Norbert Lüdecke
Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester.
Statement aus kirchenrechtlicher Sicht

Unbestritten gibt es sexuellen Missbrauch Minderjähriger in der katholischen Kirche auch durch nicht geweihte Männer und Frauen. Ebenso unbestritten aber verleiht der besondere Status von Priestern ihren Missbrauchsverbrechen eine besondere Qualität. Die thematische Beschränkung auf sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester soll fokussieren, nicht das Problem isolieren. Vier Punkte sind dabei in den Blick zu nehmen: Die Situation. Das System. Das Vorgehen. Die Bischöfe.

Die Situation
Das Kartell

Es hat Sturmwarnungen gegeben, viele und seit langem. Aber bis Anfang der 1980er Jahre funktionierte das Kartell gegen die Opfer. Sie schwiegen, weil sie erfahren mussten, nicht gehört, eingeschüchtert oder gar selbst beschuldigt, ja sanktioniert zu werden. Priestertäter, die ihnen genau das drohend vorhersagten, hatten also Recht. Psychologen verharmlosten, Sozialbehörden schauten weg, Ermittlungsbehörden und Justiz verhielten sich kirchenparteilich, Journalisten konnten ihre Recherchen nicht unterbringen.

Sirenen und Tornado

Seit den 1980er Jahren waren die Warnungen unüberhörbar. Initialer Opfermut und investigativer Journalismus schufen jeweils ein Klima, in dem die Opfer gehört wurden. Die Sirenen schrillten u. a. 1982 in Neufundland mit schweren Missbräuchen der Christian Brothers of Ireland, 1984 in Louisiana (Fall Gilbert Gauthé) und 1992 in Massachusetts (Fall James Porter) mit Diözesanpriestern als Vielfachtätern, 1993 in Kalifornien (Fall Oliver O’Grady), 1997 in Texas mit den damals höchsten Entschädigungslasten für das Bistum Dallas, seit 1994 in Irland und Australien, 1995 in Österreich, 1997 in Belgien, 2000 in Frankreich, 2001 in England.

Bischofskonferenzen reagierten und versuchten sich zumindest in Stellungnahmen und Strategiepapieren. Gleichwohl kam es 2002 zum „Tornado von Boston“ mit der einjährigen pulitzerpreisgekrönten Berichterstattung des „Boston Globe“ (Kategorie „Dienst an der Öffentlichkeit“) über den Fall John Geoghan. Ihm fielen mutmaßlich 130 Opfer in gut 30 Jahren in die Hände, seit 1984 unter den Augen von Bernard Kardinal Law, des seitherigen Erzbischofs von Boston. Er reichte 2002 angesichts schwerer Vorwürfe von Aufsichtsversäumnissen auch aus dem eigenen Klerus seinen Rücktritt ein.

Das Muster

Journalisten und Anwälte, nicht die Kirche, brachten ein schockierendes Muster ans Tageslicht: Bischöfe hatten die von Jesus angekündigten Wölfe im Schafspelz erwartet. Sie kamen aber in Hirtenkleidern. Als sie erkannt wurden, vertrieben die Bischöfe sie nicht. Sie schützten die Wölfe und verschafften ihnen Zugang zu neuen Weiden – manchmal auf Anraten von (allerdings zum Teil nur angeblichen) Spezialisten, manchmal aber auch gegen deren Warnungen. Berichtet wird, wie Bischöfe entweder selbst Täter waren oder sich den Opfern gegenüber arrogant, gefühllos, taub verhielten, wie sie leugneten, verharmlosten und selbst vor Gericht logen. Statt bei der Aufklärung zu helfen, be- und verhinderten sie diese. Zu selten dokumentierten sie. Wo sie es doch taten, verschlossen sie das Material meist klagesicher im bischöflichen Geheimarchiv und überlegten, es gegen staatliche Zugriffe auf immunes Nuntiaturterrain zu verbringen. Vor Gericht taktierten sie, um nicht oder wenig entschädigen zu müssen, inzwischen nicht mehr im Gefolge ihrer Psychologen, sondern ihrer Anwälte. Immer wieder zeigte sich: Weit überwiegend änderten die Bischöfe ihr Verhalten erst unter äußerem und nicht zuletzt finanziellem Druck, seit in mehreren Wellen Diözesen und Bischöfe verklagt wurden.

