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Gerhard Hartmann: Wählt die Bischöfe
Macht, Sexualität und die katholische Kirche
Crime-Time in imprimatur


Paul M. Müller
Gerhard Hartmann: Wählt die Bischöfe
Ein Vorschlag zur Güte und zur rechten Zeit
Kevelaer (Topos plus) 2010, 187 Seiten


Die Krise der Glaubwürdigkeit der Kirche hat u.a. die Frage der Bischofsbestellungsverfahren neu in den Vordergrund gerückt. Gerhard Hartman, Privatdozent für neuere Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz, informiert über die historische Entwicklung der Bischofsbestellungen. Er berichtet detailliert über die Konflikte bei Bischofsernennungen der jüngeren Vergangenheit und macht einen „Vorschlag zur Güte“, mit dem man in angemessener Weise zu den ursprünglichen Formen der Bischofswahlen zurückkehren kann.

Bischofsernennungen und Bischofsrücktritte, Kirchenaustrittszahlen, Verlust der Kirche an Ansehen und Glaubwürdigkeit, die Entwicklung der Kirchenverfassung hin zu einer „absoluten päpstlichen Monarchie“, der immer noch grundsätzliche Dissens der Kirche zur modernen demokratischen Gesellschaft, ihr Selbstverständnis als „societas perfecta“, ihr Beharren auf der überzeitlichen Bedeutung der tridentinischen Messe mit einer grenzenlosen Überhöhung des zölibatären Priesteramtes (nur für Männer) und nicht zuletzt die heutige Praxis der Bischofsbestellungen mit vielen unseligen päpstlichen Ernennungen ohne Berücksichtigung lokaler Voraussetzungen und demokratischer Verfahren veranlassen den Autor zu seiner Forderung nach Demokratisierung der Kirche, die sich gerade auch in neuen Bischofswahlen niederschlagen soll. Er postuliert eine „Verbreiterung der Mitwirkung bei der Bischofsbestellung, die keine Frage der katholischen Glaubenssubstanz berührt“. (11)

Mit diesem kirchenkritischen Ansatz und der Grundintention seines Buches nimmt Hartmann die Leser mit auf eine historische Reise, um sie mit den unterschiedlichen Formen der Bischofsernennungen von der frühen Kirche bis heute vertraut zu machen. Auf diesem Weg zeigt sich, dass die Beteiligung der Laien an Bischofswahlen, von der frühen Kirche bis heute, in ihren unterschiedlichen Formen sukzessiv zurückgeht. Dieser wachsende Verlust demokratischer Möglichkeiten bei der Bischofsbestellung verstärkt sich im 19. Jahrhundert mit der Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit und des Jurisdiktionsprimates des römischen Bischofs. „Vor allem unter den Pius-Päpsten (Pius IX., Pius X., Pius XI., Pius XII.) erreichten päpstlicher Monarchismus und Zentralismus ihren Höhepunkt“. (39) Nicht weniger deutlich aber ist auf dem Weg durch die Geschichte der Kirche zu erkennen, dass die Wahl des Bischofs, in welcher Form auch immer, die ursprünglichste Weise der Bischofsernennungen darstellt.

Im zweiten Teil des Buches werden die heutigen gültigen Bestimmungen des Kirchenrechts und der Konkordate im deutschen Sprachraum dargestellt. Der dritte Teil widmet sich genauer den zwiespältigen Abläufen bei jüngeren Bischofsernennungen in Chur, Köln und Salzburg 1988. Diese und andere Beispiele belegen exemplarisch die Notwendigkeit der Beteiligung der Laien an der Wahl ihrer Oberhirten.

In einem vierten Teil bietet der Autor einen Überblick über die jüngere „Diskussion zur Demokratisierung der Kirche“ und über neuere Vorschläge zur „Verbreiterung des Bischofsbestellungsmodus“ in der lateinischen Kirche. Schon die Würzburger Synode von 1971-1975 hatte für die neu eingeführten diözesanen Räte bereits die „Mitwirkung im Verfahren für die Bestellung des Bischofs und der Weihbischöfe im Rahmen des jeweils geltenden Rechts“ gefordert. (139) Die österreichische Synode von 1972- 1974 beschloss folgende Empfehlung: „Es sind Formen zu suchen, die ein Mitwirken des ganzen Volkes Gottes bzw. seiner Gremien bei der Erstellung der Kandidatenliste für das bischöfliche Amt ermöglichen“. (139)

Schließlich macht Hartman selbst einen beachtenswerten „Vorschlag zur Güte“, der die stärkere Beteiligung der Laien an Bischofswahlen intendiert. (154-162) Er betont dabei ausdrücklich, dass die Diskussion um dieses Thema nicht abbrechen darf. Sie soll sich zudem nicht auf den deutschen Sprachraum beschränken. Neben der Fülle von Sachinformationen zum Gegenstand des Buches verfügt der Band über eine umfassende Literatur- und Quellenangabe.

