Erzpriester Georgij Mitrofanov
„Wir sind heute eine Gesellschaft von getauften Gottlosen“

Trotz des Bemühens der Kirchenleitung der Russischen Orthodoxen Kirche um eine verbesserte theologische Ausbildung, gibt es nach wie vor zahlreiche Probleme bei der Ausbildung und Rekrutierung von Priesteramtskandidaten –vor allem in der Provinz. Erzpriester Prof. Dr. Georgij Mitrofanov, Kirchenhistoriker an der Geistlichen Akademie St. Petersburg, hat in einem Interview mit der Zeitschrift „Ogoniok“ vom April 2010 zahlreiche Probleme und Missstände benannt.

Ogoniok: Vater Georgij, Patriarch Kirill lockt die Jugend mit aller Macht in die Kirche. Ist der Priesterberuf attraktiv?
Mitrofanov: Es kommen immer weniger Studenten zu uns: Einerseits haben wir einen Geburtenrückgang seit den 1990er Jahren, und andererseits sinkt das Interesse an der Orthodoxen Kirche. Da wir keine Aufnahmeprüfungen machen, kommen hauptsächlich junge Leute zu uns, die nach der Schule [...] nirgendwo anders unterkommen. Entsprechend niedrig sind deren Bildungsgrad und sozialer Status.

In den letzten Jahren sind dennoch viele neue Seminare eröffnet worden.
Ja, das ist richtig. In sowjetischer Zeit verfügten wir nur über drei geistliche Seminare in Moskau, Leningrad und Odessa. Inzwischen sind es bereits vierzig, doch ihr Niveau in der Provinz ist in den allermeisten Fällen eher niedrig. Neben den Seminaren in Moskau und St. Petersburg entsprechen nur fünf bis sieben Schulen heutigen Ansprüchen an die geistliche Bildung. In manchen Seminaren gibt es in einem Jahrgang fünf oder sechs Studierende, bei uns in St. Petersburg sind es vierzig; vor zehn Jahren waren es noch doppelt so viele.

Woher kommen dann die Priester für all die neuen Kirchen?
Um bei uns Priester zu werden, muss man weder eine theologische noch sonst irgendeine Qualifikation vorweisen können. Wahrhaft paradox! Dieser Missstand setzte Ende der 1980er Jahre ein, als der Staat sich nicht mehr in die Kaderpolitik der Kirche einmischte, und die Bischöfe jeden weihen konnten, der das wünschte. Mittlerweile kann jeder Priester werden, der sich einigermaßen mit dem Gottesdienst auskennt und ein Empfehlungsschreiben eines Geistlichen vorlegt. Nur ein gutes Drittel aller heutigen Priester hat ein Seminar oder eine Akademie absolviert, während der Rest ohne jede theologische Bildung auskommt - mit dem Resultat, dass das theologische, geistliche und kulturelle Niveau unseres kirchlichen Lebens auf einen katastrophalen Tiefstand gesunken ist. Aber bis heute liegt keine Synodalentscheidung vor, die eine Weihe ohne entsprechende Qualifizierung verbieten würde.

Die meisten Priester wurden also in den 1990er Jahren geweiht?
Ja, rein zahlenmäßig betrachtet gibt es heute mehr Priester aus nachsowjetischer Zeit, doch lassen deren geistliche, intellektuelle und menschliche Qualitäten gegenüber denjenigen aus der Sowjetzeit meist zu wünschen übrig. In der Perestrojka-Zeit kamen massenweise Menschen zur Kirche. Einige wenige wählten diesen Weg bewusst und aus einem tiefen, ernsten Glauben heraus, doch die meisten kamen aus Zufall und gerade sie ließen sich weihen.

[...] Es waren autodidaktische Neophyten [Neugetaufte], ohne jede Vorstellung von kirchlicher Tradition, die sich ihr geistliches Wissen bestenfalls über Bücher angeeignet hatten, die im Samiz-dat [Untergrund] kursierten. Diese Leute haben ein derart abstruses Konglomerat an Vorstellungen ins kirchliche Leben eingebracht, dass einem die Haare zu Berge stehen.

Was sind das für Ideen? Und was sind das für Priester?
Im Grunde genommen sind viele von ihnen desorientierte, eingeschüchterte postsowjetische Spießer, die sich beim Eintritt in die Kirche erträumten, das zu finden, was ihnen vertraut war - eine totalitäre Ideologie und Organisation. Was konnte jemand in den 1980er Jahren in der UdSSR auf der Suche nach Gott überhaupt lesen? Es gab ein sozusagen «klassisches Bücherpaket», bestehend aus dem «Otetchnik» [Sammlung frommer Sprüche der Mönchsväter] von Ignatij Brjantschaninov einerseits, sowie aus dem antisemitischen Pamphlet der «Protokolle der Weisen von Zion» und dem damals weit verbreiteten, höchst unzulänglichen Buch «Neumärtyrer Russlands» von Erzpriester Michail Polskij andererseits. Diese Mischung aus mystischer Literatur und totalitärer, menschenverachtender politisierter Ideologie prägte die Weltanschauung der Neophyten, die ihre persönlichen Ideen, als sie im Handumdrehen Priester geworden waren, mit großer Geste zur orthodoxen Lehre erklärten. Sie brachten in unsere Kirche jenen Geist der Intoleranz und des Argwohns ein, der für viele unserer Kleriker so typisch ist. Permanent suchen sie nach Feinden - Juden, Freimaurer, Ökutneniker, Philokatholiken, [...] -, als würden nur äußere und selbstverständlich «finstere Mächte» all unsere inneren Probleme verursachen» [...]