Kirchenkrise auf deutsch

Und die deutschen Bischöfe? Sie handelten erkennbar erst nach mindestens einem Jahrzehnt von Sturmwarnungen und nachdem der Papst die seit langem bestehende Ausklammerung der Strafverfolgung sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Priester aus der Zuständigkeit der Bischöfe neu geordnet hatte. Im September 2002 verabschiedeten die deutschen Bischöfe unverbindliche Leitlinien „Zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bereich der deutschen Bischofskonferenz“. Für Kritik daran blieben sie unempfänglich, obwohl es weiter stürmt und stürmt.

Im Januar 2010 veröffentlichte der Jesuitenpater Klaus Mertes (erstmals für eine katholische Institution) einen Missbrauchsfall. Durch die anschließenden journalistischen Recherchen fassten auch in Deutschland mehr Opfer Mut. Der öffentliche Wunsch nach Aufklärung wurde immer drängender. Die Bischöfe reagierten auch jetzt nur zögerlich.

Der Blick auf die Situation zeigt: Es ging nie um ein amerikanisches Problem, nicht um eines englischsprachiger Länder, nicht um ein Problem von Orden oder Schulen, sondern um eine Glaubwürdigkeitskrise der Kirche. Verursacht sehen viele diese Krise nicht durch die Medien oder durch Kirchenfeinde, nicht nur durch die Verbrechen der Priester, sondern vor allem durch das Versagen der Bischöfe im Umgang damit.

Das System
Die Rechtskirche

Die alles überwölbende Frage ist: Warum? Zunehmend wird auf die Kirche auch als psycho-soziale und weltweite politische Realität geblickt und eine systemische Perspektive gefordert. Denn nach katholischer Glaubensüberzeugung hat Christus die römisch-katholische Kirche als rechtlich verfasste Heilsanstalt gegründet und mit einer unabänderlichen Grundausstattung versehen: mit den sakramentalen Heilsmitteln, mit eigener rechtlicher Hoheitsmacht auf Augenhöhe mit dem Staat und mit einem festgelegten hierarchischen Aufbau.

Die Gläubigensortierung

Die zu dieser Anstalt Zugelassenen teilen sich in zwei grundverschiedene Gruppen. Da gibt es die gemischtgeschlechtliche Gruppe von Menschen, aus denen die Taufe Laien gemacht hat. Und es gibt die davon als soziale und rechtliche Einheit, als eigener Stand mehrfach strikt abgeschlossene Männergruppe der Kleriker.

Die Weihe hat sie so unvergleichlich Christus gleichgestaltet, dass nur sie das Volk Gottes als „Mittler zwischen Gott und den Menschen“ belehren, kultisch versorgen und leiten können. Die Schlüsselfiguren sind die Priester und Bischöfe. Unverlierbar und daher unabhängig von ihrer moralischen Qualität sind sie zur Verteilung der sakramentalen Gnadenmittel, insbesondere der Eucharistie befähigt (Weihegewalt). Aus ihr lebt nach amtlicher Lehre die Kirche. Daher sind ihre Priester lebensnotwendig und unersetzbar. Kirche ohne Laien? Möglich. Ohne Priester? Unmöglich.

Hinzu kommt: Alle Ordnungs- und Befehlsgewalt ist an den Klerikerstand rückgebunden. Die monosexuelle Leitung der Kirche ist in den Ämtern des Papstes als klerikalem absoluten Wahlmonarchen der Gesamtkirche und des Diözesanbischofs gebündelt. Gewaltenteilung gibt es nicht. Bedeutsamster Teil dieser Leitungskompetenz (Jurisdiktionsgewalt) ist es, in der Autorität Christi und so befehlsgewaltig die Heilswahrheiten über den Aufbau der Kirche und die sittlich rechte Lebensweise zu lehren und über menschliche Dinge jedweder Art, einschließlich des staatlichen Rechts, moralisch zu urteilen.

Kleriker sind den Laien ohne jede legitimatorische Anbindung von unten vor- und übergeordnet. Gläubige sind rechtlich verpflichtet, geweihten Männern als solchen mit Ehrfurcht, d. h. mit achtungsvoller Scheu und Respekt vor ihrer geistlichen Erhabenheit, zu begegnen und ihnen als Trägern von Jurisdiktion unter Strafandrohung bei Zuwiderhandeln zu gehorchen. Rechtlich begründet die Ordination der einen die Subordination der anderen.

