Wunibald Müller
Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt

Nein, meine Damen und Herren, liebe Mitchristen und Mitchristinnen:

Ich will hinschauen, hinhören, nicht schweigen. Ich will der Wahrheit ins Gesicht schauen.

„Gibt es Themen, bei denen wir als Kirche sprachlos sind? Sprachlos, weil die auszusprechende Wahrheit zu bitter, zu unschön ist?“, fragte P. Mertes vor wenigen Wochen in einem Vortrag vor dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken.

Natürlich gibt es solche Themen. Auf einige will ich eingehen auf dem Hintergrund von drei Risikofaktoren, die bei sexuellem Missbrauch im kirchlichen Bereich eine besondere Rolle spielen.

1. Risikofaktor: Die Tatsache, ein Mann zu sein

Als ich das in dieser Deutlichkeit zum ersten Mal hörte, schoss mir der Gedanke durch den Kopf: Wenn es sich so verhält, würde sich das Problem sexuellen Missbrauchs durch Priester vielleicht dadurch lösen, dass man in Zukunft nur noch Frauen zu Priesterinnen weiht? Natürlich wäre das keine Lösung des Problems. Auch, weil ein Unrecht nicht durch ein anderes Unrecht wettgemacht werden kann und dadurch viele wunderbare Männer der Kirche als Priester verloren gingen.

Und dennoch - jetzt aus einer psychologischen Sicht betrachtet: von einer Priesterschaft, die aus Männern und Frauen bestünde, ginge eine andere Ausstrahlung aus. In einer solchen Priesterschaft hätte die Sexualität einen anderen Stellenwert, würde sie sich auch in ihrer weiblichen Ausprägung zeigen.

Eine solche Priesterschaft und dann auch Priesterinnenschaft würde auch für so manchen nicht länger attraktiv sein, der sich jetzt noch auch aus mitunter recht fragwürdigen Gründen in der augenblicklichen monosexuellen Gruppe der Priester wohl fühlt.

Dazu kommt: Da nur Männer Priester werden können, besteht die Führungsschicht der katholischen Kirche nur aus Männern. Und ohne die Integrität vieler Männer in der Kirche, die Verantwortung haben, grundsätzlich in Zweifel ziehen zu wollen, darf und muss die Frage erlaubt sein: Stünden wir als katholische Kirche heute vielleicht nicht anders da, hätten auch die Frauen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten an verantwortlicher Stelle mitentscheiden können, wie im Falle sexuellen Missbrauchs vorzugehen ist? Ich weiß es nicht. Aber wenn wir nicht länger wegschauen wollen, müssen wir uns solchen Fragen stellen.

Aus einer psychologischen, letztlich aber auch zutiefst spirituellen Perspektive gesehen, würde die Erweiterung der Priesterschaft um Frauen eine wesentliche Bereicherung der Priesterschaft darstellen. Die Gottesebenbildlichkeit, die sich im Mann und in der Frau Ausdruck verschafft, würde auch in der Priesterschaft konkretisiert werden, was im Moment nur halb ist, würde ganz werden. Den Frauen würden endlich in der Kirche die gleichen Rechte zugesprochen werden.

2. Risikofaktor: Sexuell unreife homosexuelle Männer

Ich betone sexuell unreife homosexuelle Männer. Bei über 80% der Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester handelt es sich um männliche Kinder.

Kann man daraus schlussfolgern, dass homosexuelle Priester in besonderer Weise anfällig sind für pädophiles Verhalten? Generell kann man das nicht.

Vielmehr muss man davon ausgehen, dass der Anteil sexuell unreifer homosexueller Priester unter den homosexuellen Priestern, die ja ohnehin eine starke Gruppe unter den Priestern ausmachen, überdurchschnittlich hoch ist.

Diese Gruppe von sexuell unreifen homosexuellen Priestern scheint für pädophiles besonders anfällig zu sein.

Bei ihnen hat die notwendige Auseinandersetzung mit ihrer Sexualität, die auch zu einer Annahme ihrer homosexuellen Veranlagung führen sollte, nicht stattgefunden. Die Folge davon ist, dass ihre sexuelle Entwicklung auf der Strecke geblieben und ihre Fähigkeit, verantwortungsvoll mit ihrer Sexualität umgehen zu können dadurch beeinträchtigt ist. Die Tabuisierung von Homosexualität im kirchlichen Kontext dürfte eine solche Vermeidungshaltung noch verstärken.

Wenn daher von Rom verlangt wird, in Zukunft keine homosexuellen Männer mehr zu Priestern zu weihen, sehe ich die Gefahr, dass jene, die homosexuell sind und Priester werden wollen, noch mehr als bisher ihre wirkliche Orientierung verbergen, die notwendige Auseinandersetzung mit ihrer Homosexualität nicht statt findet und das Risiko, als Priester ein unreifes sexuelles Verhalten an den Tag zu legen, vergrößert sich.

