Karl-Heinz Ohlig
Von Bagdad nach Merw (VII) [1]
Geschichte, rückwärts gelesen

In den letzten Folgen wurde kurz dargelegt, dass es für die Anfänge des Islam keine belastbaren zeitgenössischen Zeugnisse gibt und dieser sich erst gegen Ende des 8. und im 9. Jahrhundert aus der koranischen Bewegung heraus als neue Religion gebildet hat. Der Koran war ursprünglich keine islamische Schrift, sondern dokumentiert ein frühes syrisches und arabisches Christentum.

4.4 Literarische und religionsgeschichtliche Quellen des Koran

Die quantitativ recht umfangreiche Wiedergabe biblischer Erzählungen sowie die sprachliche und theologische Anlehnung oder Interpretation biblischer Texte und biblischer Apokryphen ist bekannt und nicht mehr umstritten. Wie ausgeführt, zeigen neuere exegetische Untersuchungen aber detailliert, wie tief reichend koranische Aussagen mit den biblischen Texten verwoben sind. Aber es gibt auch auf diesem Gebiet noch neue Entdeckungen, wie z.B. die Identifizierung der „ersten (Buch)Blätter, die (Buch)Blätter Abrahams und Mose“ im Koran (S. 87,18.19) als das „Testament Abrahams“, die „Apokalypse Abrahams“ und das „Testament des Mose“ durch Geneviève Gobillot.[2]

G. Gobillot konnte weitere literarische Einflüsse der spätantiken Literatur auf koranische Texte und Gedankengänge aufzeigen: Das neuplatonisch-gnostische Corpus Hermeticum und der Neuplatoniker Porphyrios (gest. um 305) waren den Schreibern des Koran bekannt und wurden verwendet[3] , zudem die Institutiones des Laktanz (gest. nach 317)[4] , Lehrer des Konstantinsohnes Crispus; in dem vorliegenden Sammelband weist sie die Nutzung der Pseudo-Klementinen und, in einem Beitrag, der im kommenden Jahr veröffentlicht wird, des Alexanderromans[5] , des Akhikar und weiterer Beispiele nach[6]. Volker Popp hat Bezüge zu Tertullian aufgezeigt[7]. Da diese Art der Untersuchungen erst in jüngster Zeit ernsthaft begonnen wurde, werden wohl in Zukunft noch weitere literarische Quellen festgestellt werden.

Darüber hinaus lassen sich im Koran sehr viele Bezüge zu den damaligen religiösen, vor allem gnostischen Richtungen feststellen. Diese betreffen eine Fülle von Material und Motiven, wie sie damals seit Jahrhunderten im Vorderen und Mittleren Orient verbreitet waren, die hier nicht alle genannt werden können. Dabei ist aber auffällig, dass diese Übernahmen zwar in einigen Fällen zu Veränderungen der aus der biblischen Tradition stammenden Raster führten – so z.B. für die Vorstellung des Propheten[8] oder zu Varianten der biblischen Schöpfungserzählungen[9]. Aber in den meisten Fällen führt die Rezeption von Bildvorstellungen oder Topoi nicht dazu, die Theologie des Koran grundsätzlich zu verändern, etwa bei der Verwendung von gnostischen Motiven hin zu einem dualistischen Denken (die eigentliche und gute Realität ist das Geistige, das Materielle ist minderwertig und böse). Meist werden die Bildvorstellungen oder Motive mehr positivistisch ins Spiel gebracht, ohne – wenn man so will – stärkere theologische „Nebenwirkungen“.