Die Gottesmänner

Diese religiös fundierte Kultpotenz und Positionsmacht der „Gottesmänner“ wird durch ein Set von Normen umhegt. Die rituell zugesagte und strafbewehrte Verpflichtung zu sexueller Totalabstinenz (Zölibat) hebt zusätzlich heraus, die rechtlich vorgeschriebene Klerikertracht ist sozial stützende visuelle Standesmarkierung. In der Regel wechseln junge Männer, die meinen, den Ruf Gottes zu hören, nach dem Abitur von der elterlichen Erziehung in die spezifisch klerikale Sozialisation in Theologenkonvikten und Priesterseminaren. Sie führt in den Zusammenhalt der „Mitbrüder“ und die klerikale Standeskultur hinein. Deren Internalisierung führt zum Standesbewusstsein. Es wird berufsbegleitend gepflegt. Folgerichtig besteht etwa Kardinal Meisner darauf, dass sich die Priester eines Dekanats regelmäßig auch ohne Laien treffen, weil es einen Raum geben muss, „wo wir mal unter uns sind“. Universalkirchliche Sonderaktionen, wie die Gründonnerstagsschreiben des vorigen Papstes an die Priester oder die Ausrufung des „Jahres der Priester“ durch den jetzigen Papst, dienen ebenfalls der Festigung des Standesbewusstseins. Nötigenfalls werden systemsichernd die Standesgrenzen eingeschärft.

Die kirchlichen Glaubensfeiern, insbesondere das Zentralsakrament der Eucharistie, sorgen für die rituelle Internalisierung der Ständestruktur auf der Laienseite. Jede Heilige Messe bildet das hierarchische System in der liturgischen Rollenverteilung ab. Gotteslob und Affirmation der Hierarchie geschehen in einem und sollen die Laien in ihrer Ja-und-Amen-Existenz stabilisieren.

Die Einbahnstraße der Verantwortung

Der Ständehierarchie entspricht die Asymmetrie der Verantwortlichkeit. Von unten nach oben sind strikter Gehorsam und Rechenschaft Rechtspflicht, bei Klerikern durch ritualisiertes Versprechen, Bekennen und Beeiden religiös aufgeladen. Kein Diözesanbischof tritt sein Amt an, ohne zuvor geschworen zu haben, Kirche und Papst immerwährend treu zu sein, Rechenschaft abzulegen und Ratschläge der Kurie gehorsam anzunehmen und eifrigst auszuführen. Der Papst muss nur Gott gehorchen, der Bischof dem Papst, der Pfarrer dem Bischof. Auf die Gemeinde muss niemand hören.

Von oben nach unten gilt nur moralische Verantwortung. Alle kirchliche Vollmacht soll als Dienst ausgeübt werden. Ob dies geschieht, beurteilen die sacri ministri, die heiligen Diener selbst. Kirchliche Leitung ist per definitionem Dienst. Die Frage „Wer kontrolliert die Kontrolleure?“ ist kirchenrechtlich nicht sinnvoll zu stellen. Nach amtlicher Lehre wird der Heilige Geist das Schlimmste verhindern. Wer absolute Loyalität verlangt, ohne Rechenschaft zu schulden, dem kann Anteilnahme schwer werden.

Image-Schutz

Die vitale Bedeutung des Klerus für die Kirche macht seine hohe Gemeinwohlbedeutung evident. Nimmt das Kleriker-Image Schaden, trifft das die Kirche in ihrem Lebensnerv. Daher wird es rechtlich umhegt. In allen Fällen, in denen der gute Ruf eines Priesters beeinträchtigt werden könnte, muss der Kirchennotar im Generalvikariat Priester sein. Es könne gefährlich sein, Laien Geheimnisse der Kurie anzuvertrauen. Der sexuelle Missbrauch Minderjähriger ist im CIC kein Vergehen gegen Leben und Freiheit des Menschen, sondern gegen eine Klerikerpflicht, den Zölibat. In einem Strafprozess darüber sind alle wichtigen Prozessrollen – Kirchenanwalt, Richter, Notar und Anwalt des Beklagten – mit Priestern zu besetzen. Sie unterliegen wie alle Prozessbeteiligten der höchsten Geheimhaltungspflicht, dem sog. päpstlichen Geheimnis. Alle strafrechtlich relevanten Akten werden im diözesanen Geheimarchiv verwahrt, dessen Schlüssel nur der Bischof hat. Missbrauchen allerdings Kleriker Minderjährige, müssen nach Abschluss eines Prozesses alle Unterlagen zur Kongregation für die Glaubenslehre. Die für diese Fälle erlassenen Prozessnormen sind nicht amtlich publiziert und können von Fall zu Fall auf Anweisung der Kongregation variieren. Die Kongregation entscheidet, was wen angeht. Als Begründung wird in der Literatur vorgetragen, angesichts der öffentlichen Aufmerksamkeit wolle man nicht ein ungebührliches und morbides Interesse an diesem delikaten und speziellen Material unterstützen. Gewisse Individuen könnten Vergnügen daran haben, diese Normen für ungerechte und unbegründete Anklagen zu nutzen. Tat- und Verfahrenswissen sind so weitgehend ständisch umstellt.

