Rudolf Lill
Vor 50 Jahren: Der Aufbruch zum Konzil

Vor genau 50 Jahren begann die konkrete Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils, an die der heutige Papst und dessen bischöfliche Vasallen offenbar nicht gern erinnern.

Am 30. Mai 1960 versammelte Papst Johannes XXIII. die in Rom anwesenden, insgesamt 31 Kardinale in der Vatikanischen Bibliothek und las ihnen eine „comunicazione“ vor, wonach die seit dem Mai 1959 arbeitende, vom Kardinalstaatssekretär Domenico Tardini geleitete Vorkommission (c. antepreparatoria) für das Konzil nun zur zentralen Vorbereitungskommission (c. preparatoria) wurde, welcher auch auswärtige Kardinale und Bischöfe angehören sollten; er selbst wollte ihr präsidieren. Zehn Kardinalskommissionen sollten ihr zuarbeiten. Sie waren zuständig für die Bereiche Theologie, Bischöfe und Diözesenverwaltungen, Klerus und Volk, Sakramente, Studien und Schulen, Orden, Liturgie, (unierte) orientalische Kirchen, Missionen, Apostolat der Laien. Abgesehen von dieser letzten, entsprachen ihre Aufgaben also denen der vatikanischen „Kongregationen“ (kollegiale Ministerien), deren Chefs, sämtlich Kurienkardinäle, darum den Vorsitz erhielten. Der Papst wusste, dass einige der Anwesenden, vor allem Alfredo Ottaviani (1890-1979), der sehr mächtige Sekretär des Hl. Offiziums, „traditionalistisch“ im Sinne Pius' XII. dachten und sein Konzilsprojekt unterlaufen oder abschwächen wollten. Aber er freute sich über die scheinbar einmütige Zustimmung, schloss jedoch seine knappe Aufzeichnung mit dem Psalmwort: „Deus in adiutorium nostrum intende...“ – („O Gott, komm uns zur Hilfe“) eines der vielen Zeugnisse traditioneller Frömmigkeit, welche die Tagebücher des großen Reformers durchziehen. Die verbindliche Zusammenfassung der Kardinalsversammlung vom 30. Mai enthielt das Motuproprio Supremo Dei mutu vom 5. Juni 1960, welches zugleich eine neue und neuartig dialogische Behörde schuf, das Sekretariat für die Einheit der Christen. Mit seiner Leitung betraute der Papst den gelehrten und reformistisch gesinnten Exegeten Augustin Bea S. J. (1881-1968, seit 1959 Kardinal), der als einziger Deutscher zum kleinen Kreis seiner ständigen Berater in den Konzilsfragen gehörte.

Am 7. Juni besprach der Papst das weitere Procedere mit dem soeben von ihm zum Sekretär der zentralen Kommission ernannten Mons. Pericle Felici, welcher sein partielles Verständnis für die Positionen Ottavianis offenbar geschickt verbarg. Am 11. Juni lobte der Papst die schnelle Besetzung der Kommissionen. Doch bald stellte sich heraus, dass diese einseitig im Sinne der römischen Kurie und darum vielfach ergänzungsbedürftig war. Denn Johannes wollte, dass alle theologischen und exegetischen Richtungen am Konzil beteiligt würden; gerade auch die, welche von Pius XII. und dem Hl. Offizium unterdrückt oder emarginiert worden waren. Da die zentrale Kommission zunächst aufgrund der Voten der zehn erwähnten Kommissionen zu arbeiten hatte, ist sie erst ein Jahr später, im Juni 1961, zusammengetreten. Aber auch 1959/60 wurde bereits weltweit und meist mit Sympathie vom Papst und vom Konzil gesprochen. Schon dessen ganz unerwartete Ankündigung am 25. Januar 1959 war als epochal empfunden worden, der Papst selbst schrieb sie einer „Inspirazione“ zu. Er hatte schon damit den Bischöfen die ihnen durch den Zentralisierungsprozess seit dem 19. Jahrhundert entzogene Mitverantwortung für die Kirche insgesamt zurückgegeben und eröffnete einen breiten Prozess der Diskussion und der Reflexion über Kirche und Christentum in der säkularisierten Welt. Den „Dammbruch der Erwartungen“ (Otto H. Pesch) bezeugen für das damalige Deutschland zwei Bücher aus dem Jahre 1960: Lorenz Jäger (Erzbischof von Paderborn), Das ökumenische Konzil. Die Kirche und die Christenheit, und Hans Küng (damals 32-jähriger Professor in Tübingen), Konzil und Wiedervereinigung. Erneuerung als Ruf in die Einheit.