Die Bedeutung von „Wählt die Bischöfe“ liegt nicht allein in dem „Vorschlag zur Güte und zur rechten Zeit“, sondern in der Einbettung dieser speziellen Intention in einem breiten historischen und kanonischen kirchenkritischen Kontext. Der Autor zeigt in aller Deutlichkeit, dass er mit dem Anliegen der stärkeren Beteiligung der Laien bei Bischofswahlen den römischen Zentralismus mit seiner monarchischen Grundverfasstheit im Ganzen aufbrechen will. Ein lesenswertes Buch, gerade in einer Zeit, in der das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des moralischen Anspruchs der Kirche erkennbar gelitten hat und noch leidet. (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach Juni 2010) Das Buch erinnert die Kirche, die sich immer noch antimodernistisch abschottet, an die Geistesgabe der Unterscheidung zwischen der Grundbotschaft des Christlichen und ihrem historischen Gewand. Die Demokratisierung der Bischofsernennungen könnte ein signifikanter Schritt unter anderen sein, um die Sperrigkeit so mancher hierarchischer Entscheidungen aufzubrechen.

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Bischof Geoffrey Robinson
Macht, Sexualität und die katholische Kirche
Eine notwendige Konfrontation
Verlag: Publik-Forum Edition TB,
318 Seiten, Mai 2010


Sex und Macht, das sind die miteinander zusammenhängenden zentralen Themen des Buches des australischen Bischofs Geoffrey Robinson. Er distanziert sich von der überkommenen Sexuallehre der katholischen Kirche sowie von deren inneren Machtstrukturen. Nach dem Rücktritt als Leiter der australischen bischöflichen Kommission zur Aufklärung sexuellen Missbrauchs durch Kleriker schrieb er:

»Es ist eines der hässlichsten Kapitel in der katholischen Kirche, dass eine erhebliche Anzahl von Priestern und Ordensleuten Minderjährige sexuell missbrauchte und dann viele Kirchenbehörden auch noch versuchten, den Missbrauch zu vertuschen. Ein krasserer Widerspruch zu allem, was Jesus Christus lehrte, ist schwer vorstellbar, und der tief greifende und dauerhafte Schaden für die Kirche ist kaum zu überschätzen«.

Für Bischof Robinson steht eine Generalrevision der beiden Bereiche an. Entscheidende Kriterien dabei sind die Liebe und die Nähe zum Evangelium. Die Treue zur Person und Botschaft Jesu hat für ihn einen ungleich höheren Stellenwert als die Bindung an überkommene kirchliche Lehrmeinungen.

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Lutz Lemhöfer
Klerus, Klüngel, Kripo
Zu: Gisa Klönne, Farben der Schuld,
Ullstein, Berlin 2009, 362 Seiten, 19.90 Euro


Es gibt Krimis, die folgen einem ganz klaren roten Faden: Ein Mord passiert am Anfang, der Detektiv nimmt die Ermittlung auf und folgt dabei dem roten Faden einer ersten Spur, der ersten Indizien: zwar geht die Ermittlung mehrfach auch Seitenwege, kehrt aber immer zurück und verdichtet sich schließlich zur Entlarvung des Täters.
Dieser Krimi von Gisa Klönne folgt einem anderen Bauplan. Mehrere, zunächst von einander unabhängige Handlungsfelder mit eigenen Akteuren tauchen nacheinander auf, mehrere parallele Handlungsstränge gehen nebeneinander weiter, und erst ganz allmählich erahnt man die Berührungspunkte, bis in einem dramatischen Finale erstmals wirklich klar wird, wer und was hier wie miteinander zusammenhängt in einem mörderischen Beziehungsknoten.

Es fängt an wie ein Liebesroman: Eine anonyme Frau erwartet ihren ebenfalls anonymen Geliebten, in freudiger Erwartung. Erst spätere Reprisen dieses - durch Schrägdruck hervorgehobenen – älteren Handlungsstrangs machen deutlich, dass damit die Freude auch schon vorbei ist. Er will sich trennen, obwohl oder weil sie ein Kind von ihm erwartet, der Kontakt bricht ab.