Ekklesio-Logik

Vor diesem systemischen Hintergrund ist es nur ekklesio-logisch, wenn Papst Benedikt zur Eröffnung des Priesterjahres 2009 an seine Priester schrieb: „Leider gibt es auch Situationen, die nie genug beklagt werden können, in denen es die Kirche selber ist, die leidet, und zwar wegen der Untreue einiger ihrer Diener. Die Welt findet dann darin Grund zu Anstoß und Ablehnung. Was in solchen Fällen der Kirche am hilfreichsten sein kann, ist weniger die eigensinnige Aufdeckung der Schwächen ihrer Diener, als vielmehr das erneute und frohe Bewusstsein der Größe des Geschenkes Gottes, das in leuchtender Weise Gestalt angenommen hat in großherzigen Hirten, in von brennender Liebe zu Gott und den Menschen erfüllten Ordensleuten, in erleuchteten und geduldigen geistlichen Führern.“

Das Vorgehen
Zwei Rechtskreise

In Fällen sexuellen Missbrauchs begegnen sich staatlicher und kirchlicher Strafanspruch. Der kirchliche Anspruch ist vom Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften in Deutschland gedeckt.

Das Delikt

Sowohl das Phänomen sexueller Vergehen gegen Minderjährige durch Priester wie kirchenrechtliche Vorkehrungen dagegen wie deren nachlässige Anwendung durch die Bischöfe haben eine lange Geschichte in der katholischen Kirche. Lange Zeit waren vorrangig homosexuelle Handlungen im Blick. Denn die gehörten wegen Missachtung der gottgewollten Bestimmung des Geschlechtsverkehrs als zeugungsoffener Heterosexualakt zu den sexuellen Verfehlungen contra naturam im Unterschied zu denen intra naturam. Seit dem 19. Jahrhundert wurde das klassische Delikt der Verführung im Beichtstuhl (sollicitatio) dem Heiligen Offizium vorbehalten. In seine Sonderbehandlung wurden unter dem traditionellen Namen crimen pessimum seit einer Geheiminstruktion von 1922 und in der inhaltlich fast identischen von 1962 auch homosexuelle Handlungen und sexuelle Handlungen mit Kindern beiderlei Geschlechts sowie mit Tieren einbezogen. Wo diese sexuellen Handlungen als in sich so schwerwiegend galten, dass sie einen Priester als Beichtvater disqualifizierten, war ihr Vorbehalt ein erweiterter Schutz des Beichtsakraments. Wo ihre Eigenart als sog. crimen mixtum im Vordergrund stand, das auch nach weltlichem Recht verfolgt wurde und damit besonders skandalanfällig war, konnte der Ruf der Kirche geschützt und ihre eigene Strenge demonstriert werden. Außerdem konnten die Bischöfe aufgrund der vorgesehenen prozessualen Erleichterungen aktiv werden, bevor die weltliche Autorität darauf aufmerksam wurde. Der jeweilige Normtext war geheim, aber inhaltlich über die moraltheologische und kirchenrechtliche Fachliteratur wie aus der Priesterausbildung bekannt. Bischöfe wendeten sie gleichwohl nicht an. Papst Johannes Paul II. wies in seinem Motu Proprio zur überarbeiteten Regelung der Neuregelung von 2001 eigens darauf hin, die Instruktion von 1962 sei bis dahin in Kraft gewesen. Er betonte so die Verantwortung der Bischöfe. Als eigenartig gilt, dass es keinerlei Belege für eine Erinnerung an die früheren Normen oder eine Urgierung durch den Apostolischen Stuhl während der ganzen Zeit der öffentlichen Krise seit den 1980er Jahren gibt anders als etwa in Bezug auf Laienfunktionen, die Medienüberwachung und die Einhaltung liturgischer Vorschriften.

Nach geltendem Recht gehört der sexuelle Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker, gemessen an der Strafdrohung, anders als Papstattentat oder unerlaubte Bischofsweihe nicht zu den Schwerstverbrechen.

