Norbert Scholl
Die Vergebungsbitte des Papstes

Vor 15 000 weiß (!) gekleideten Priestern hat Benedikt XVI. am 11.6.2010 auf dem Petersplatz in Rom die Opfer der vielen Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche um Vergebung gebeten: „Wir bitten Gott und alle davon betroffenen Personen inständig um Verzeihung, während wir versprechen, alles nur Mögliche tun zu wollen, damit ein solcher Missbrauch nie wieder geschehen kann.“ Der Schritt war längst überfällig. Der Papst musste sich erst gegen starke Widerstände innerhalb der vatikanischen Kamarilla durchsetzen, die das verhindern wollten.

Soweit so gut. Aber was heißt das alles genauer? Dazu einige Anmerkungen.

1. Die Vergebungsbitte geschah zum Abschluss eines „Priesterjahres“, das Benedikt 150 Jahre nach dem Tod des französischen „Pfarrers von Ars“, Jean-Baptist-Marie Vianney (1786-1859; 1925 heilig gesprochen; 1929 zum „Patron der Pfarrer“ ernannt) ausgerufen hatte. In seiner Eröffnungsbotschaft zum Beginn dieses „Priesterjahres“ hatte sich der Papst auf Vianneys Priesterbild berufen. Der Pfarrer habe vom Priestertum gesprochen, „als könne er die Größe der dem Geschöpf Mensch anvertrauten Gabe und Aufgabe einfach nicht fassen: ‚Oh, wie groß ist der Priester! … Wenn er sich selbst verstünde, würde er sterben … Gott gehorcht ihm: Er spricht zwei Sätze aus, und auf sein Wort hin steigt der Herr vom Himmel herab und schließt sich in eine kleine Hostie ein.“ Und weiter: „Ohne das Sakrament der Weihe hätten wir den Herrn nicht. Wer hat ihn da in den Tabernakel gesetzt? Der Priester. Wer hat Eure Seele beim ersten Eintritt in das Leben aufgenommen? Der Priester. Wer nährt sie, um ihr die Kraft zu geben, ihre Pilgerschaft zu vollenden? Der Priester. Wer wird sie darauf vorbereiten, vor Gott zu erscheinen, indem er sie zum letzten Mal im Blut Jesu Christi wäscht? Der Priester, immer der Priester. Und wenn diese Seele [durch die Sünde] stirbt, wer wird sie auferwecken, wer wird ihr die Ruhe und den Frieden geben? Wieder der Priester … Nach Gott ist der Priester alles! … Der Priester ist es, der das Werk der Erlösung auf Erden fortführt … Der Priester besitzt den Schlüssel zu den himmlischen Schätzen: Er ist es, der die Tür öffnet; er ist der Haushälter des lieben Gottes; der Verwalter seiner Güter … Lasst eine Pfarrei zwanzig Jahre lang ohne Priester, und man wird dort die Tiere anbeten. … Alle guten Werke zusammen wiegen das Messopfer nicht auf, denn sie sind Werke von Menschen, während die heilige Messe Werk Gottes ist.“

Benedikt erhielt für solche Worte großen Beifall aus der Ecke der Piusbrüder. Denn dieses Priesterbild entspricht exakt ihren Vorstellungen. Der Papst, so jubelten sie, erinnere „nachdrücklich an die Standesideale der Priester.“ Er antworte „auf die Krise des katholischen Priestertums nicht mit sozio-psychologischen Analysen und Argumenten, sondern spirituell mit dem großen Priestervorbild des hl. Pfarrer von Ars.“ Der Papst wünsche „eine nachhaltige, innere Erneuerung aller Priester.“ Er schlage „nicht Strukturreformen und die Schaffung ‚pastoraler Großräume’ vor, um dem Priestermangel durch praktische Lösungen begegnen zu können, sondern geht ‚in medias res’ zum Kern der priesterlichen Berufung als einem Modell priesterlicher Heiligkeit, das der heilige Pfarrer von Ars vorgelebt hat. Damit tut der Papst genau das Richtige: Stärkung der Identität und des Profils des Priesterbildes und -ideals inmitten einer von Selbstzweifeln zerfressenen Identitätskrise der eigentlichen Sendung und Berufung des Priesters. Wenn das Priesterbild wieder klar erstrahlt, wird auch wieder mit Priesternachwuchs zu rechnen sein.“

Das Schreiben des Papstes und dessen begeisterte Aufnahme bei den Piusbrüdern verraten eine bemerkenswerte, fatale Seelen und Geistesverwandtschaft zwischen Benedikt und den Piusbrüdern. Die exakt in diesem „Priesterjahr“ bekannt gewordenen Missbrauchsskandale durch zahlreiche eben dieser Priester entlarven aber auch auf geradezu brutale Weise das gänzlich Irreale dieses bei beiden hartnäckig fest sitzenden hypertrophen Bildes.

