Christoph Gellner
Poet in der Nähe Jesu
Heinrich Böll: Scharfer Kritiker der Kirche aus dem Geist Christi

Wie kein anderer Autor gehört er zur Geschichte der so genannten alten Bundesrepublik: Heinrich Böll (1917-1985) war Schriftsteller von Weltgeltung und unermüdlicher Mahner. Für den Literaturnobelpreisträger stand die Menschwerdung der Menschen im Zentrum.

"Für alle jene, die mit dem Ärmelaufkrempeln der Nachkriegsjahre ihr Erinnern nicht zum Erlöschen gebracht hatten, sondern den Wahn, die Verführung, das Elend, die Scham, die Schuld und die Trauer so schnell nicht vergessen konnten, ist Heinrich Böll ein Glücksfall gewesen, weil er ihr Empfinden in Worte fasste, sie in ihrer Haltung bestärken konnte und ihnen das Gefühl der Vereinzelung nahm", resümiert Günter de Bruyn, bis 1989 innerhalb ummauerter Grenzen lebender Ost-Berliner Diasporakatholik, Bölls literarische und moralische Wirkkraft.

"Seine Radikalität", sagt die befreundete Publizistin Carola Stern über ihn, "wurzelt in seiner Güte, seiner Empfindsamkeit und Religiosität." In der Tat gibt es kaum eine Äußerung, in der nicht der christliche Hintergrund aufleuchtet, vor dem Böll dachte, sprach und schrieb. Die Bezeichnung "christliche Dichtung" empfand er indes als zu eng und lehnte sie für sein literarisches Schaffen dezidiert ab.

Kaum eine Äußerung, in der nicht sein christlicher Hintergrund aufleuchtet

Bölls 25. Todestag am 16. Juli 2010 - im selben Jahr erscheinen die letzten der auf 27 Bände angelegten neuen, kommentierten Gesamtausgabe seiner Werke - macht mit dem zeitgeschichtlichen Abstand auch die tiefgreifend veränderte gesellschaftlich-religiöse Situation bewusst. Gewiss, die für Böll typische Verschränkung von Regionalismus und konfessioneller Religiosität findet sich auch in zeitgenössischen Romanen wie Ulla Hahns Das verborgene Wort (2001) oder Hanns-Josef Ortheils Die Erfindung des Lebens (2009). Wie Ralf Rothmann vergegenwärtigen sie eindringlich katholische Kindheiten der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Im Gegensatz zu Böll und seiner Generation zeigt sich bei ihnen jedoch eine "neue Unbefangenheit" (Georg Langenhorst) im Umgang mit Religion. Was nicht zuletzt daher rührt, dass die kulturbestimmende Macht institutionalisierter Religion unübersehbar abgenommen hat.

Bölls Beziehung zum Kirchenchristentum seiner Zeit war äußerst spannungsgeladen. Mit Walter Dirks, Friedrich Heer und Carl Amery zählte er zu den Linkskatholiken (auch wenn Böll selber diese Bezeichnung für sich ablehnte). Amtskirche und herrschenden Milieu-Katholizismus unterzog er immer wieder harscher Kritik. 1976 trat er aus der öffentlichen Körperschaft Kirche aus, fühlte sich jedoch weiterhin dem mystisch-spirituellen Corpus Christi zugehörig. Der Maler und katholische Pfarrer Herbert Falken, der Böll im Sterben begleitete und kirchlich beerdigte, fand den Sterbenden nicht von ungefähr mit der Bibel in der Hand. Falken bezeugt, wie intensiv sich Böll gerade in seinen letzten Lebensjahren mit dem Mann aus Nazaret beschäftigte. Er ist die mehr oder weniger deutliche Bezugsgestalt nahezu aller Geschichten Heinrich Bölls. Zu Recht nannte ihn der befreundete evangelische Pastor Heinrich Albertz "Poet in der Nähe Jesu".