Sie lehren bereits seit über 20 Jahren und können daher die heutige Studierendengeneration mit derjenigen aus der Sowjetzeit vergleichen.
In der Sowjetzeit war es immens schwierig, sich überhaupt weihen zu lassen. Ein Priesteramtskandidat musste daher willensstark sein, um sein Ziel erreichen zu können. Praktisch jeder Priester verfügte über eine abgeschlossene geistliche Bildung. Daran war nicht nur die Kirche interessiert, sondern auch der Staat, der die vermeintlich legale und freie Kirche auf diese Weise total kontrollieren konnte: Solange nämlich ein junger Mann an einer geistlichen Lehranstalt studierte, konnte man [d.h. der KGB] sich ein Bild von ihm machen, ihn näher kennen lernen und sogar anwerben. Die definitive Entscheidung, ob jemand ins Seminar eintreten durfte oder nicht, lag beim Bevollmächtigten des Rates für Religionsangelegenheiten. Dessen Aufgabe war es, allen städtischen und gebildeten Studienbewerbern große Steine in den Weg zu legen und Männer aus den einfachsten sozialen Schichten zu bevorzugen: Je tiefer, umso besser. In erster Linie traten Studierende in die Seminare ein, die aus den ländlichen Gebieten der Westukraine stammten.

Warum gerade von dort?
Die Russische Orthodoxe Kirche verfügte damals über etwa 6000 Kirchen, von denen sich mehr als die Hälfte in der Westukraine befand, daher brauchte sie auch dort am meisten Priester. Das religiöse Leben dort verharrte allerdings im Ritualismus, was der Staatsmacht nur recht war. Jedoch brachten die Studierenden aus der Westukraine eine tiefe Volksfrömmigkeit und Gottesfurcht für den Dienst am Altar mit sich, die heute fehlen. Wenn heute junge Männer zu Priestern geweiht werden, so sind sie sich der Tragweite dessen, was mit ihnen geschieht, meist gar nicht mehr bewusst. In unserer zeitgenössischen Kultur geht die Ehrfurcht gegenüber dem Sakralen verloren, alles wird profaniert. Weil man heute viel einfacher Geistlicher werden kann, kommt es immer häufiger vor, es durchaus für akzeptabel zu halten, dass man kommt, ein wenig zelebriert und schaut, ob es einem gefällt - und wenn nicht, geht man wieder und schaut sich anderswo um.

Wie ist es Ihnen persönlich gelungen, ins Seminar einzutreten? Sie hatten damals die Universität Leningrad als Historiker mit Auszeichnung absolviert und arbeiteten dort als jüngster wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Ich lebte im damaligen Leningrad in einer riesigen Wohnung, die zur Kommunalwohnung umgebaut worden war. Allerdings hatte ich schon in jungen Jahren das Gefühl, dass diese Stadt für andere Menschen errichtet und das russische Leben vor 1917 ein völlig anderes gewesen war und man mich dieses richtigen russischen Lebens beraubt hatte. Und ich begann, dieses Leben in den Büchern und über das Geschichtsstudium zu suchen und fand so zum Glauben. Als ich mich mit 27 Jahren entschloss, alles hinzuwerfen und ins Seminar einzutreten, war ich bereits fest im Glauben verwurzelt. Ich hatte engen Kontakt zu Geistlichen und wusste, dass meine einzige Hoffnung auf Aufnahme Erzbischof Kirill (Gundjajev) war, der damalige Rektor der St. Petersburger Geistlichen Akademie und heutige Patriarch.