Die harten Fakten der Missbrauchsfälle konnten die Piusbrüder nicht zur Einsicht bringen und umstimmen (das darf man bei ihnen auch nicht erwarten). Aber auch bei dem als glänzenden Intellektuellen geltenden Benedikt ist das nicht gelungen – aus Gründen des Altersstarrsinns oder eines Wahrnehmungsdefizits für die höchst irdischen menschlich-allzu menschlichen Realitäten? Das beweisen Benedikts erneute Lobeshymnen auf den Pfarrer von Ars in der Abschlussansprache: „Vom Pfarrer von Ars haben wir uns führen lassen, um Größe und Schönheit des priesterlichen Dienstes neu zu verstehen. Der Priester ist nicht einfach ein Amtsträger, wie ihn jede Gesellschaft braucht, damit gewisse Funktionen in ihr erfüllt werden können. Er tut vielmehr etwas, das kein Mensch aus sich heraus kann: Er spricht in Christi Namen das Wort der Vergebung für unsere Sünden und ändert so von Gott her den Zustand unseres Lebens. [...] Gott bedient sich eines armseligen Menschen, um durch ihn für die Menschen da zu sein und zu handeln.“ Vom intensiven Suchen nach einem neuen, zeitgemäßen Priesterbild keine Spur.

2. Der Papst findet in seinen Ausführungen sogar einen Hauptverantwortlichen für die Missbrauchsfälle. Das sind nicht etwa die schuldig gewordenen Priester, schon gar nicht der Zölibat oder die mangelhafte psychische Reife der priesterlichen Täter. Es ist – man höre und staune! – der Satan höchst persönlich: „Es war zu erwarten, dass dem bösen Feind dieses neue Leuchten des Priestertums nicht gefallen würde, das er lieber aussterben sehen möchte, damit letztlich Gott aus der Welt hinausgedrängt wird. So ist es geschehen, dass gerade in diesem Jahr der Freude über das Sakrament des Priestertums die Sünden von Priestern bekannt wurden - vor allem der Missbrauch der Kleinen, in dem das Priestertum als Auftrag der Sorge Gottes um den Menschen in sein Gegenteil verkehrt wird.“ Also sind die Priester-Täter eigentlich gar keine Täter, sondern auch Opfer, Opfer des „bösen Feindes“. Und man sollte sie dann vielleicht nicht zum Psychotherapeuten schicken, sondern zum Exorzisten.

3. Jetzt kann es eigentlich kaum noch verwundern, dass die Worte des Papstes sich (wieder einmal) nicht an die Missbrauchs-Opfer richten, sondern an die Täter, die zu armen Opfern teuflischer Verführungen geworden sind. Benedikt bittet „Gott und die betroffenen Menschen inständig um Vergebung“ und verspricht, „alles tun zu wollen, um solchen Missbrauch nicht wieder vorkommen zu lassen.“ Und worin besteht nun dieses „alles“? Darin, „dass wir bei der Zulassung zum priesterlichen Dienst und bei der Formung auf dem Weg dahin alles tun werden, was wir können, um die Rechtheit der Berufung zu prüfen, und dass wir die Priester mehr noch auf ihrem Weg begleiten wollen, damit der Herr sie in Bedrängnissen und Gefahren des Lebens schütze und behüte.“ Es geht also vor allem um die Behebung des Image-Schadens der Kirche. Was mit den Opfern geschieht und wie sie mit dem Geschehenen fertig werden sollen, ist für den Papst offenbar nicht von primärem Interesse.

4. Letztendlich gewinnt Benedikt den Missbrauchsskandalen sogar noch eine positive Seite ab. Er betrachtet „das Geschehene als Auftrag zur Reinigung, der uns in die Zukunft begleitet und der uns erst recht die große Gabe Gottes erkennen und lieben lässt. So wird sie zum Auftrag, dem Mut und der Demut Gottes mit unserem Mut und unserer Demut zu antworten.“ „Reinigung“ ist eines der Lieblingsworte Benedikts, mit dem er seine Aufgabe als Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche umschreibt. Er lässt aber offen, was er genau damit meint. Er sagt nicht, wovon die (römisch-katholische) Kirche „gereinigt“ werden soll. Vielleicht von den Altlasten eines längst überholten, in keiner Weise mehr zeitgemäßen Priesterbildes à la Pfarrer von Ars? Von der im 13. Jahrhundert nicht nur aus religiösen und stichhaltigen theologischen Gründen eingeführten Zölibatsverpflichtung? Von einer autoritären, monokratischen und hierarchischen Organisationsstruktur der römischen Kirche? Von einer bewusst und billigend in Kauf genommenen Versteppung der Pfarreien um eines faktisch längst unterhöhlten Priesterbildes willen? Von (s)einer permanenten Weigerung, dem weltweiten, auch von immer mehr Bischöfen vorgetragenen Wunsch nach grundlegenden Reformen in der Kirche zu entsprechen?

Es wäre an der Zeit, dass den schönen Worten auch gute Taten folgen.


© imprimatur Oktober 2010
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