Gegen den Strich

Der Bibel kommt in Bölls Erzählkosmos schon darum zentrale Bedeutung zu, weil sie, oft "gegen den Strich" gelesen, zu beunruhigenden, ja, entlarvenden Pointen zugespitzt, seiner aufs Jesuanische konzentrierten Kirchen- und Gesellschaftskritik religiös-politische Tiefenschärfe verleiht. Wichtig wurden schon früh die frommen Kirchenrebellen des französischen Renouveau catholique, Léon Bloy, Georges Bernanos, François Mauriac, Charles Péguy und Paul Claudel. Deren herrschaftskritischer Katholizismus musste den jungen Kölner Schreinersohn umso mehr faszinieren, je stärker er in Distanz sowohl zum Hitlerregime als auch zur katholischen Amtskirche geriet.

Der literarische Durchbruch gelang Böll 1953 mit dem Roman Und sagte kein einziges Wort. Er erzählt von einem ausgebombten deutschen Ehepaar, das unter den bedrückend engen Wohnverhältnissen der Nachkriegstrümmerzeit an den sozialen Widersprüchen des beginnenden Wirtschaftswunders leidet. Mit dem titelgebenden Negrospiritual rückt Böll ihr Leiden in Analogie zur Passion Christi. Der Verweis auf "den Menschgewordenen" in Niedrigkeit hat eine eminent kirchen- und christentumskritische Funktion. Ist er doch die Instanz, von der her das Versprechen umfassender Menschwerdung gegenüber der "munter sich restaurierenden Gesellschaft besitzender und besitzverteidigender Christen" eingeklagt wird, die diese Menschwerdung immer wieder verhindern.

Den Eheleuten sind weitere Randfiguren der Gesellschaft zugesellt, die Religion wie selbstverständlich praktizieren. Im Schatten der Kathedrale treffen sie sich in einer Imbissstube, in der die jesuanische Mahlgemeinschaft inmitten der Nachkriegstrümmerlandschaft wiederkehrt. Darin scheint das Bild einer anderen Kirche auf, die für Böll die wahre Kirche Jesu Christi ist, der sich in besonderer Weise für Schwache, Gebrochene und Versager einsetzte. In einer für Böll typischen Vermischung von Sakramentalität und Profanität gewinnt eine Art Gegenkirche der kleinen Leute, der Gedemütigten und doch im Sinne der Bergpredigt Lebenden Gestalt. Ihnen werden die Amtswalter gegenübergestellt, deren Glaubenspraxis sich weithin in äußerlichem Prunk erschöpft. Schon früh prangert Böll die sinnentleerten Bildungsfloskeln und allzu routinierten Konventionen eines bloß ästhetischen Kulturkatholizismus an. Brillante Beispiele seiner ätzenden Satire sind Nicht nur zur Weihnachtszeit (1952) und Doktor Murkes gesammeltes Schweigen (1958).

Heftige Kontroversen

Ansichten eines Clowns (1963) ist neben Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974), die die Auseinandersetzung mit der Springer-Presse und den Einsatz für eine Verständigung mit den RAF-Häftlingen spiegelt, Bölls umstrittenster Roman. Nach seinem Erscheinen kam es zu monatelangen heftigen Kontroversen. Geißelten kirchennahe Kritiker das Buch als "hasserfülltes antikatholisches Pamphlet", sahen andere darin eine "um absolute Wahrhaftigkeit bemühte Bestandsaufnahme".

Mit seinem Anti-Helden Hans Schnier greift Böll auf die literarische Figur des Narren zurück, um aus der Außenseiterperspektive eines unangepassten Berufskomikers Gesellschaft und Kirche den Spiegel vorzuhalten. In einer Mischung aus Aggressivität und Melancholie wird das rheinische Klüngel-Milieu der sich "christlich" Etikettierenden geschildert, mit der Hitlerlei haben sie sich ebenso arrangiert wie jetzt mit Wirtschaftswunder und Konsumismus. Treffsicher kritisiert Böll insbesondere die Interessensvermengung von CDU-Staat, katholischer Hierarchie und Verbandskatholizismus.