Der Verdacht

Eine rechtliche Anzeigepflicht besteht im Staat nicht, in der Kirche nur bedingt. Katholiken, die – in den Augen des Bischofs – kompetent, zuständig und positionswichtig sind, sind berechtigt und manchmal sogar verpflichtet, ihm oder direkt dem Apostolischen Stuhl über kirchenwohlrelevante Dinge Mitteilung zu machen. Ein Recht auf Antwort gibt es nicht. Oberster Schutzzweck des Kirchenrechts ist nicht das Individuum mit Rechten gegenüber der Autorität, sondern das Wohl der kirchlichen communio. Recht ist, was ihr in der Auslegung der kirchlichen Autorität dient. Opferberatungsstellen raten begründet von einer Anzeigepflicht ab. Anzeigeverzicht schützt allerdings auch den Täter. Der Anklagevertreter der Glaubenskongregation hat erklärt, eine staatliche Anzeigepflicht sei einzuhalten. Wo sie nicht besteht, rät er den Bischöfen, die Anzeige durch das Opfer anzuregen. Selbst anzuzeigen, sei für einen Bischof so, als verlangte man von Eltern, ihren Sohn anzuzeigen. In Deutschland schaltet die Kirche derzeit in Absprache mit den Opfern die Staatsanwaltschaft wohl recht früh ein.

Staat wie Kirche müssen ermitteln, wenn ein Verdacht bekannt wird. Erfährt der Bischof des Tat- oder Täterbistums von einem Verdacht, muss er in einem diskreten Vorermittlungsverfahren ohne den Beschuldigten prüfen: Ist die Tat wahrscheinlich und beweisbar? Ist sie verjährt? Er wird das Geheimarchiv auf frühere Anschuldigungen oder Maßnahmen durchsehen. Ein kirchlicher Ermittler kann wie ein Untersuchungsrichter die anzeigende Person und eventuelle Sach- und Glaubwürdigkeitszeugen ggf. mit einem Notar und auch unter Eid vernehmen und zur Verschwiegenheit verpflichten. Systemstimmig müsste er Priester sein, es geht ja um den Klerikerruf. Und er müsste mindestens kanonistisch, psychologisch und ermittlungsfragetechnisch kompetent und erfahren sein. Die Praxis ist anders. Ein einschlägig erfahrenes Spezialistenteam aus Juristen mit der Befähigung zum Richteramt, Psychologen und Kanonisten kann hilfreich sein, nicht aber die Qualifikation des Ermittlers ersetzen. Die Leitlinien der Bischofskonferenz schalten all dem noch eine Prüfung vor durch einen nicht näher qualifizierten bischöflichen Beauftragten und wenig spezifischen Beraterstab. Das verdoppelt die Belastung für ein potentielles Opfer unnötig.

Nach allgemeinem kirchlichen Verfahrensrecht ist der Beschuldigte in der Voruntersuchung nicht beteiligt. Erst in einem Strafverfahren wird er mit den Vorwürfen konfrontiert und kann sich verteidigen. Erst dann kann er für die Dauer des Verfahrens präventiv aus dem Verkehr gezogen werden. Gläubigenrechte sind jedoch nicht Grundrechte zum Schutz individueller Freiheit, sondern Gliedschaftsrechte als Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte zur Verwirklichung der kirchlichen Zielsetzung. Entsprechend stehen sie unter einem doppelten Vorbehalt: dem der Erfüllung der umfassenden Grundpflicht, die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren und alle Pflichten ihr gegenüber zu erfüllen, und dem kirchenrechtlich unbeschränkten Vorbehalt der Regelung ihrer Ausübung durch die kirchliche Autorität. Daher kann der Ordinarius auch schon während der Voruntersuchung Maßnahmen ergreifen. Wo und soweit dies geschieht, wird der Beschuldigte faktisch früh über die Ermittlungen informiert. Die Leitlinien und mehrere Bistümer beziehen den Beschuldigten schon früh ein.

In jedem Fall sollte die Vorermittlung so schnell wie möglich abgeschlossen werden. Ist der Verdacht hinfällig, kommen alle Unterlagen in das bischöfliche Geheimarchiv, andernfalls zur Glaubenskongregation. Dem Bischof ist die Entscheidung über das weitere Vorgehen entzogen. Er kann lediglich ein Votum abgeben.