Was konnte er tun?
Er hatte das nötige Gewicht und die entsprechenden Kontakte in der Verwaltung, um einem Studienanfänger mit Hochschulabschluss den Weg ins Seminar zu ebnen. Doch kaum hatte ich mich 1985 beworben, wurde Erzbischof Kirill nach Smolensk versetzt. Stattdessen wurde ich von Metropolit Antonij (Melnikov) empfangen [...], der äußerst vorsichtig war. Er sagte mir: «Kündigen Sie ihre Arbeit und suchen Sie sich eine Stelle als Wachmann. Wenn Sie nämlich Ihre Papiere als wissenschaftlicher Mitarbeiter einreichen, wird das sehr provokativ aussehen. Doch auch als Wachmann können Sie nicht längere Zeit arbeiten, denn wenn das jemand mit Hochschulbildung tut, gilt er als potentieller Dissident. Kündigen Sie also Ihre Stelle und suchen Sie die nächste.» Ich reichte also meine Papiere ein und wurde vor einen KGB-Major zitiert, der mir beteuerte, ich solle mich nicht verunsichern lassen - viele Geistliche würden zelebrieren und gleichzeitig ihrer bürgerlichen Pflicht nachkommen. Er nannte ein paar Namen [...], von denen einige bis heute hohe Ämter in der Kirche bekleiden. Meine Standfestigkeit reichte soweit zu sagen, für mich sei der Kontakt mit dem KGB ein großes moralisches Problem, das ich in meiner nächsten Beichte vorbringen würde. Darauf sagte der Major fast mephistophelisch: «Es gibt Dinge, die sagt man nicht einmal in der Beichte.» Danach gingen wir auseinander, wobei ich, wenn auch nur andeutungsweise, zu verstehen gab, dass ich mich an die patriotischen Regeln der KGB-Spielchen nicht halten würde. [...] Somit können Sie sich vorstellen, welche Schwierigkeiten vor einem standen, wenn man sich in sowjetischer Zeit für das Priesteramt entschied und welche Verantwortung man gegenüber diesem Dienst empfand.

Rechneten Sie auch mit finanziellen Problemen? Heute sind viele Priester nicht gerade arm.
Materiell war der städtische Klerus nie so gut gestellt wie zu Sowjetzeiten. Als ich noch studierte, bekam ich eine Stelle in der Seminarbibliothek und traute am ersten Zahltag meinen Augen nicht - 200 statt der 130 Rubel Lohn als jüngerer wissenschaftlicher Mitarbeiter! Allerdings forderte man mich später schriftlich auf, 62 Rubel Steuern zu bezahlen.

Heute ist das Lohngefälle beim städtischen und erst recht beim ländlichen Klerus enorm; die Kosten für Kasualien sind ebenfalls überall völlig unterschiedlich. Sehr viele Priester leben von der Hand in den Mund und helfen dennoch selbst, wo sie nur können, während andere hingegen ziemlich wohlhabend sind. [...]

In den letzten Jahren wurden sehr viele Kirchen restauriert oder neu erbaut. Legte die Kirche früher eher Wert darauf, dass ein Priester gut wirtschaften konnte oder ist ihr inzwischen anderes wichtig?
Der Wiederaufbau der Gotteshäuser wurde für die Kirche zur großen Versuchung, denn er wurde vom modernen Sowjetmenschen bewerkstelligt. Die Kommunisten haben uns in allem betrogen, nur in einem nicht: Sie schufen einen neuen Typus Mensch - den neidischen Habenichts, der mit der Überzeugung aufgewachsen ist, das Wichtigste im Leben seien materielle Werte. Und weil er dieser Werte beraubt war, wurde er viel habgieriger und war viel mehr auf den eigenen Vorteil bedacht als ein westlicher Spießer. Für die heutige Priestergeneration ist die Kirche oftmals nicht der Leib Christi und nicht eine Gemeinschaft von Menschen, die eins in Christus sind, sondern das Gotteshaus ist in erster Linie ein Ort, an dem man emsig mit Geschäftsleuten in Kontakt tritt und rituelle Dienstleistungen anbietet: Hier kriegt man für Geld sein Auto gesegnet, sein Baby getauft, seinen Toten beerdigt. Mehr will man ja nicht von einem Priester. - Doch was ist, wenn jemand einem so geschäftstüchtigen, oft sehr jungen Mann sein Leid klagt? Er wird ihm nichts antworten können.

Welche Priester braucht die Kirche heute?
In den 1980er Jahren lebten wir in der Illusion, wir hätten ein orthodoxes Volk, das nirgendwo hingehen kann, weil es keine Kirchen gibt. Dann gingen die Kirchen auf, doch nur ein kleiner Teil unseres Volkes kommt regelmäßig in die Kirche. Wir müssen begreifen, dass wir heute eine Gesellschaft von getauften Gottlosen mit enormen magischen und heidnischen Vorurteilen sind, der man Christus aufs Neue verkündigen muss. Dazu muss ein moderner Priester die Menschen auf ihrem Niveau «abholen», auch die Intellektuellen. Der Priester muss einiges an Lebenserfahrung mitbringen, die Sprache der Kunst verstehen und persönlich jene hohe orthodoxe Kultur verkörpern, die uns selbst leider oft unbekannt ist. Dann wird es uns vielleicht gelingen, das größte der Gebote zu erfüllen - hinzugehen und alle Völker zu lehren.

Quelle: www.portal-credo.ru, 21. April 2010.
Übersetzung aus dem Russischen: Olga Stieger.


© imprimatur Oktober 2010
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