Sechs Jahre hat Hans Schnier, Abkömmling einer rheinländischen Braunkohlendynastie, schwarzes Schaf der Familie und "keiner Kirche steuerpflichtig", mit Marie zusammengelebt, der Tochter des kommunistischen Schreibwarenhändlers Derkum. Nicht ohne Druck eines Kreises "fortschrittlicher Katholiken", unter deren Einfluss Marie geriet, hat sie die Beziehung mit Schnier abgebrochen. Den "Zustand der permanenten Sünde" gibt sie zugunsten der kirchlich legitimierten Ehe an der Seite des erfolg- und einflussreichen Katholikenfunktionärs Züpfner auf. Schnier, der diesen Treue- als Ehebruch wertet, versucht "seine Frau" zurückzuholen. Ihre Liebe hat für ihn den Charakter einer unauflöslichen sakramentalen Verbindung, die von niemandem in Frage gestellt werden dürfe, schon gar nicht von kirchlichen Glaubensfunktionären, die ja auf die Selbstspendung des Ehesakraments durch die Eheleute soviel Wert legen.

Gegen die etablierten Kirchenchristen

Dem Buch ist ein Christusmotto vorangestellt, das auf den Propheten Jesaja zurückgeht, den Paulus im Römerbrief zitiert: "Gerade die werden sehen, denen von Ihm noch nichts verkündet ward, gerade die verstehen, die noch nichts vernommen haben." Gerichtet ist dies gegen die etablierten Kirchenchristen, die allzu sicher zu wissen meinen, dass sie "Ihn" verstanden haben. Die paradoxe Pointe wird im Romangeschehen durch ein weiteres Bibelzitat untermauert: "Die Kinder dieser Welt sind nicht nur klüger, sie sind auch menschlicher und großzügiger als die Kinder des Lichts." (Lukas 16,8)

Einmal mehr realisiert sich die Sache Jesu am Rande. Kontrastiert Böll doch die Menschlichkeit, Großzügigkeit und Herzlichkeit der außerhalb der Kirche Stehenden mit der Engherzigkeit pharisäerhafter Insiderchristen, die "Ihn" selbstgewiss auf ihrer Seite wähnen. Dass es ausgerechnet ein Clown ist, ein "unkirchlich-ungläubiger" Harlekin, der zum Verfechter der Sache Jesu wird, verweist auf einen wesentlichen Zug christlicher Existenz, der in der Tradition christlichen Narrentums immer lebendig geblieben ist.

Ja, eine kongenialere Maske ist kaum denkbar als die eines Clowns, unter der sich in einer zeitgenössischen Stellvertreterfigur die närrische Umkehrung zugunsten der Niedrigen und Geringen, der Zollgauner, Dirnen, Ehe- und Gesetzesbrecher vergegenwärtigen lässt. Mit ihnen solidarisierte sich Jesus, zu ihren Gunsten konnte er das Gesetz übergehen, die un-frommen Frommen attackieren, die Selbstgerechten und Moralischen ins Unrecht setzen und ihre Engherzigkeit bloßstellen. Schniers Polemik gegen die unmenschliche Verrechtlichung von Liebe, Erotik und Sexualität, seine Frage, wo denn die "Diagonale zwischen Gesetz und Barmherzigkeit verlaufe" ist wie die in Bölls Romanen immer wieder grundsätzlich aufgeworfene Problematik des Umgangs mit Menschen, die sich nicht der kirchlichen Ordnung und Moral fügen, zutiefst jesuanisch.

Wir stoßen hier an den tiefsten Punkt von Bölls Literatur- und Christentumsverständnis. Berührt sich doch Bölls "Ästhetik des Humanen" (ein Begriff seiner Frankfurter Poetikvorlesungen) auf engste mit seinem Christentumsverständnis, das mit Narrentum mehr gemeinsam hat als mit Herrentum. Was der Herrschaftsvernunft und dem Besitzdenken "abfällig" ist, hielt er für "erhaben". "Niedrig" erscheinen die bevorzugten Gegenstände seines Schreibens, die elementaren Themen seiner "Poesie des Alltags", weswegen sich Böll anlässlich der Nobelpreisvorlesung 1972 mit Recht jener internationalen gegenklassischen, gegenidealistischen Literaturströmung zurechnete, die sich für "ganze Provinzen von Gedemütigten, für menschlichen Abfall Erklärten" zuständig weiß.