Der Grund hierfür ist wohl in dem Umstand zu sehen, dass z. Zt. der Entstehung der koranischen Sprüche die gnostischen Richtungen nicht mehr, wie etwa noch vom 2. bis zum 4., ein wenig auch noch im 5. Jahrhundert, eine ernsthafte Bedrohung für das Christentum waren. Dieses hatte vielmehr die Gnosis prinzipiell „überwunden“ bzw. in sich aufgesogen und konnte zur (christlichen) Tagesordnung übergehen. Der Preis hierfür war allerdings, dass nicht wenige gnostische Raster, Motive und Bildvorstellungen – von ihrem ursprünglichen tief reichenden Dualismus befreit – in den christlichen Gemeinden und ihrer Theologie weiterlebten. Es scheint so, dass der Koran in dieser Situation entstanden ist, in der eine ideologische Auseinandersetzung mit der Gnosis nicht mehr notwendig war. Hierzu einige Beispiele:

Der „Vorhang“ aber ist ein Motiv aus gnostischen Traditionen, das die Scheide zwischen dieser und der göttlichen Welt symbolisiert. In der mandäischen Rechten Ginza wird der Vorhang zweimal erwähnt:

(1) (Vorher schafft der Demiurg Ptahil, eine Emanation aus dem guten Gott, der sich aber freventlich der Welt der Finsternis zuwendet, die Welt [eine Mischung aus geistiger und materieller Welt, gut und böse]) „Es entstand Trockenes, / und eine Verdichtung verdichtete sich und fiel ins Wasser. / Ein Vorhang erhob sich / stieg auf und stellte sich am Herzen des Himmels auf. / ...“[15]

(2) „Als Ptahil dies sagte, / wurde ihm das Haus weggenommen. / Weggenommen wurde ihm das Haus / und man setzte ihn in eine große Fessel. / Man fesselte ihn mit einer Fessel, / bis daß der Tibil vergeht. / Denn er veränderte die Rede seiner Väter / und hielt nicht an der Rede seiner Väter fest. / Er tat, was sein Vater ihm nicht befohlen, / deshalb setzte man ihn in schwere Bande. / Ein Vorhang fiel herab / zwischen ihn und seinen Vater Abathur . .../ Man (oder: Es, das Leben) sandte Hibil-Ziwa, / um diese Welt in Ordnung zu bringen, / die Werke in Ordnung zu bringen, / die Ptahil hervorgerufen und nicht zu Ende geführt hatte. ...“[16]

Versteht man in S. 53,13.16 „Vorhang“, fügt sich diese Vorstellung zu den beiden anderen Aussagen vom „Horizont“. Wenn das Bild aus der Gnosis übernommen ist, scheinen doch die damit symbolisierten dualistischen Implikationen im Koran keine Rolle zu spielen.[17]

Offensichtlich spricht der Koran Hörer an, die in diesen lebendigen Traditionen standen. Er greift ihre Vorstellungen auf und entfaltet auf diesem Hintergrund das, was zu sagen er sich verpflichtet sieht; er reagiert auf aktiv vertretene Positionen. Ihn ohne Rekurs auf diese Vorgaben auslegen und verstehen zu können, ist unmöglich. Wenn diese Mühsal des religions- und literaturgeschichtlichen Nachforschens nicht geleistet wird, wird der Koran zur bloßen Projektionsfläche eigener Vorstellungen – seien sie muslimischer oder westlich-„wissenschaftlicher“ Art. Er selbst versinkt dann im Dunkel – das Gegenteil seiner postulierten kanonischen Geltung.

4.5 Das „Emergenzterrain“ (Geneviève Gobillot) des Koran
4.51 Die Hinweise auf Merw

Erst auf dem Hintergrund von Sprache und Theologie des Koran sowie seiner literarischen und religionsgeschichtlichen Bezüge kann darüber diskutiert werden, wo und wann er entstanden ist; denn man muss bedenken, „dass jeder heilige Text, unbeschadet seiner universellen Botschaft, durch sein Ursprungsmilieu bestimmt ist“[18]. Dieses müsste sich dann auch anhand des Textes erschließen lassen.