Das aber heißt, es gilt – auch seitens der Kirche - alles zu vermeiden, was es homosexuellen Menschen erschwert zu ihren homosexuellen Gefühlen zu stehen. Homosexuelle Gefühle sind nicht weniger echt, nicht weniger menschlich, nicht weniger wertvoll als heterosexuelle. Erst die Annahme der homosexuellen Gefühle bahnt den Weg zur psycho-sexuellen Reife und schließlich zu echter Liebe, auch homosexueller Liebe, deren Pathologisierung, so der verstorbene Kardinal Hume, durch keine Hl. Schrift gerechtfertigt werden kann.

Was die homosexuellen Priester betrifft so gilt: So sehr es nicht gerechtfertigt wäre nur noch Frauen zu Priestern zu weihen, weil ein Mann zu sein ein erhöhtes Risiko für sexuellen Missbrauch sein kann, so sehr ist es auch nicht gerechtfertigt, in Zukunft keine homosexuellen Männer mehr zu Priestern zu weihen, weil sexuell unreife homosexuelle Männer ein erhöhtes Risiko für sexuellen Missbrauch sein können. Das aber wäre ein großer Verlust für die Kirche. Die Kirche müsste dann in Zukunft auf so wunderbare Priester wie zum Beispiel Henri Nouwen verzichten.

3. Risikofaktor: Defizite im Bereich der Beziehungsfähigkeit und der Erfahrung von Intimität

Hier stellt sich die Frage, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen dem sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Priester und dem Zölibat. Eine direkte Verbindung zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch in dem Sinne, dass der Zölibat die Ursache für sexuellen Missbrauch Minderjähriger ist, lässt sich nicht nachweisen. Wer pädophil veranlagt ist und seine Veranlagung ausleben möchte, den schützt weder der Zölibat noch die Ehe davor, das zu tun.

Auf der anderen Seite gibt es neben den pädophil veranlagten Priestern nicht wenige Priester, die nicht pädophil veranlagt sind, aber aufgrund ihrer psychosexuellen Unreife pädophil handeln. Das eigentliche Problem ist hier also eine emotionale – und da auch sexuelle – Unreife, die sich dann auch in der Unfähigkeit zu tiefen Beziehungen und erwachsener Intimitätserfahrung zeigt.

Diese Priester haben Schwierigkeiten, sich mit gleichaltrigen Männern und Frauen auf eine gleichberechtigte tiefe Beziehung einzulassen. So suchen sie die Nähe von bedürftigen Kindern bzw. Jugendlichen, bei denen sie weniger Angst haben, zurückgewiesen zu werden, bei denen sie mit Bewunderung rechnen und die sie kontrollieren können. Sie verfügen in der Regel über wenig Einfühlungsvermögen gegenüber ihren Opfern und sind nicht in der Lage, die Intimsphäre eines anderen Menschen zu respektieren.

Will man weiterhin an der Verbindung von Priesteramt und Zölibat festhalten, muss man daher noch gründlicher als bisher darauf schauen, ob bei den Kandidaten für das Priesteramt die psychischen Voraussetzungen gegeben sind, dass die zölibatäre Lebensform Ausdruck einer reifen Entscheidung ist und auf eine gesunde, verantwortungsvolle und lebensbejahende Weise gelebt werden kann.

Das aber wird zur Folge haben, dass der Kreis von Männern, die dafür in Frage kommen, noch kleiner sein wird als bisher. Denn diese Lebensform setzt, ohne die Ehe herabzusetzen, gerade in dem Bereich, in dem es um die Befähigung zur Intimität und den verantwortungsvollen Umgang mit der Sexualität, die nicht genital sexuell gelebt und ausgelebt werden darf, ein Reife und letztlich auch ein Charisma voraus, die bei vielen so nicht gegeben sind.

Doch ist das tatsächlich die Lösung? Aus einer psychologischen Betrachtungsweise ginge von einer Priesterschaft, die zölibatäre und verheiratete Priester einschließt, eine positive Wirkung aus. Der ganze Bereich des Sexuellen und der Intimität hätte dann einen selbstverständlichen Platz innerhalb der Priesterschaft.

Für eine Entkoppelung von Priesteramt und Zölibat spräche auch, dass die Priester, die angetreten sind mit der Absicht, zölibatär zu leben, es dann aber doch nicht tun beziehungsweise sich nicht dazu in der Lage sehen, nicht länger vor der Alternative stehen, entweder ihr Priesteramt zu verlassen oder im Amt zu bleiben und im Geheimen in auch sexuellen Beziehungen zu leben. Ich erwähne das, weil hier ein entscheidender Lebensbereich dann in einem Dunkelraum gelebt wird, die dort praktizierte Sexualität und Intimität sich nicht wirklich entfalten kann und deswegen in besonderer Weise auch anfällig ist für psychisch und spirituell ungesunde Verhaltensweisen, die das zölibatäre Leben eher verdunkeln und in Misskredit bringen. Ganz abgesehen davon, dass daraus ein weiteres Glaubwürdigkeitsproblem der Kirche erwächst.