Das kirchliche Strafverfahren

In der Regel wird ein deutsches Diözesangericht mit dem Strafverfahren beauftragt. Sobald es eröffnet ist, gilt für alle Prozessbeteiligten das päpstliche Geheimnis. Sie dürfen ihr unverbrüchliches Schweigen „in keiner Weise, unter keinem Vorwand, auch nicht um eines höheren Gutes oder einer noch so dringenden bzw. schwerwiegenden Sache willen“ brechen. Der Hinweis, die Geheimhaltungspflicht beziehe sich nur darauf, dass und was jemand im Verfahren gefragt wurde und was er geantwortet hat, nicht aber auf das, was er unabhängig vom Verfahren weiß, wird als nicht hilfreich angesehen. Zum einen ist die Subtraktion „Gesamtwissen minus Wissen aus dem und über das Verfahren“ für den Durchschnittsgläubigen nicht durchführbar, und schon, wenn er sich nicht sicher ist, muss er schweigen. Zum anderen wird eine über die Verfahrensdauer hinausgehende Schweigepflicht als kontraproduktiv eingestuft. Sie wirke abschreckend auf die Opfer und damit nicht aufklärungsförderlich. Zur Wiedergewinnung des Vertrauens sei mehr Transparenz notwendig als das päpstliche Geheimnis erlaube.

Die Staatsanwaltschaft

Ermittelt die Staatsanwaltschaft bereits, wenn der Bischof vom Verdacht Kenntnis erhält, läuft das kirchliche Verfahren zusätzlich, aber ggf. weniger aufwendig. Die Kirche beantragt bei der Staatsanwaltschaft Akteneinsicht und nimmt Erkenntnisse daraus zu ihren Akten. Manchmal wird dann auf die kirchliche Aussage des etwaigen Opfers verzichtet. Der kirchliche Opferkontakt gilt überhaupt als prekär: Psychologisch, weil unnötige und unprofessionelle Befragungen weiter traumatisieren können, und rechtlich, weil das Opfer Zeuge in einem staatlichen Prozess sein kann und dem Täteranwalt keine Vorlagen gegeben werden dürfen.

Aus kirchlicher Sicht können Mitwirkende an der kirchlichen Voruntersuchung von der Staatsanwaltschaft als Zeugen vernommen werden, solange der kirchliche Strafprozess noch nicht begonnen hat. Auch die Kirche stellt ihre Erkenntnisse aus der Voruntersuchung zur Verfügung. Ist diese abgeschlossen, sind ihre Unterlagen unzugänglich, weil im Geheimarchiv oder im Vatikan oder als Bestandteil der Prozessakten unter päpstlichem Geheimnis. Ein nennenswerter Raum für staatliche Ermittlungen besteht jetzt nicht mehr. Ermittlungsmaßnahmen, die sich gegen zeugnisverweigerungsberechtigte Personen richten und voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würden, über die die Betreffenden das Zeugnis verweigern dürften, sind unzulässig, entsprechende Gegenstände beschlagnahmefrei. An kirchlichen Strafverfahren Beteiligte können sich daher auf das Zeugnisverweigerungsrecht in seelsorglichen Dingen berufen, der Bischof aus demselben Grund den Zugang zum Archiv verweigern. Kirchenamtlich gelten auch Prozesse als Seelsorge. Inwieweit Staatsanwaltschaften das akzeptieren, ist nicht einheitlich vorherzusagen. Der Papst kann um Dispens von der Schweigepflicht gebeten werden.

Der Täter

Der Täter kann durch Strafen oder Disziplinarmaßnahmen in der Ausübung seiner Rechte und Amtsbefugnisse beschnitten oder durch Entlassung aus dem Klerikerstand gänzlich amtsunfähig gemacht werden. Diese Entlassung gilt gleichwohl als problematisch. Sie schafft das Problem nicht aus der Welt, sondern überlässt es ihr. Es kann sinnvoll sein, einen möglicherweise lebenslang Rückfallgefährdeten im außerseelsorglichen Einsatz unter kirchlicher Aufsicht zu belassen.

Wenn und soweit Wiederholungstaten ausgeschlossen werden können, wird auch der seelsorgerliche Wiedereinsatz diskutiert. Die Gemeinden stehen dem verständlicherweise skeptisch gegenüber. Ein Recht auf Information über das Vorleben eines Seelsorgers haben sie nicht. Die Risikoabwägung ist Sache des Bischofs.