Dieses kulturell, räumlich und zeitlich, wenigstens prinzipiell, umgrenzbare Feld, in dem der Koran entstanden sein kann, nennt G. Gobillot das „Ermergenzterrain des Korantextes.“[19] Sie fragt: „Ist es möglich, ein Milieu zu umgrenzen, innerhalb dessen die Gesamtheit der Referenzen (d.h. der von ihr festgestellten literarischen Bezüge, Verf.) in Umlauf gewesen sein könnte ...?“[20]

Diese Frage ist, negativ, mit Sicherheit zu beantworten: Die koranischen Sprüche können nicht auf der Arabischen Halbinsel, genauer: in Mekka und Medina, entstanden sein. Dagegen sprechen so gut wie alle Eigentümlichkeiten der Texte, gänzlich eindeutig aber die zahlreichen literarischen und religionsgeschichtlichen Hintergründe. Wie soll in einer Stadt wie Mekka, selbst wenn sie – was nicht zutrifft – so prächtig gesehen wird, wie der Traditionelle Bericht sie schildert, diese Fülle von Literatur dort verbreitet gewesen sein? Wie soll diese dort so bekannt gewesen sein, wie der Koran es bei seinen Hörern voraussetzt, indem er auf ihre Vorstellungen antwortet? Wie soll ein Prophet, der angeblich des Schreibens unkundig war, alle diese vielfältigen Traditionen gekannt und mit ihnen umgehen gekonnt haben? Wie soll ein Prophet bei seinen umtriebigen Beschäftigungen in Medina und der dortigen relativ undifferenzierten Kultur die Möglichkeiten besessen und auch einen Anlass dafür gesehen haben, solche Sprüche zu formulieren und mit ihnen rezipiert zu werden? Was ihn und die Leute dort möglicherweise interessiert hätte, kann man in der Sira nachlesen.

Scheiden also Arabien und ein dort lebender Prophet aus, ist dennoch eine positive Antwort auf die Frage nach dem Emergenzterrain nur tastend und unter Vorbehalten zu geben. Mit Gewissheit lässt sich zwar die These vertreten, dass der Koran im ostsyrischen Raum seine Ursprünge hat. Hierfür sprechen die ostsyrische „dialektale“ Prägung der aramäischen Anteile des Koran, wie Christoph Luxenberg aufgezeigt hat, sowie die Theologie des Koran und die zahlreichen Begriffe, Motive und Raster aus der persischen Tradition.

Für diese Groblokalisierung sprechen viele weitere Einzelheiten, von der Erwähnung von Pflanzen, Früchten und Gärten bis hin zu der durchgängigen Bezeichnung der Christen als nasarâ im Koran (Nazarener, Nasoräer?[21] ). In einer Inschrift des zoroastrischen Priesters Kartir (letztes Viertel des 3. Jahrhunderts n.Chr.) wird „unter den damals im westiranischen Bereich ansässigen Christen ... zwischen griechisch-sprechenden (krestyane) und syrisch-sprechenden (nasraye) Gemeinden“ unterschieden[22]. Diese (Selbst-?) Bezeichnung der syrischen Christen als nasraye, im Koran nasarâ, im Unterschied zu den griechischen Christen (krestyane, von griechisch christianoi), scheint im Umfeld des Koran die vorherrschende Namensgebung gewesen zu sein. Griechisch und syrisch sprechende Gemeinden wurde auf der Synode von 410 in Seleukia-Ktesiphon zu einer großen ostsyrischen Kirche vereinigt, so dass es z.Zt. der Entstehung des Koran, vor allem im Osten, wohl vorwiegend das Christentum der nasarâ gab.