Während Traditionalisten wie Kardinal Ottaviani glaubten, dass es nach dem Ersten Vaticanum keines neuen Konzils mehr oder höchstens einer Einbestellung der Bischöfe zur gemeinsamen Akzeptanz päpstlicher Entscheidungen bedürfte, griff Johannes, der die ganze Geschichte der Kirche kannte und mit ihr lebte, auf diese alte Form gesamtkirchlicher Meinungs- und Entscheidungsbildung zurück. Die Konzilsfrage hat den Grundsatzkonflikt zwischen dem Papst und dem Chef des Hl. Offiziums ausgelöst, welcher den ganzen Pontifikat durchzogen hat. Ottaviani bestand auf der päpstlichen Regierungsmacht im Sinne des Dogmas von 1870 und der seitherigen Enzykliken! Er hatte in der Kurie (z. B. die Tit. Erzbischöfe Parente und Staffa, P. Tromp S. J.) und in konservativen Episkopaten (so Spanien, starke Fraktionen in
Italien, Polen und Lateinamerika) viele Anhänger.

Es war konsequent, dass Johannes keine Fortsetzung des 1870 formell nur suspendierten Konzils wollte, sondern, wie er in zahlreichen Gesprächen und Reden ausführte und nach und nach präzisierte, ein neues Konzil neuen Typs. Es sollte, anders als jenes und die meisten früheren, keine neuen Dogmen oder Verurteilungen aussprechen, vielmehr die alten Wahrheiten in vereinfachter Weise verkünden und den Ort der Kirche in der Welt neu bestimmen. Das war viel mehr als die eine oder andere Lehrentscheidung! Und wer dieses „Mehr“ herunterredet und von einem „bloß“ pastoralen Konzil spricht, der verfälscht die historische Wahrheit.

Damit eng verbunden waren ein neuartiges, weltweit den Ausgleich zwischen Reichen und Armen einforderndes soziales Engagement (zuerst formuliert in der Enzyklika Mater et magistra, 15. Mai 1961), der Verzicht auf autoritative Weisungen an die Politik und die Förderung von Entspannungs- und Reformpolitik. Die Kirche sollte sich im Konzil erneuern, sie sollte barmherzig und optimistisch wirken. Von den immer wieder vor Modernismen und Relativierungen warnenden „Unglückspropheten“, wie er Ottaviani und dessen Anhänger apostrophiere, grenzte Johannes sich entschieden ab.

Im Juni 1960 hat Johannes XXIII., welcher schon ein Jahr zuvor spontan eine die Juden unnötig kränkende Formulierung aus einer (in allen katholischen Kirchen öffentlich vorgetragenen) Karfreitagsfürbitte gestrichen hatte, auch die Initiative zu einer fundierten Verständigung mit dem Judentum rezipiert resp. ergriffen; seit dem Massenmord an den europäischen Juden war sie historisch notwendig. In einer der vielen Audienzen, um die der durch seinen Konzilsplan doppelt „interessant“ gewordene Papst inzwischen gebeten wurde, empfing er am 12. Juni, d. h. inmitten seiner Vorkehrungen für das Konzil, den für diese Thematik sehr engagierten jüdischen Publizisten Professor Jules Isaac. Im Tagebuch notiert er nur, dass dieser Besuch „interessant“ war. Aber er erbat sofort von Kardinal Bea eine Studie zum Antisemitismus, die dieser sehr gern ausgeführt hat. Damit begann der schwierige, ebenfalls auf traditionalistischen Widerstand stoßende Weg zur Konzilserklärung Nostra aetate (28.10.1965), welche das Verhältnis zum jüdischen Volk (und zu den nicht-christlichen Religionen insgesamt) neu und positiv umschrieben hat. Isaac hatte auch bei Pius XII. vorgesprochen, war aber von ihm höflich abgewiesen worden. Hätte Pacelli einen Schritt in die Richtung getan, welche sein Nachfolger eingeschlagen hat, so wäre dem Hl. Stuhl viel an Kritik und Streit erspart geblieben.


2008 sind die Tagebücher Johannes' XXIII. erschienen:

Pater amabilis. Agende del Pontefice 1958-1963 (Edizione nationale dei Diari di Angelo Giuseppe Roncalli/Giovanni XXIIL, vol. 7)..., Bologna 2008, 567 S. Alberto Melloni, Papa Giovanni. Un cristiano e il suo Concilio, Torino 2009.

Giuseppe Alberigo, Storia del Concilio Vaticano II, 5 Bde, Leuven seit 1995, deutsche Ausgabe, mit Klaus Wittstadt. G. A., Transizione epocale. Studi sul Concilio Vaticano II, Bologna 2000.

Alberigo, der gründlichste Erforscher des Konzils, hat auch eine kurze Darstellung in deutscher Sprache veröffentlicht: LThK3. A., Bd. 10 (2001), Sp.561-566.

Otto Hermann Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil, 2003 (Topos TB 393), S. 55-69.

Rudolf Lill, Die Macht der Päpste, 2006 (Topos TB 603, ital. Ausgabe Roma/Bari 2008), Kap. VI.

Über die deutschen Beiträge zur Vorbereitung des Konzils berichtet exemplarisch Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings, Band II, 2005, S. 210- 299.


© imprimatur Oktober 2010
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