Geh! Bitte, geh, fordert er, sobald er sie sieht.
Aber hinter der Kälte und Wut in seinen Augen liest sie jetzt noch etwas anderes, etwas, das sie so nie erwartet hat. Angst vielleicht. Angst vor ihr? Du wirst mich vernichten, flüstert er. Du wirst mein Leben zerstören. Ist es das, was du willst, ja? Mich leiden sehen, mir alles nehmen, so dass mir nur noch ein Weg bleibt, der letzte Weg?
Ihre Schuld, es ist ihre Schuld, wenn er sie nicht mehr liebt. Sie hat ihn verführt, hat seine Grenzen nicht respektiert. Sie hat nicht zugehört, was er ihr sagte, weil sie so verliebt war, so blind. Rasend vor Liebe. Es tut so weh und hört nicht auf. Warum nur hat sie ihn kennengelernt? (S. 139)

Namen oder das jeweilige persönliche Umfeld werden nicht benannt, aber offensichtlich handelt es sich um einen amour fou – eine Liebe, die nicht sein darf. Da im Fortgang des Buchs der Kölner Klerus in den Blick kommt, lassen sich aber Zusammenhänge ahnen.

Erst nach diesem Einstieg außerhalb von Raum und Zeit beginnt die klassische Krimihandlung vom Mord bis zur letztlich erfolgreichen Ermittlung, exakt datiert auf einen Zeitraum von knapp 2 Wochen, vom 22. Februar bis zum 4. März. Eine Leiche wird gefunden, erstochen, fast auf den Stufen der ehrwürdigen Kölner Kirche St. Pantaleon. Ein Mann in Priestersoutane, die sich aber bald als Kostüm entpuppt, es ist Karneval. Die Ermittlung im familiären Umfeld des ermordeten Arztes ergibt wenig für ein etwaiges Motiv. Dafür wird wenig später der echte Priester Gregor Röttgen ermordet, der Leiter der Kölner Telefonseelsorge: ein konservativer, zu Rigidität und Kontrolle neigender Kleriker, über den zunächst ebenfalls nichts bekannt wird, das einen Mord begründen könnte.

Sie denkt über Georg Röttgen nach. In der Kölner Frauenszene galt er als Hardliner, als Günstling des Kardinals, hat ihre Freundin Cora ihr verraten. Röttgen predigte schon mal vom Lebensrecht eines ‚Zweizellenmenschen’ im Mutterleib, hetzte gegen Abtreibung und Verhütung und außerehelichen Geschlechtsverkehr, machte den katholischen Frauenberatungen das Leben schwer.
Doppelmoral. Scheinheiligkeit. Ist es das, was den Hass des Mörders schürt? (S.198)

Mit der Telefonseelsorge ist ein Nebenschauplatz eröffnet, dessen Verwobenheit ins Geschehen erst langsam in Spurenelementen sichtbar wird. Dort bewegt sich einerseits die Ehrenamtliche Ruth Sollner, eine arbeitslose gelernte Sekretärin und alleinerziehende Mutter. Eine bis zur Zwanghaftigkeit ordentliche, bemühte Frau, einfühlsam und aufgeschlossen am Telefon, aber völlig überfordert vom Lebensstil ihrer 18jährigen Tochter, dem Gruftimädchen Beatrice – pardon: sie hört nur auf „Bat“, „Beatrice“ ist spießig. Sie schwänzt die Arbeit als Lehrling in der Friedhofsgärtnerei, verschmäht die Fürsorge der Mutter und liebt seit dem Tod (Freitod?) ihrer besten Freundin Jana eigentlich nur noch ihr Chamäleon „Penthesilea“, genannt Penti. Dessen Fütterung mit lebendigen Insekten verschlampt sie oft genug, so dass ihre Mutter trotz Ekelgefühlen auch dies noch auf sich nimmt – immerhin speist das Tier, anders als die saufende Tochter, was man ihm anbietet. Diese mit Kirchenbetrieb nur wenig kompatible Tochter putzt aber in der Telefonseelsorge und kriegt manches mit, was sie nicht mitkriegen soll. Auch das warmherzige Verhältnis des Supervisors Pfarrer Hartmut Warnholz zu ihrer Mutter. Was „Bat“ aber nicht mitkriegt: auch er kommt ins Visier des unbekannten Täters.