Aber dieser Raum „Ostiran“ ist recht groß. Er reicht bis in die östlichen Regionen des Perserreichs, von der Persis im Süden bis in Gebiete des heutigen Afghanistan und Turkmenistan im Norden (und nach Indien sowie, über die Seidenstraße, nach China hinein). Weil es in der Sassanidenzeit immer wieder Deportationen westsyrischer und mesopotamisch-syrischer Bevölkerung in den Osten gegeben hatte –[23] „Zehn- oder Hunderttausende von Christen aus Syrien, Kilikien und Kappadokien (allein, Verf.) unter Sâbur I.“[24] –, die, soweit sie christlich war, eine vornizenische Theologie[25] vertrat, war diese Grundlage des koranischen Denkens in einer Reihe von Gebieten verbreitet. Dies wird auch deutlich in ostiranischen Münzprägungen mit dem abd-allah-Titel für Jesus, im Gegensatz zu seiner Bezeichnung als Gottessohn, seit dem Jahr 41 nach den Arabern (663 n.Chr.)[26]. Lässt sich hier eine spezifischere regionale Zuordnung ausmachen?

Betrachtet man über die vornizenische Theologie hinaus im Koran die Fülle der literarischen Verweise und das offenkundige Nebeneinander verschiedenster religiöser Richtungen, kommen auf keinen Fall dünn besiedelte oder nomadisch genutzte Landstriche, sondern nur dynamische Ballungsräume in Frage. Welcher dicht besiedelte Raum könnte die Heimat für die koranischen Anfänge sein, zu deren erkennbaren Spezifika neben dem vornizenischen Konzept die Bezeichnung Jesu (auch) als muhammad gehörte? Dieser Hoheitstitel Jesu ist ansonsten im Christentum eher selten, vom Sanctus der Messe einmal abgesehen[27] , verwendet worden. Zwar kennt der Koran ein breiteres Spektrum an Hoheitstiteln Jesu, aber immerhin wird muhammad viermal erwähnt. Die Frage nach der Herkunft des Koran lässt sich nicht durch Spekulation entscheiden, sondern nur durch Spuren, die noch irgendwie nachweisbar sind. Was aber haben wir an solchen tatsächlichen Hinweisen, die eine konkretere Annäherung möglich machen?

Zunächst einmal ist festzustellen, dass die koranische Bewegung und auch das Spezifikum der muhammad-Christologie in einem Zusammenhang mit ’Abd al-Malik zu sehen ist; dies bezeugen seine Münzprägungen, die Inschrift im Felsendom in Jerusalem und die Anfänge der Schreibung koranischer Texte in arabischer Schrift. ’Abd al-Malik aber ist nach dem Zeugnis einer Münze aus dem Jahre 75 (696 n.Chr.) ein Marw-an[28] , was nicht, wie es in der späteren islamischen Tradition im Sinne eines ethnologischen und genealogischen Denkens verstanden wurde, bedeutet, dass er ein Marwanide war, also der Sippe eines Marwan zugehört, passenderweise mit mekkanischer Abstammung. Sondern er war einer der Leute aus Merw (Marw, Merv, Marv), im heutigen Südturkmenistan gelegen; denn die Endung -an ist persisch zu verstehen und bedeutet „Leute von ...“, oder „aus ...“[29].

Eine weitere Beobachtung, die auf nachprüfbaren Zeugnissen beruht, kommt hinzu: Im Zusammenhang mit der koranischen Bewegung sind Prägungen mit dem Motto MHMT (arabisch: muhammad) belegt aus den Jahren 38, 40 und 52 nach den Arabern; die Prägestätten liegen in zeitlicher Abfolge „an Straßen von Khûzistân nach Chorasan“[30] , ein Beleg für „die Wanderung von ’Abd al-Maliks Bewegung von Ost nach West“[31] , in deren Verlauf diese Münzen geprägt wurden. ’Abd al-Malik, dessen Herrschaft endgültig im Jahr 60 nach den Arabern begonnen hatte, ließ im Jahre 66 nach den Arabern (687 n.Chr.) in Bischapur eine Münze prägen, die diesen MHMT erstmals als rasûl allah (Gesandter/Apostel Gottes) bezeichnet[32]. Die christliche Ikonographie auf den Münzen sowie die Inschrift im Felsendom sagen aus, wer dieser muhammad, der Gesandte Gottes, war: Der Knecht Gottes und Messias Jesus, Sohn der Maria (so die Inschrift im Felsendom)[33]. Eine dritte Spur, die auf Merw hinweist, findet sich wohl, wie oben ausgeführt, im Koran in Sure 2,158.