Die Bischöfe
Blinder Fleck

In der öffentlichen Debatte in Deutschland gibt es einen gewissen blinden Fleck. Zum einen fixieren sich die Medien gewohnheitsmäßig auf den Vorsitzenden der Bischofskonferenz. Er ist medienpräsent, aber rechtlich nicht potent. Er ist Sprecher, nicht Oberer seiner Kollegen. Nach wie vor ist der kirchliche Umgang mit sexuellem Missbrauch in den eigenen Reihen nicht den Leitlinien der Bischofskonferenz zu entnehmen, sondern nur der 27fachen Normierung und Praxis der einzelnen Bischöfe. Und nach ihrer persönlichen, mindestens indirekten Verantwortlichkeit und nach dem Ob und Wie einer institutionellen Verantwortlichkeit und etwaigen Konsequenzen daraus wird selten und wenig nachhaltig gefragt. Einzig das Fernsehmagazin „Panorama“ hat einmal Erzbischof Marx gefragt: „Bischof Ackermann spricht von Vertuschung. Wie wollen Sie denn mit Vertuschern in ihren eigenen Reihen umgehen?“ Als der Erzbischof auswich, stieß die Journalistin nach: „Was hat es dann denn für Folgen für so einen Bischof?“. Der Erzbischof zeigte sich verwirrt, geriet ins Stocken und meinte schließlich: „Es gibt keine ... Ich versteh’ die Frage nicht ... Um was geht es denn?“ Genau das ist das Problem: Die erkennbare Schwierigkeit, Verantwortlichkeit überhaupt zu erkennen, geschweige denn mit spürbaren Konsequenzen zu übernehmen.

Entschuldungsstrategien

Die deutschen Bischöfe sahen sich 2002 „in die Verantwortung gerufen“, als hätten sie die nicht schon immer gehabt. Auf welche anderen mindestens Mitschuldigen wurde seither nicht gezeigt: den Säkularismus, Materialismus, Relativismus, die 68er und eine übersexualisierte Gesellschaft, die kirchenfeindlichen Medien, die Folgen des II. Vatikanums. Mit unschöner Regelmäßigkeit wird auch das Stereotyp bemüht, sexuellen Missbrauch gebe es in jedem Gesellschaftssektor - als wenn das etwas änderte und man mit sexuellem Missbrauch in der Kirche wie mit Montagsautos leben müsste. Wieviele öffentliche Entschuldigungen hörten sich eher nach Rechtfertigung an, nach Skandalmanagement und professioneller Öffentlichkeitsarbeit? Da werden in anonymer Wir-Form und abstrakt „Fehler“ und „Irrtümer“ bedauert, einzelne oder tragische, aus heutiger Sicht und trotz bester Absicht. Peinlicher noch: das Bedauern, nicht in der Lage gewesen zu sein, das Eindringen dieses Skandals in die Kirche zu verhindern, als sei da ein Angriff von außen erfolgt. Am Peinlichsten: das Konditional-Bedauern „Wenn ich jemanden geschädigt haben sollte, ...“. Alle diese Strategien reklamieren moralische Unschuld wegen guten Willens.

Verantwortung ist persönlich und konkret

Das reicht nicht für Repräsentanten einer Institution, die wie niemand sonst den immer höchstpersönlichen und konkreten Charakter von Schuld und Sünde betont. Man kann nicht Pauschalbeschuldigungen indigniert ablehnen, aber Pauschalentschuldigungen akzeptiert sehen wollen. Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre kann Unwissenheit nicht mehr geltend gemacht werden. Wer wissen wollte, konnte wissen!

Ein Bischof ist von Amts wegen verpflichtet, sich um alle Gläubigen zu kümmern, gleich welchen Alters und einschließlich Betroffener von sexuellem Missbrauch, auch wenn sie aus der ordentlichen Seelsorge einen hinreichenden Nutzen nicht ziehen können oder kirchenabständig geworden sind. Er hat dafür zu sorgen, dass die Kleriker die ihrem Stand eigenen Verpflichtungen richtig erfüllen, er hat persönlich zu prüfen, ob jemand für den Priesterstand und für ein Kirchenamt geeignet ist. Er ist für die berufsbegleitende Aufsicht und Visitation, übrigens auch der kirchlichen Schulen, einschließlich der Ordensschulen, verantwortlich. Zwar genießen Orden päpstlichen Rechts (z. B. Jesuiten oder Benediktiner) eine weitgehende Autonomie in der Durchführung ihrer apostolischen Werke, zu denen sie auch die Schulen und Internate zählen werden. Unmittelbare dienst- und arbeitsrechtliche Durchgriffsmöglichkeiten hat der Diözesanbischof entsprechend nicht. Zum Zu- oder Wegschauen ist er aber keineswegs verurteilt. Entdeckt er etwa Missstände, die der Ordensobere trotz Mahnung nicht beseitigt, kann der Diözesanbischof aus eigener Autorität eingreifen. In dringenden und schweren Fällen kann er einem Ordensmitglied den Aufenthalt in der Diözese verbieten. Er muss dies sofort dem Apostolischen Stuhl melden. Ein Metropolitanbischof hat darauf zu achten, dass all das in seinen Suffraganbistümern genau eingehalten wird, und Missbräuche dem Papst zu melden.