Dieser Pfarrer, kompetent und verständnisvoll, ist zugleich Polizeiseelsorger, und in dieser Rolle nimmt ihn die detektivische Hauptfigur in Anspruch: Kriminal-Hauptkommissarin Judith Krieger, bis vor kurzem suspendiert und gerade aus der Reha kommend, körperlich und seelisch noch traumatisiert: sie hatte (im vorigen Krimi „Nacht ohne Schatten“) einen Verdächtigen im Alleingang in ein einsames Haus verfolgt, was mit einer Schießerei endete; dabei wurde eine Zeugin getötet, die Kommissarin verletzt, bevor sie mit letzter Kraft ihrerseits den Täter erschossen hat. Nach der Klinik wartet jetzt ein polizeiinternes Ermittlungsverfahren auf sie, parallel zur Suche nach dem Täter von St. Pantaleon. Sie ist also ständig mit der Suche nach einem Schuldigen beschäftigt und mit dem Grübeln über eigene Schuld, was missgünstige Vorgesetzte zu unfairen Attacken reizt:

„Siehst du Gespenster? Er lehnt im Türrahmen und mustert sie.
„Ich hab dich gar nicht gehört.“ Ihr Mund ist trocken, ihre Knie drohen nachzugeben. Reiß dich zusammen. Nicht jetzt. Nicht hier.
„Ist dir nicht gut?“
„Alles okay, ich war nur in Gedanken.“ Sie spürt den Schmerz in der linken Hand, umfasst die Stuhllehne fester.
„Du siehst gar nicht gut aus.“ Der Leiter der Soko Priester lässt sie nicht aus den Augen. „Ist ganz schön übel, wenn man getötet hat, nicht wahr? Wenn man sich ständig fragt, ob man das nicht hätte verhindern können.“ Er grinst. „Manche Kollegen zerbrechen daran.“
„Was willst du, Holger?“ Er hat sie getroffen. Er weiß das, sie weiß das. Ein Punkt
für ihn. Noch einer. Wieder. (S.191)

Dabei denkt Judith Krieger auch darüber nach, warum sie so geworden ist, wie sie ist - so alleingängerisch, ungeduldig, herrisch. Hat ihr Vater Schuld daran? Der verließ sie, als sie drei Jahre war, auf einem Hippie-Selbstverwirklichungstrip nach Nepal, von dem er nicht zurückkehrte, während Judith mit der Mutter und dem bald dazukommenden neuen Stiefvater nie mehr Vertrauen entwickelte.

Väter, Vertrauen, Enttäuschung: das ist ein durchlaufendes Thema des Romans, auch für Judith Kriegers Kollegen, Kommissar Manni Korzilius. Der entzieht sich seiner nörgeligen, frömmelnden alten Mutter und hat alte Schuldgefühle, weil er als Kind und Jugendlicher nicht verhindern konnte, dass der gewalttätige Vater ihn und eben immer wieder die Mutter zusammenschlug. Das unverarbeitete Schuldgefühl bricht sich dann umgeleitet Bahn in einem wilden Kirchenhass, der die Ermittlungen im klerikalen Kölner Milieu nicht erleichtert.

Beides bricht aus, als er die Totenmesse für den ermordeten Priester besucht.

„Liebe Mitchristen, Ein Mensch hat schwere Schuld auf sich geladen. Er hat getötet. Hier vor unserer heiligen Kirche…“
Schuld. Erbsünde. Der Mensch ist schuldig von Geburt an. Auch ein Junge, dessen Vater im Suff die Mutter schlägt, ist schuldig, schuldig, schuldig. Ich bekenne, dass ich Böses getan und Gutes unterlassen habe. Das Beichtritual. Meistens hat Manni genau wie alle anderen Kinder irgendeine Sünde erfunden. Ich habe in der Schule nicht aufgepasst. Die Hausaufgaben abgeschrieben. Heimlich im Bett gelesen. Oder, wenn ihm gar nichts mehr einfiel: Ich hab unkeusche Gedanken gehabt, mich unkeusch berührt – auch wenn er da noch nicht wusste, wie das ging. Nur einmal ist er ehrlich gewesen, da war er ungefähr zehn. Ich hab meiner Mama nicht geholfen, hat er geflüstert. Ich hab mir gewünscht, der Papa wär tot.
Es war eine Ungeheuerlichkeit, noch während er sprach, hat er das gewusst. Und trotzdem hat er einen Moment lang echte Erleichterung verspürt, fast so etwas wie Frieden. Aber dann drang die Antwort durch das düstere Gitter. Er sollte Jesus um Verzeihung bitten. Er sollte ehrlich bereuen und den Rosenkranz beten. Zehnmal ‚Gegrüßet seist du Maria’ eine ganze Woche lang, und jetzt lauf, Junge, tschüs und sei brav.
Er muss raus hier, sofort. Auf einmal hält er den Salbader des Priesters keine Sekunde mehr aus. (S. 193f.)