Diese spärlichen Zeugnisse sind bisher die einzigen überprüfbaren Hinweise auf die genauere geographische Herkunft der muhammad-Bewegung. Demnach wären ihre Anfänge im Gebiet von Merw, also in der Margiana (griechischer Name der persischen Provinz von Margush, von altiranisch Margu, „Grasland“, ein von Bergen umgrenztes Gebiet mit der Hauptstadt Merw im heutigen Süd-Turkmenistan) zu suchen. Zu fragen ist also, ob in diesem Raum zum einen ein urbanes Ballungszentrum war, in dem die Vielfalt der im Koran dokumentierten spätantiken Literatur und religiösen Richtungen verbreitet gewesen sein kann. Zur Beantwortung dieser Frage muss auch das der Margiana unmittelbar benachbarte Baktrien (griechische Bezeichnung für die Provinz um das heutige Balch in Nordost-Afghanistan) mit einbezogen werden, mit dem die Margiana über lange Epochen in der Geschichte eine Verwaltungseinheit bildete. Hierzu sind einige Vorbemerkungen zur geschichtlichen und kulturellen Entwicklung in diesem Raum nötig.

4.52 Merw, Margiana und Baktrien

Seit den 1970er Jahren wurde durch Ausgrabungen, immer wieder durch politische und militärische Umwälzungen unterbrochen und behindert, in diesem Großraum eine bisher unbekannte bronzezeitliche Hochkultur entdeckt, die weite Gebiete in dem heutigen Turkmenistan, in Nord-Afghanistan, im südlichen Usbekistan und im westlichen Tadschikistan umfasste. Weil viele ihrer Städte an Oasen erbaut waren, die an Flussläufen oder in Flussdeltas lagen, wird sie als „Oasenkultur“ bezeichnet; andere Benennungen sind „Oxus-Kultur“, „Murghabo-baktrische Kultur oder – im angelsächsischen Raum – „Bactria-Margiana-Archaeological Complex“.

Vom späteren 3. Jahrtausend bis etwa 1.700 v.Chr. war sie eine blühende Hochkultur, durchaus den partiell zeitgleichen anderen Hochkulturen in Mesopotamien, Ägypten oder am Indus vergleichbar. Auf Grund des Wasserreichtums war die Region intensiv landwirtschaftlich genutzt und dicht besiedelt und betrieb schon Handel über die Seidenstraße. Ob sie schon eine Schrift geschaffen hatte oder ihre Zeichen als Piktogramme aufzufassen sind, ist noch umstritten.

Über die mehr als tausend Jahre nach ihrem Untergang gibt es bisher nur sporadische Erkenntnisse. Aber es scheint so zu sein, dass ihre Auswirkungen in der Folgezeit nicht gänzlich verloren gingen.

Um 538 v.Chr. wurden Margiana und Baktrien vom persischen Großkönig Kyros II. erobert und zu einer persischen Provinz gemacht, die einen hohen Grad an Urbanisierung besaß (das „Reich der tausend Städte“). Die erste inschriftliche Erwähnung des Landes Margush findet sich in der Behistun-Inschrift des Achämenidenkönigs Darius I. (gest. 486 v.Chr.). In dieser Zeit wurde in Merw eine gewaltige Zitadelle gebaut.

Im Jahre 328 v.Chr. eroberte Alexander der Große diese Gebiete und behielt die gemeinsame Verwaltung von Baktrien und Margiana bei. Er gründete auch Merw, das seit der Jungsteinzeit besiedelt und schon unter den Achämeniden ein Zentrum war, „neu“ – bzw. baute es als griechische Polis aus – und nannte es Alexandreia margiane.