Närrische Umwertung

Spiegelt sich darin nicht deutlich der für Jesus von Nazaret charakteristische "Zug nach unten, zu den Armen und Verachteten", wie Ernst Bloch diese närrische Umwertung aller gängigen Maßstäbe und Verhältnisse beschrieb? Was klein ist, wird groß. Und was niedergedrückt, kommt nach oben. Eine einzigartige Verdichtung von Bölls Christusverständnis stammt aus dem Jahr 1973: "Mir scheint die Trennung des Jesus vom Christus wie ein unerlaubter Trick, mit dem man dem Menschgewordenen seine Göttlichkeit nimmt und damit auch allen Menschen, die noch auf ihre Menschwerdung warten ... An der Gegenwart des Menschgewordenen werde ich nie zweifeln. Aber Jesus allein? Das ist mir zu vage, zu sentimental, zu storyhaft, zu sehr eine rührende 'Geschichte'."

Im Neuen Testament steckte für Böll "eine Theologie der - ich wage das Wort - Zärtlichkeit, die immer heilend wirkt: durch Worte, durch Handauflegen, durch Küsse, eine gemeinsame Mahlzeit - das alles ist total verkorkst und verkommen durch eine Verrechtlichung, durch das Römische, das Dogmen, Prinzipien daraus gemacht hat, Katechismen."

Wie keine andere seiner Frauenfiguren lässt Leni Gruyten, die Titelfigur von Gruppenbild mit Dame (1971), etwas von der Zärtlichkeit und Galanterie Christi spürbar werden, die Böll im Umgang der Kirche mit den Menschen oft schmerzlich vermisste. In ihrer eigentümlichen Verbindung von Sanftheit und Durchsetzungskraft, Religiosität und Sinnlichkeit steht sie im Ruf einer fast heilig zu nennenden Menschlichkeit. Man müsse den Menschen klar machen, so Böll, "wie heilig ihr Alltag ist, möglicherweise sogar die Schuhe, die sie anziehen, und die Strümpfe, die sie waschen, und das Brot, das sie essen, bis zum Erotischen und sogar Sexuellen. Jetzt nicht heilig im Sinne von Kult, sondern von menschgewordener Menschlichkeit."

Mit den von realen Lebensvollzügen abgelösten kirchlichen Sakramenten kommt Leni nicht zurecht. Dennoch (oder vielleicht gerade darum) hat sie so etwas wie eine natürliche sakramentale Ader: "Wenn es um Brot oder Wein ging, um Umarmungen, Handauflegungen, wenn Irdisch-Materielles im Spiel war, hatte sie keine Schwierigkeiten. Es machte ihr nicht die geringsten Schwierigkeiten, daran zu glauben, dass jemand, indem man ihn mit Speichel bestreicht, geheilt werden kann."

Sakrales säkularisiert, Säkulares sakralisiert

Böll selbst weist auf die Notwendigkeit eines "neuen Begriffs für das Sakramentale", "auf neue Formen des Zusammenseins" hin. Im Blick auf seine Prosa spricht er von Versuchen, "das, was man früher Sakramente genannt hat, neu zu definieren durch Beispiele, durch Versinnlichung". Wirkliche Heilung könne "immer nur im Zusammenhang mit konkreten, sinnlichen Erlebnissen von Brot und Wein und Liebe und Brüderlichkeit" erfahren werden. Wie in keinem anderen von Bölls Romanen erscheint in Gruppenbild mit Dame Sakrales säkularisiert und Säkulares sakralisiert. Das Spirituelle verleiblicht sich im Materiellen wie das Göttliche im zwischenmenschlich Sinnlichen. Der Roman, der Partei ergreift für die "Abfälligen" der Gesellschaft, für Ausgegrenzte und Leistungsverweigerer, wurde zum Bestseller und trug maßgeblich bei zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Böll 1972.

"Ich glaube an Christus, und ich glaube, dass 800 Millionen Christen auf dieser Erde das Antlitz dieser Erde verändern könnten", umriss Heinrich Böll schon in den Fünfzigerjahren das alternativlos Besondere des Christseins, das für sein Denken, Schreiben und Handeln bis zuletzt maßgeblich bleiben sollte. "Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und mehr noch als Raum gab es für sie: Liebe für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen ..."


© imprimatur Oktober 2010
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