Fahrlässigkeit im Amt?

1983 hat Papst Johannes Paul II. einen neuen Straftatbestand eingeführt: den des fahrlässigen Amtsmissbrauchs. Ihn begeht z. B. ein Bischof, der jemandem Schaden zufügt, indem er erforderliche Amtshandlungen unterlässt. Ein Bischof, der meint, eine „pastorale“ Intention entbinde ihn von der Befolgung kirchlichen Rechts, trennt, was nach kirchlichem Selbstverständnis nicht trennbar ist, und pervertiert Pastoral (= hirtliches Handeln) von der Fürsorge zur Willkür. Für Straftaten von Bischöfen ist allein der Papst zuständig. Der grundsätzliche kirchenrechtliche Anspruch auf Schadensersatz gilt auch für diesen Fall. Inwieweit sich daraus zivile Haftungsansprüche ableiten lassen, wird vor allem in den USA kontrovers diskutiert.

Vor diesem Hintergrund wird amtlich nach innen die strikte Aufsichts- und Sanktionsverantwortung des Bischofs eingeschärft und zugleich nach außen betont: Rechtlich könne die Beziehung zwischen dem Diözesanbischof und seinen Priestern weder als öffentlich-rechtliches hierarchisches Untergebenenverhältnis im staatlichen Sinne verstanden werden noch als abhängiges Arbeitsverhältnis. Beides werde der sakramentalen Eigenart des Verhältnisses nicht gerecht. Der Priester habe in der Ausübung seines Dienstes wie auch persönlich und privat einen Entscheidungsspielraum. Hier sei er persönlich und nicht der Diözesanbischof verantwortlich. Deshalb könne der Bischof auch nicht für Rechtsverstöße eines Priesters verantwortlich gemacht werden. Strafrechtliche Folgen oder Schadensersatzforderungen träfen nur den Priester, nicht den Bischof. Das gelte speziell auch in Fällen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker. Die Grundargumentationsfigur ist dabei sehr einfach: Es mag aussehen und sich anfühlen wie ein weltliches Unterordnungs- und Weisungsverhältnis, ist es aber nicht. Denn es ist religiös begründet.

Erlaubte Fragen

Jeder einzelne Bischof darf und sollte gefragt werden, ob und warum auch er vor diesem Hintergrund „ein reines Herz“ hat. Er darf und sollte gefragt werden,

Jeder Bischof darf und sollte gefragt werden,

Und schließlich darf und sollte jeder Hierarch, der nun (plötzlich) die Möglichkeit von Reformen in puncto Zölibat, Beurteilung homosexueller Beziehungen oder wiederverheirateter Geschiedener anspricht, gefragt werden, auf welchem Wege konkret und in welchem Zeitraum er gedenkt, seine Optionen durchzusetzen. Regelmäßig darf und sollte er nach den konkreten Fortschritten bei seinen Reformbemühungen gefragt werden.

Eine Antwort ...

... schuldet der Bischof rechtlich weder den vielen ordentlich arbeitenden Priestern noch erst recht den Laien. Aber daran, ob er in der Ich-Form und konkret antwortet oder nicht, werden sie erkennen, was es bedeutet, sein Amt sei Dienst.

* Erweiterte Fassung eines Kurzvortrags beim „Podium: Sexueller Missbrauch von Kindern in pädagogischen Einrichtungen. Informationen aus der Wissenschaft“, das am 7. Mai 2010 vom „Zentrum für Religion und Gesellschaft“ (ZERG) der Universität Bonn veranstaltet wurde. Der Vortragsstil wurde beibehalten. Die Veranstaltung wurde von uni-bonn.TV aufgezeichnet. Die Sendung wie eine ausführlich wissenschaftlich belegte Fassung des Beitrags mit weiteren Informationen ist einzusehen unter: http://www.zerg.uni-bonn.de/veranstaltungen/zerg-aktuell.

Zum Autor:
Der Autor ist Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und Honorarprofessor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. (http://www.kirchenrecht.uni-bonn.de/).


© imprimatur Oktober 2010
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