Nach dem Tod Alexanders kam es zu Aufständen, bei deren Niederwerfung Merw zerstört wurde. Im Jahre 301 v. Chr. etablierte sich die seleukidische Herrschaft
über die Margiana und Baktrien, wiederum verblieben die beiden Gebiete in einer Verwaltungseinheit. Merw wurde wiederaufgebaut (unter dem Namen Antiochia Margiana). Weil die Verwaltung dieser vom Zentrum des Seleukidenreichs weit entfernten Gebiete schwierig war, konnte sich in der Mitte des 3. Jahrhunderts v.Chr. der Statthalter Diodotos selbständig machen; er begründete das für längere Zeit bestehende graeco-baktrische Reich, das ganz Khorasan umfasste und zeitweise nach Indien hineinreichte. Um 160 v.Chr. trennen sich die indischen Territorien („indo-griechisches Reich“) vom griechisch-baktrischen Reich.

Beide Reiche wurden immer wieder von Parthern und Chinesen bedrängt und zeitweise auch abhängig. Schon sehr früh gab es eine Verbreitung des Christentums, angeblich durch den Apostel Thomas. Um 200 n.Chr. gelangte die Dynastie der Kushanas, wohl Skythen, die sich Tocharer nannten, also Indo-Europäter, an die Macht. Diese assimilierten sich sprachlich und kulturell an die Bevölkerung und konnten sich bis ins 5. Jahrhundert n.Chr. behaupten. Damals war dieses Reich sehr mächtig und kulturell sehr hoch entwickelt. Khorasan wurde zu einem Brennpunkt von Wissenschaft und, durch das Einsickern des Buddhismus über die Seidenstraße, auch der buddhistisch-hinduistischen Theologie. Aus dieser Zeit stammen auch die beeindruckenden Buddhastatuen im afghanischen Bamya-Tal, die von den Taliban zerstört wurden. Der buddhistische Pilger Hiuen-Tsiang, der im Jahre 632 n.Chr. in diese Region kam, schildert voller Begeisterung die Zeugnisse der buddhistischen Kultur und Religion. Die Münzprägungen zeigen, dass sich unter den Kushan „die Götterwelt der Griechen, Römer, Vorder- und Zentralasiens und Indiens unter Einbezug des Buddhismus auf einzigartige Weise“ verbanden[34]. Und diese Mischung ist keineswegs beliebig oder bloß spielerisch-ästhetisch, sondern dient der „religiösen Legitimation der Herrschaft.“ „Gerade die Münzprägung wurde als Mittel eingesetzt, um Herrschaftsansprüche nach Innen, aber auch überregional zu legitimieren.“[35] Merw allerdings gehörte schon seit dem Beginn des 3. Jahrhunderts n.Chr. zum Sassanidenreich. In dieser Zeit erlebte es eine große Blüte; der Austausch mit dem benachbarten Baktrien dürfte weiterhin sehr intensiv gewesen sein.

Im 5. Jahrhundert n.Chr. wurde das Reich der Kushanas zunehmend von den Sassaniden und den Hephtaliten bedrängt; letztere, auch „weiße Hunnen“ genannt, sind eine Sammelbezeichnung für indogermanisch geprägte nomadische Stämme. Schließlich konnten die Hephtaliten die Herrschaft übernehmen, wurden aber bald vom sassanidischen König Chosrau I., in Kooperation mit türkischen Stämmen, besiegt; der Westen (Baktrien) wurde persische, der Osten (Transoxanien) türkische Provinz.

Nach den Siegen des byzantinischen Kaisers Heraklius im Westen ab 622 konnte sich die sassanidische Dynastie nur noch etwa zwei Jahrzehnte behaupten; der letzte Sassanidenkönig Yazdegerd III. wurde, gemäß dem Traditionellen Bericht, im Jahre 651 in Merw ermordet. Jetzt übernahmen schon seit längerem ortsansässige Araberstämme die Macht. Eine „islamische Invasion“ hat es nicht gegeben.

