Die jüngsten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche werden inzwischen auch von der Kirchenleitung als offensichtliches Problem zugegeben. Die Erklärungsversuche und Veränderungswünsche reichen vom Beharren des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Zollitsch, dass die Missbrauchsfälle nicht ursächlich mit dem Zölibat zusammenhängen, bis zur gegenteiligen Unterstellung wie in den Forderungen der Initiative „Wir sind Kirche“[1] , dass der Zölibat überprüft und die katholische Kirche grundlegend demokratisch reformiert werden müsse. Aber der grundsätzliche Verrat an der messianischen Botschaft Jesu, die Tatsache, dass ein deutscher Bischof erst auf öffentlichen (außerkirchlichen) Druck zurücktrat und die Tatsache, dass die Vertuschungspraxis letztlich weitergeht, verweisen auf eine Dimension der Krise der Kirche, von der Joseph Ratzinger möglicherweise mehr ahnt als alle kirchlichen Reformbewegungen zusammen.
Macht und Missbrauch
Priester sollen sich aus der Perspektive der Hierarchie als Hirten verstehen. Sie sind die vom Papst (Gott) eingesetzten „Hüter“ der „Herde“ (Gemeinde). Der Hirte sammelt, leitet und führt, er ist der „Retter“ der Herde, er sorgt für die Nahrung und „kennt das Ziel der Herde“. Er wacht und überwacht die Herde[2]. Diese Überwachung besteht bis heute aus Elementen politisch-herrschaftlicher Kontrolle durch Dogmen, ethische Instruktionen, Implantierung sozialer Kontrollmechanismen und nicht zuletzt aus dem „Geständnis“. Der Theologe Karl Rahner hatte das Pfarreisystem deshalb zu Recht mit Polizeirevieren verglichen[3]. Die Schafe sind Besitz des Hirten, er führt und leitet nicht nur, er kontrolliert auch: Die Geschichte der Beichte ist auch die Geschichte des intimsten Zugriffes der Hirten auf das Leben der ihm Anempfohlenen: Wer sollte vor den Körpern Halt machen, wenn ihm die Seelen schon gehören? Dieses System hat sich über die Jahrhunderte institutionell verdichtet und sich - bei aller Brüchigkeit - offenkundig bis heute gehalten. In diesem Konstrukt der nie ausgesprochenen, aber immer noch existierenden Superiorität des „von Gott“ und nicht von der Gemeinde erwählten Hirten ist wohl nicht zuletzt auch Raum genug für die übelsten Perversionen und schlimmsten Machtmissbräuche, die man denken kann: Der seelische und damit letztlich immer auch körperliche Missbrauch in der Kirche (als Gebrauch, d. h. als objektivierende, inferiorisierende Behandlung) ist Teil ihres Selbstverständnisses. Dieses Selbstverständnis aber, darauf kommt es an, ist Teil eines mittelalterlich-feudalen Knotenpunktes gesellschaftlicher Macht, der durch die Kirche gebunden wurde und in dem sie Legitimität und Selbsterhaltung findet.
Die Institution über allem
Dieses Machtverhältnis immunisiert sich vor sich selbst und seinen Irrwegen dadurch, dass seine Träger sich als Teil einer „heiligen Institution“ begreifen, die auch durch die abscheulichste Praxis in ihrer Sendung und Übergeschichtlichkeit nicht in Frage gestellt ist. So können auch die abstrusesten Praxen noch als dem Willen Gottes gemäß interpretiert werden. Und dabei geht es nicht nur um Kindesmissbrauch, sondern auch um die unerträgliche Anpassung an herrschende Verhältnisse, den Umbau von Kirchen in „Religionskonzerne“ oder Rationalisierungsprozesse gegen den Willen von Gemeinden. Kirche wird als ein überweltliches Konstrukt verstanden, das im Verständnis ihrer „Heiligen“ durch keine wie auch immer geartete Wirklichkeit gefährdet ist, und dessen Botschaft zweitrangig geworden ist. Die Beibehaltung des mittelalterlich-feudalen institutionellen Selbstverständnisses bei gleichzeitigen neoliberalen Strukturreformen verweist auf die dramatische Unfähigkeit der Kirche, sich in einer kapitalistisch-globalisierten, einerseits religiös und weltanschaulich differenzierten und andererseits vom Einheitsdenken bestimmten Welt zu verorten.
Die Angst hinter allem
Das II. Vatikanum von 1962-65 war der Versuch der katholischen Kirche, sich
aus diesem Ungleichzeitigkeitsverhältnis zu befreien und einen neuen, einen
eigenen Ort in der Welt, in den unterschiedlichen Gesellschaften der Moderne
zu bestimmen. Der Optimismus in Bezug auf die Freiheitsmöglichkeiten, die
Fortschrittsfähigkeit und die Demokratiepotentiale der damaligen Zeit war
groß, vielleicht zu groß und rief die vatikanischen Gralshüter
auf den Plan. Leise und fast unbemerkt wurde jedes Risiko, das die Konzilskirche
einzugehen bereit war, um einen messianischen Ort in der Welt zu finden, hintergangen:
Durch Bischofsersetzungen, Entmachtung von Bischofskonferenzen und nicht zuletzt
durch Verrat, wie im Fall von Bischof Romero. Die verzweifelte Suche nach Legitimität
lässt Angst erkennen: Angst, das Alleinvertretungsmonopol auf Hoffnung
und Sinn, wie auch immer sie aussehen, zu verlieren, Angst, diesmal sehr weltlich
gedacht, dieses Monopol als gesellschaftliche Institution, als wichtiger Faktor
gesellschaftlicher Meinungs- und Hegemoniebildung zu verlieren (ohne zu begreifen,
dass es schon längst verloren ist).
Solange diese Angst nicht überwunden ist, solange sich auch Reformbestrebungen
und -forderungen auf liberale Strukturreformen reduzieren, werden die Kirchen
keine Zukunft haben. Zurück zur biblischen Botschaft, zur radikalen Verkündigung
(und Praxis!) prophetischer Reich-Gottes-Gerechtigkeit — und von dort
aus nach neuen Organisationsformen suchen! Einen anderen Weg gibt es nicht.
Es ist ein Weg mit unbekanntem Ausgang, wie ihn auch der Evangelist Markus angesichts
des leeren Grabes vorschlägt: „Er geht euch voran nach Galiläa.
Dort werdet ihr ihn sehen, wie ich gesagt habe.“ Dorthin zurück,
wo alles begann zurück in die Katakomben. Aber „werden wir, werden
die Kirchen den Mut dazu haben“ wie Johann Baptist Metz kürzlich
auf einer Tagung des ITP fragte?
Aus: Rundbrief 33/2010
Institut für Theologie und Politik, Münster
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