hieß: 'Frieden schaffen ohne Waffen'. Aber über 'Petting statt Pershing!' konnte man sich schon amüsieren. ... Die Pershings sind trotzdem aufgestellt worden. Bundestagsbeschluss. Hanna war natürlich stinkig auf die Volksvertreter. Aber was willst du als Volk schon machen? Wir leben nun mal in einer Demokratie. Und Demokratie ist Demokratie. Da kann das Volk sich auf den Kopf stellen." (Seite 151)
Friedrich Grotjahn hat einen höchst wirksamen literarischen Kniff angewandt, um Aufmerksamkeit und Spannung des Lesers zu fesseln: Er ist im Grunde der auktoritative Erzähler, und doch verwandelt er Lisbeth in eine Icherzählerin. Er bringt den Leser in die Situation, dass er Zeuge eines Vorgesprächs wird. Lisbeth erzählt dem Rundfunkautor anhand von Fotos Episoden aus dem Leben ihrer Schwester. Es entwickelt sich ein sehr lebendiger, allerdings einseitiger Dialog, bei dem Lisbeth so farbig erzählt und, wie es nur Ruhrgebietsmenschen können, das Leben ihrer Schwester saftig kommentiert. Der andere Dialogpartner - und mit ihm der Leser - hören aufmerksam zu. Am Ende verständigen sich Lisbeth und ihr Besuch auf einen Aufnahmetermin. Was der Leser "mitgehört" hat, war nur vorläufig. Dadurch, so scheint mir, wird jegliche moralisierende Tendenz, wenn sie sich denn aus den Episoden entwickeln könnte, vermieden. (Ich möchte noch anmerken, dass Friedrich Grotjahn alle diese Episoden erzählt bekam, allerdings von verschiedenen bemerkenswerten alten Frauen. Man achte auf seine Widmung.)
Die beiden Erzählungen werden illustriert, besser sollte ich sagen: kommentiert durch Tuschzeichnungen von Horst Dieter Gölzenleuchter. Eigentlich kannte ich bisher von diesem Bochumer Künstler nur Holzschnitte. Wie bei diesen beruht auch bei Tuschzeichnungen die Wirkung auf dem Entweder-Oder des Schwarz-Weiß-Gegensatzes; es fehlen eben verschiedenfarbige Zwischenstufen. Aber diese Arbeiten mit dem Tuschpinsel wirken weicher als Holzschnitte, sind fließender an den Rändern. So sprechen sie auf ihre Art den Leser an und laden ihn zum Nachdenken ein. Für mich unterstreichen sie bestimmte Momente in der Erzählung: Seite 35 – Der Nazibürgermeister, die Staatsautorität, thront hinter seinem Amts-Schreibtisch – wachsam stehen Sarah und die Pfarrfrau vor ihm, ihre Haltung: Vorsicht und Kampfbereitschaft zugleich. Wer wird sich durchsetzen? Oder Seite 104 - Der einsame Jude im Versteck der Gartenlaube – und Mitwisser, die sehen und schweigen, oder sehen und Verdacht schöpfen? Wie wird das ausgehen?
Zurück zur Auswahl Karl-Heinz Ohlig
Kritisch, zugleich lesbar und spannend
Zu: Norbert G. Pressburg, Good Bye Mohammed. Wie
der Islam wirklich entstand, Books on Demand, Hamburg 2009, 167 S. (ISBN 978-3-8391-9203-0)
Das Buch des wohl pseudonymen Autors basiert offensichtlich auf den beiden ersten, bis zum Jahr 2007 erschienenen Sammelbänden, die Inârah herausgegeben hat, und bezieht weitere Literatur mit ein. Es schildert die Anfänge des Islam gemäß der – von dem Autor hart kritisierten – traditionellen Islamwissenschaft (vgl. die Vorbemerkung: „Die Islamwissenschaft hat gerade erst begonnen“) und gemäß der Abläufe, wie sie sich ergeben, wenn historisch-kritische Methoden angewendet werden. Über die Anfänge hinaus geht das Buch auch noch auf die „’Goldenen Zeiten’ des Islam“ ein, seine geistige Erstarrung seit dem 12. Jahrhundert und auf die heutige Situation, die er pointiert analysiert.
Der Text ist sehr gut verständlich geschrieben, teilweise spannend, selbst komplexe Sachverhalte werden in einfachen Sätzen, aber dennoch zutreffend – oft mit einem Schuss Ironie – dargelegt; lediglich der Begriff und die Sache des Monophysitismus werden falsch aufgefasst. Das Buch ist allen intensiv zu empfehlen, die sich in Kürze über den gegenwärtigen Stand der Dinge informieren wollen.
Zurück zur Auswahl© imprimatur Juni 2010
Sagen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel!
Bitte füllen Sie die folgenden Felder aus, drücken Sie auf den Knopf "Abschicken" und
schon hat uns Ihre Post erreicht.