Karl-Heinz Ohlig
Die Krise des Christentums in Europa bzw. in der westlichen Welt
Das Lehrgebäude ist schwer vermittelbar

Die großen Weltreligionen stehen vor gewaltigen Herausforderungen, wenn sie in Zukunft nicht nur in Gesellschaften oder Gruppen überleben wollen, die noch nicht in der Gegenwart angekommen sind. Hierbei spielen vor allem zwei Faktoren eine Rolle. Zum einen ist ihr gemeinsames Problem, dass sie alle in Zeiten des mythischen Denkens entstanden und zunehmend bei ihren Mitgliedern mit einem kritischen Denken, mit Säkularität und „Aufklärung“ konfrontiert sind. Was Jahrtausende lang Bestand hatte und Lebenssinn und –hoffnung wirksam anbieten konnte, greift in den neuen Zeiten nicht mehr wie bisher und führt zu Schwierigkeiten der Akzeptanz. Hieraus resultiert die Aufgabe, den ererbten Fundus an Überzeugungen, Werten, Verhaltensmustern und Institutionen kritisch zu analysieren und die Essentials auf neue Weise zu präsentieren. Es geht um die Vermittlung von Tradition und Moderne.

Nun ist das Bewusstsein dieser Aufgabe keineswegs schon in allen Religionen und Kulturräumen „angekommen“. In einer Reihe von Kulturkreisen werden zwar die technischen Errungenschaften der Moderne übernommen, aber nur kleine Eliten sind auch in die geistigen Umbrüche hineingezogen. Große Mehrheiten der Bevölkerungen praktizieren ungebrochen ihre tradierten religiösen Verhaltensweisen, obwohl sie Computer, Telefone oder Autos benutzen. Diese Diastase von oberflächlicher Modernität und religiöser Vergangenheitsverhaftung wird z.B. in „islamischen Staaten“ sogar mit politischem Druck gefördert oder erzwungen. In Europa und in der Westlichen Welt aber hat die Spannung oder Kluft zwischen Tradition und Moderne tief reichende Folgen.

Diese Situation wird noch dadurch verschärft, zweitens, dass im Gefolge der Globalisierung Religionen auf eine andere, neue Weise wahrgenommen werden. Ihre Lehrgebäude, ihre Dogmen und ethischen Normen sowie Kultpraktiken lösen sich aus ihren früheren Kontexten, in denen sie unbefragt gelebt wurden. Sie werden nicht mehr nur den eigenen Gemeinden verkündet, sondern können in Medien oder Internet nachgelesen werden. So werden sie zu global bekannten theoretischen Konzepten, zu isolierten Lehrzusammenhängen, die als solche vertreten werden: die Lehre des Christentums, die des Islam, die des Buddhismus usf.

Als global verbreitete Lehren aber erscheinen sie vielen Zeitgenossen als recht seltsam. Das Christentum z.B. lehrt, dass Gott trinitarisch sei; dass wir in Adam alle gesündigt haben; dass Gott uns erlöst, indem er seinen eigenen Sohn opferte; dass der Wanderprediger Jesus inkarnierter Gott ist; dass Sexualität nur in der Ehe und bei nicht verhinderter Fortpflanzung legitim praktiziert werden darf usw. Demgegenüber sagen andere Religionen anderes, was in ähnlicher Weise als seltsam empfunden wird. Diese Lehren charakterisieren für die Öffentlichkeit die jeweiligen Religionen, unabhängig von den Kontexten, in denen sie ihre Ausprägung gefunden haben. Es wird nicht sichtbar, dass es sich hierbei um Vorstellungsmaterial handelt, das in früheren Epochen ganz von selbst die Ängste und Hoffnungen der damaligen Menschen zum Ausdruck brachte und sich auch erst im Lauf von Jahrhunderten herausgebildet hat. Jetzt aber wirken solche bloß theoretischen Aussagen fremd.

Nur in manchen geschlossenen Milieus, z.B. im so genannten Bibelgürtel in den Südstaaten der USA, aber auch in vielen Kleinmilieus innerhalb der westlichen Welt, gibt es keine Akzeptanzprobleme. Allerdings zeigt die sektiererische Aggressivität, mit der diese Lehren von ihren Anhängern vertreten werden, dass es auch bei ihnen ein Wissen oder wenigstens eine Ahnung davon gibt, dass diese Konzepte in der weiteren Umwelt keine Resonanz finden.

In Europa schrumpfen die christlichen Gemeinden. Die Zahl der Kirchenaustritte schwillt an – zusätzlich befördert durch das öffentliche Bekanntwerden von Missbrauch oder sonstigen skandalösen Zuständen –, immer weniger Christen besuchen die Gottesdienste; in der katholischen Kirche gibt es kaum noch „Priesternachwuchs“, so dass schon jetzt in vielen Bereichen keine aktive Seelsorge mehr möglich und ein Ende der „Klerikerkirche“ abzusehen ist. Untersuchungen zu dem, was Christen „glauben“, zeigen, wie weit ihre Überzeugungen von den traditionellen Lehrgebäuden entfernt sind.

Was ist zu tun? Daran, dass die durch die Globalisierung isolierten Lehren umso stärker in ihrer mythischen Eigenart wahrgenommen werden, lässt sich wohl nichts mehr ändern. Es scheint unmöglich zu sein, sie weiterhin in ihrem Wortlaut zu Kriterien des Christseins zu machen. Ebenso wenig kann man sie einfach fallen lassen. Viel wäre schon gewonnen, wenn die thetische und fordernde Sprache – mit der scheinbaren Sicherheit, göttlich Geoffenbartes zu vertreten – zurückgenommen und bescheidener würde.

Vielleicht könnte es helfen – ein anderer Weg zeigt sich nicht –, wenn mehr Mühe darauf verwandt würde, Lehre, Ethik und Praxis aus ihren Entstehungsbedingungen heraus zu erklären. Das Verstehen der kulturgeschichtlichen Hintergründe und der dabei wirksamen Zwangsläufigkeiten, die zu ihrer Entstehung geführt haben, könnte darauf verweisen, was – transponiert in neue Situationen – weiterhin Geltung haben könnte. Die globalisierten Lehren würden dadurch in ihrer oft ausufernden Komplexität reduziert und – abgesehen von der notwendigen wissenschaftlich-historischen Erklärung – einfacher sowie unmythischer, so dass sie dann eine hilfreiche Orientierung für ein sinnvolles Leben in der pluralen Welt sein und ein wenig Hoffnung vermitteln könnten.


© imprimatur Dezember 2010
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