[Merw ist vielfach in der Geschichte zerstört und neu erbaut worden. Im Unterschied zu anderen Städten, die immer wieder auf den Ruinen ihrer Vorgängerstädte erbaut wurden, wurden die neuen Siedlungen in Merw neben den Ruinen der früheren Bebauungsphasen errichtet, so dass sie, zusammengenommen, ein für antike Städte riesiges Areal umfassen (die Angaben schwanken zwischen 70 und 120 Quadratkilometern). Der Grund für diese Vorgehensweise war wohl die Wanderung des Deltas des Flusses Murgab, dessen Wasser benötigt wurde. Von der UNESCO wurden die Ruinen von Merw als Weltkulturerbe anerkannt.]

Auch unter arabischer Herrschaft blieb die Großstadt Merw ein wichtiges kulturelles und auch christliches Zentrum. Wilhelm Baum, der die islamische Historiographie seltsamerweise nicht in Frage stellt, schreibt: „Noch lange nach der islamischen Eroberung waren die Christen in Ägypten, Palästina, Syrien und Mesopotamien gegenüber den Muslimen in der Mehrheit. Gundeshapûr, Nisibis und Merv blieben die geistigen Zentren der Kirche des Ostens. Hier wurden Schreiber, Lehrer, Übersetzer und Beamte ausgebildet.“[36] Von Merw aus missionierten Christen über die Seidenstraße auch noch im 7. und 8. Jahrhundert nach China hinein[37].

Seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ging von Merw auch die spätere abbasidische Bewegung aus, die ebenfalls noch von christlichen Motiven geleitet war. Der Kalif al-Mamun (813-833) regierte, vor seinem Umzug nach Bagdad, eine Zeit lang von Merw aus. Wann auch hier der Islam als neue Religion aufgefasst wurde, ist ungewiss. Im Grunde ist die Regierungszeit al-Mamuns hierfür anzunehmen; aber zu seiner Zeit wurden in Merw noch zwei christliche und ein buddhistisches Kloster neu gegründet. Merw war eine der größten antiken Städte; als es im Jahre 1221 von den Mongolen zerstört wurde, sollen bis zu einer Million Menschen (manche sicher auch Flüchtlinge) getötet worden sei.

(wird fortgesetzt)