Meine Damen und Herren, liebe Mitchristinnen und Mitchristen, was wir im Moment in der Kirche erleben, ist so ungeheuerlich, erschüttert die Kirche so sehr in ihren Festen, dass eine angemessene Reaktion darauf nicht in irgendeiner Kosmetik bestehen kann, sondern fundamentaler Art sein muss. Der Angriff, den die Kirche augenblicklich erlebt, kommt von der Kirche selbst, kommt von innen, der Sünde, sagte Papst Benedikt vor einigen Tagen. Es gibt individuelle Sünden und strukturelle Sünden. Und beide Formen von Sünden müssen wir im Blick behalten, wenn wir nicht länger wegschauen wollen. Weil nur dann ein wirklicher Wandlungsprozess möglich ist.

Das gilt in besonderer Weise auch für den ganzen Bereich der Sexualität und der Art und Weise wie in der Kirche damit umgegangen wurde und wird. Sie muss endlich aus dem Turm befreit werden, in den sie gesperrt worden ist. Gerade auch die Sexualität in den eigenen Reihen der Kirche, wo sie oft ein unwürdiges Leben fristet: damit die Sexualität, die im Augenblick in ihrer negativsten Ausprägung so eng mit Kirche in Zusammenhang gebracht wird, auch im kirchlichen Kontext als das Geschenk Gottes gesehen und gewürdigt wird, das sie ist.

Zum Schluss

Viele von uns haben in diesen Tagen nach Rom geschaut, in der Hoffnung dort ein persönliches Wort der Entschuldigung, vielleicht sogar ein Schuldbekenntnis zu hören. Wenn Papst Benedikt in seinem Pastoralbrief an die katholische Kirche in Irland, an die Opfer gerichtet schreibt: „Im Namen der Kirche drücke ich offen die Schande und die Reue aus, die wir alle fühlen“, dann sagt er für mich damit allen Opfern sexuellen Missbrauchs durch Priester: „Ich schäme mich dafür und ich bereue das.“ Ich hätte mir gewünscht, er selbst hätte das so klar und persönlich formuliert.

Reue ist zugleich Voraussetzung für Veränderung, Verwandlung, für Versöhnung, die sich freilich nicht auf einen innerpsychischen Prozess beschränken kann, sondern in konkreten Handlungen – auch der Wiedergutmachung – niederschlagen muss. Ob sich die Kirche wirklich auf den Weg dahin befindet? Ich wünschte es ihr. Vieles von dem, was augenblicklich auf Seiten der Kirche geschieht, lässt hoffen, dass sie sich auf dem Weg dahin befindet.

Allein, meine Damen und Herren, liebe Mitchristinnen und Mitchristen, wirklich hoffen, dass die Kirche sich durch diese Krise verwandelt, können wir nur, wenn wir es beim Blick nach Rom nicht bewenden lassen. Sondern unseren Blick auf Gott richten, der allein der letztendliche Grund unserer Hoffnung ist.

Gott, den wir in diesen Tagen oft so wenig zu entdecken glauben in denen, die sich in besonderer Weise als seine Vertreter verstehen und ausgeben. Gott, den wir aber so hautnah und unüberhörbar in den Männern und Frauen entdecken, die Opfer sexuellen Missbrauchs, sexualisierter Gewalt geworden sind. In ihrem Schmerzensschrei, in ihrer psychischen und spirituellen Not. In ihnen begegnen wir Gott als Shekinah. So das hebräische Wort für Gottes weibliche, frauliche, mitfühlende, mitleidende und tröstende Anwesenheit im Menschen, der leidet.

Die Wunde ist dabei für Gott das Eintrittstor.

Die hörbare, sichtbare, wahrnehmbare, fühlbare Anwesenheit Gottes in so vielen Opfern sexuellen Missbrauchs Minderjähriger sind Provokation und Einladung zugleich für die katholische Kirche, sich einem Läuterungsprozess zu unterziehen, an dessen Ende sie selbst freiwillig in die Knie geht, nachdem sie zunächst durch den öffentlichen Aufschrei in die Knie gezwungen worden ist.

Demütiger zu werden bringt die Kirche aber nicht in Konflikt mit dem Evangelium. Es bringt sie dem Evangelium näher. Es ist eine Kirche, die der Macht, Anspruchsdenken, Geheimnistuerei entsagt und zu ihrer Menschlichkeit, Schwäche, Unvollkommenheit und Verwundbarkeit steht.

Jetzt kann die Shekinah, Gottes frauliche, mitfühlende, mitleidende und tröstende Anwesenheit, die wir oft so schmerzlich in der Kirche vermissen, in der Kirche einziehen und dort Wohnung nehmen als leidenschaftlicher Liebe und Quelle von Stärkung und Heilung. Genau das aber ist es, was die Kirche im Moment braucht, zunächst für sich selbst, um dann – hoffentlich - auch wieder für andere, für die Welt zu dem Ort zu werden, an dem sie Gottes leidenschaftliche und mitfühlende Anwesenheit tröstend und stärkend erfahren dürfen.


© imprimatur Oktober 2010
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