Es geht also in diesem Krimi um „Schuld“ nicht nur eindimensional – „Who done it?“ - , sondern in vielen Farben und Schattierungen – den Titel „Farben der Schuld“ habe ich erst im zweiten Anlauf wirklich verstanden. Es fällt auf, dass Schuld gerade auch auf Seiten derer thematisiert wird, die im klassischen Krimi die Guten sind: nämlich die Polizisten. Sei müssen den Schuldigen finden und sind doch selbst keineswegs unschuldig. Die sonst genretypische Schwarz Weiß Zeichnung verschwimmt zugunsten vielfältig schimmernder Grautöne, sie wechseln wie die Farben des Chamäleons, das die Zimmergruft des Gothic-Mädchens schmückt. Nicht einfältig, sondern vielfältig verschlungen sind dann auch die Spuren, die zu der überraschenden Lösung führen und einen unerwarteten Täter entlarven.

Wer war’s? Diese Frage darf hier nicht beantwortet werden; die kriminalistische Auflösung darf natürlich nicht verraten werden. Allzu nah liegt es, stromlinienförmig den Schuldvermutungen zu folgen, die nach der Missbrauchs Diskussion der letzten Monate noch näher liegen als zu der Zeit, als Gisa Klönnes Buch erschien. Aber auch ganz andere Auflösungen sind denkbar. Das belegt eine Kantinen-Diskussion der drei ermittelnden Kommissare. Unerwartet muckt der kirchensensible Ralf Meuser gegen den mal wieder gegen die Kirche wetternden Korzilius auf:

„Halt. Stopp. Ich kann diese Leier nicht mehr hören!“ Meuser, der bislang still seine Suppe gelöffelt hat und, soweit Manni sich erinnern kann, noch niemals laut geworden ist, haut auf den Tisch.
Besteck und Gläser klirren. Es hallt regelrecht nach. Ungläubig starren sie ihn an.
„Ihr tut dauernd so, als wäre das Opfer der Täter.“ Meusers Stimme ist leise vor mühsam beherrschter Wut. „Ihr klagt die Kirche an, statt zu ermitteln.“
„Die Kirche hat Dreck am Stecken, das garantiere ich dir“, sagt Manni.
„Das sind deine Vorurteile!“
„Und du, du bist objektiv? Du verrennst dich in obskure Heiligentheorien, die zu nichts führen!“
„Das tue ich nicht. Aber ich glaube…“
„Glauben, ja genau das ist es! Es passt nicht in dein Weltbild, dass ein katholischer Priester kein Heiliger ist.“
„Wir haben noch längst nicht bewiesen, dass Röttgen den Zölibat gebrochen hat! Sicher ist bislang nur seine Sterilisation.“
„Du willst es nicht sehen, Ralf.“
„Und du rennst mit einer riesigen Selbstgerechtigkeit rum, und schaust auf alle herab, die nicht aus der Kirche austreten wie du. Klar, ja, ich finde auch, es gibt gute Gründe dafür. Der Papst! Und der Kardinal! Das Verbot der Empfängnisverhütung. Und, und, und. Aber das ist nicht alles. Das ist nicht der Kern der christlichen Kirche!“
„Sondern?“
„Barmherzigkeit.“
„Barmherzigkeit.“ Manni lacht auf.
Meuser seufzt, als habe er diese Diskussion schon zu oft geführt. Trotzdem sieht er Manni geradewegs in die Augen, ohne den kleinsten Anflug von Unsicherheit. „Verzeihen können. Großzügig sein. Anderen helfen. Ohne Entgelt und ohne Verpflichtung, einfach nur deshalb, weil das christlich ist.“
Schweigen. Geschirrklappern von den Nebentischen. Das übliche Stimmengewirr.
„Vielleicht hast du recht, Ralf. Vielleicht sind wir wirklich voreingenommen“, sagt Krieger langsam und massiert wieder ihre lädierte Hand. „Und vielleicht ist das genau das, was der Täter erreichen will.“
Meuser nickt. „Ja. genau. Das ist alles so plakativ. Es könnte doch sein, dass der Täter die Morde so inszeniert, dass sie auf die Kirche hindeuten. Er täuscht einen religiös motivierten Serienmord vor…“
„… und lenkt damit von etwas anderem ab“, sagt Judith Krieger. (S.226f.)

Die Suche nach dem Täter bleibt spannend bis zum Schluss. Spannend auf einer anderen Ebene bleibt aber auch die ständig provozierte Reflexion von Schuld. Sie geschieht durch Tun, durch Unterlassen, durch Verdrängen, durch Banalisieren. Aber erst wenn man sie anschauen kann, mag es Schritte zur Lösung (oder gar Erlösung?) geben. Fazit: Ein philosophisch-psychologisch anspruchsvoller Krimi, der die Lektüre lohnt.

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© imprimatur Oktober 2010


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