© imprimatur Oktober 2010
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[1]Gekürzter Abdruck des gleichnamigen Beitrags aus: Markus Groß /Karl-Heinz Ohlig (Hg.), „Vom Koran zum Islam“, Hans Schiler Verlag, Berlin 2009.
[2]Geneviève Gobillot, Grundlinien der Theologie des Koran. Grundlagen und Orientierungen, in: M. Groß / K.-H. Ohlig (Hg.), Schlaglichter, a.a.O. 320-369.
[3]Geneviève Gobillot, La démonstration de l’existence de Dieu comme élément du caractère sacré d’un texte. De l’hellénisme tardif au Coran, in: Al-Kitab. La sacralité du texte dans le monde de l’Islam, hg. von D. De Smet, G. de Callatay u. J.M.F. Van Reeth (Acta Orientalia Belgica, subsidia III), Brüssel 2004, 103-142.
[4]G. Gobillot, Grundlinien der Theologie des Koran, a.a.O.; vgl. hierzu auch V. Popp, Biblische Strukturen der islamischen Geschichtsdarstellung, a.a.O. 2.43.
[5]Vgl. hierzu auch V. Popp, Von Ugarit nach Samarra. a.a.O. 31-41.
[6]Der Beitrag wird vermutlich heißen: „Les «légendes des anciens» dans le Coran (Roman d’Alexandre, Histoire d’Akhikar et autres exemples).“
[7]V. Popp, Biblische Strukturen in der islamischen Geschichtsdarstellung, a.a.O. 41.
[8]Vgl. hierzu Jan M.F. Van Reeth, Die Vereinigung des Propheten mit seinem Gott, in: M. Groß / K.-H. Ohlig, Schlaglichter, a.a.O. 370-383.
[9]Vgl. hierzu Geneviève Gobillot, La démonstration de l’existence de Dieu comme élément du caractère sacré d’un texte, a.a.O. 103-142.
[10]Vgl. Verf., Die Diskussion um das Kreuz. Reflexionen zur Debatte um den Kulturpreis des Landes Hessen, a.a.O.
[11]Rechte Ginza, Rezension B, 34,5, in: Die Gnosis. Koptische und mandäische Quellen, a.a.O. 248; dort auch nähere Quellenangaben.
[12]Ebd. Rez. B, 34,8, in: ebd.
[13]Jan M.F. Van Reeth, Eucharistie im Koran, a.a.O. 459.460; vgl. auch Chr. Luxenberg, Die syro-aramäische Lesart des Koran, a.a.O. 332.333.
[14]Vgl. bei Verf., Vom muhammad Jesus zum Propheten der Araber, a.a.O. 365.366.
[15]GR III, 97,2, zitiert nach: Die Gnosis II. Koptische und mandäische Quellen, a.a.O. 237; dort weitere Quellenbelege.
[16]GR III, 15,13 (oder 340,4; Angabe ist ungenau), zitiert nach: ebd. 243.
[17]Vgl. hierzu auch V. Popp, Der „Vorhang der Ewigkeit“ (sidrat al-muntaha), ein Element des gnostischen Weltbilds im Koran (Sure 53:14), in: imprimatur 42, 2009, 147-151.
[18]G. Gobillot, Grundlinien der Theologie des Koran, a.a.O. 327.
[19]G. Gobillot, ebd. 326.
[20]G. Gobillot, ebd.
[21]Vgl. hierzu z.B. Joachim Gnilka, Die Nazarener und der Koran. Eine Spurensuche, Freiburg i. B. 2007.
[22]Dietmar W. Winkler, (Kap.) VI. Sprache und Literatur der Kirche des Ostens, in: W. Baum / D.W. Winkler, Die Apostolische Kirche des Ostens, a.a.O. 144.
[23]Vgl. hierzu Erich Kettenhofen, Deportations II. In the Parthian and Sasanian Periods, in: Encylopaedia Iranica (ed. by Eshan Yarstater), Volume VII, Fascicle 3, Costa Mesa (California/USA) 1994, 298-308.
[24]M. Stausberg, Die Religion Zarathushtras, a.a.O. 237.
[25]Vgl. hierzu Verf., Das syrische und arabische Christentum und der Koran, a.a.O.
[26]Vgl. hierzu V. Popp, Die frühe Islamgeschichte nach inschriftlichen und numismatischen Zeugnissen, a.a.O. 71.
[27]Vgl. hierzu Verf., Das „Sanctus“ der Messe (des Abendmahls) und „Mohammed“. Spuren gemeinsamer Theologie, in: imprimatur 40, 2007, 73-75.
[28]Vgl. V. Popp, Von Ugarit nach Samarra, a.a.. 71.72.
[29]Vgl. hierzu V. Popp, Von Ugarit nach Samarra, a.a.O. 69-72.
[30]V. Popp, ebd. 79.
[31]V. Popp, ebd. 81.
[32]V. Popp, ebd. 83.
[33]Vgl. Chr. Luxenberg, Neudeutung der arabischen Inschrift im Felsendom zu Jerusalem, a.a.O. 124-147. [34]Peter Wick, Hellenistische Münzen aus dem Osten. Spiegel religiöser Dynamiken im kulturellen Austausch zwischen Ost und West, in: Begleitheft zur Ausstellung der Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum vom 16.10.2008 – 18.01.2009, Druck Universität Bochum 2008, 19.
[35] P. Wick, ebd. 5.
[36]Wilhelm Baum, II. Zeitalter der Araber (650-1258), in: W. Baum / D. Winkler, Die Apostolische Kirche des Ostens, a.a.O. 43.
[37]W. Baum, ebd. 47-51.