Thomas Assheuer
Papstbesuch in England
Nur der Himmel zählt

Alle Zeichen stehen auf Rückzug: Warum der Vatikan die Öffnung gegenüber der liberalen Gesellschaft bereut und sich hinter klerikalen Mauern verschanzt.

Auch Kirchenskandale dauern nicht ewig. Endlich, so hoffen viele Gläubige, wird die römisch-katholische Kirche zur Besinnung kommen und sich »geistlich erneuern«. Der Papst wird einen neuen Anfang wagen, und zwar schon auf seiner Reise nach England, denn der Papst hat seine Lektion gelernt.

Aber welche Lektion wird es sein? Wird der Vatikan die omertà cattolica, das System des Schweigens und Vertuschens, abschaffen? Wird die Kirche in Zukunft freier werden, weitherziger, offener und »liberaler«?

Wer diese Hoffnung hegt, und das sind nicht wenige Katholiken, der wird womöglich enttäuscht werden. Denn vieles deutet darauf hin, dass Benedikt XVI. zwar seine Haltung zur modernen Gesellschaft verändern wird, aber ganz anders, als die wartende Gemeinde es sich von ihm erhofft. Der Papst wird die neuen »Leitlinien zum sexuellen Missbrauch« umsetzen, er wird sich die »Altlasten« vom Halse schaffen und die Täter kaltstellen. Aber er wird keine Reformation an Haupt und Gliedern einläuten, im Gegenteil. Benedikt, so steht zu vermuten, will sich der pluralen Welt nicht öffnen, sondern sich nun erst recht in den römischen Herrgottswinkel zurückziehen. Seine kirchenpolitische Option heißt nicht Liberalisierung, sondern Selbstverpanzerung und neue Orthodoxie.

Es klingt ganz und gar widersinnig, aber es ist so: Die Empörung über den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen hat Benedikt in dem Verdacht bestätigt, dass die Öffnung der katholischen Kirche zur säkularen Moderne ein Fehler war, ein heiliger Irrtum. Es war falsch, der weltlichen Gesellschaft arglos die Hände zu reichen; es war falsch, dass die Kirche in den sechziger Jahren, beim Zweiten Vatikanischen Konzil, ihr Misstrauen gegenüber dem liberalen Zeitalter überwand und vom Fels Petri herabstieg. Der Preis für das aggiornamento war zu hoch; die wohlmeinende »Angleichung« an die atheistische Moderne, so sieht es Papst Benedikt heute, hat die christliche Botschaft verwässert und ihr dogmatisches Profil verschliffen. Nach dieser Selbstpreisgabe triumphiere der liberale Gegner erst recht über die Kirche, und wenn es dafür noch eines Beweises bedurfte hätte, dann war es die Gehässigkeit, mit der der »böse Feind« die priesterlichen Verfehlungen ins denunziatorische Licht der Öffentlichkeit zerrte. »Es war zu erwarten«, predigte der Papst zum Abschluss des Priesterjahres, »dass dem bösen Feind das neue Leuchten des Priestertums nicht gefallen würde. So ist es geschehen, dass gerade in diesem Jahr der Freude über das Sakrament des Priestertums die Sünden von Priestern bekannt wurden.«

Um ein Missverständnis zu vermeiden: Benedikt XVI. lässt keinen Zweifel daran, dass einzelne Priester große Schuld auf sich geladen haben, und er bittet die Opfer wahrhaft und glaubwürdig um Vergebung. Doch in seinen Augen ist die Skandalisierung der Kirche ein Fall bigotter Selbstgerechtigkeit, sie erscheint ihm als bodenlose Heuchelei. Und warum? Weil der Papst den tausendfachen Missbrauch, die Priesterherrschaft der Pädophilen über die Masse der Wehrlosen, nicht als strukturelle Sünde seiner Kirche begreift, sondern – und hier muss man den Atem anhalten – als Tatbeweis für die Verkommenheit der gottlosen Welt (vgl. auch Christian Geyer in der FAZ vom 22.3.2010).

Diese Verdrehung klingt so unglaublich, dass man sie wiederholen muss: Der Papst versteht die Taten seiner Priester gleichsam als index veri – als diabolischen Ausdruck der sittenlosen Moderne. Die Gewalt ihrer sexuellen Revolution, so muss man ihn verstehen, hat die alte Weltordnung in einen Sündenpfuhl verwandelt, ja schlimmer noch: Sie hat den unschuldigen Leib der Kirche mit der Teufelssaat des sexuellen Begehrens infiziert. Überall, selbst im stockkatholischen Irland, sprangen die Funken der babylonischen Moderne über und verführten den züchtigen Klerus zur Sünde wider den Heiligen Geist. Oder wie der Schriftsteller Martin Mosebach, Benedikt auf ganzer Linie verteidigend, in einem Interview sagt: »Wir müssen uns fragen, wieso es gerade in den unmittelbar auf das Zweite Vatikanische Konzil folgenden Jahren gehäuft zu Sexualstraftaten von Priestern gekommen ist.« Und wieso? Weil von der »innerkirchlichen 68er Revolution« die priesterliche Disziplin gezielt verdrängt worden sei. »Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil legten die meisten Priester die Priesterkleidung ab, sie hörten auf, täglich die Heilige Messe zu feiern, und sie beteten nicht mehr täglich das Brevier. Was Wunder, wenn viele Priester in diesen Jahren sich nicht mehr in überlieferter Weise als Priester empfinden konnten.«

Hier die unschuldige, die sakrosankte Kirche, dort der linke Antichrist: Kirchenhistorikern ist dieses dualistische Narrativ sattsam bekannt, denn es stammt aus einer Zeit, als die Kirche sich schon einmal vom »Großen Satan« herausgefordert fühlte. Im Jahre 1910 zwang Papst Pius X. (1835 bis 1914) alle Priester und Seelsorger, den Antimodernisten-Eid abzulegen; sie mussten bei Strafe der Exkommunikation schwören, sich niemals mit demokratischen »Selbsterlösern« einzulassen, mit jener »Verschwörung« aus Atheisten, Naturwissenschaftlern und Fortschrittsfreunden, die das Paradies auf Erden errichten und sich von der Erbsünde erlösen wollten. Anstatt vor ihnen zu Kreuze zu kriechen, so Pius X., solle die Kirche einfach warten, bis die frevelhafte Neuzeit (»ein Irrtum«) an sich selbst zugrunde gehe.

Wie es der Zufall will, reist Papst Benedikt genau am 100. Jahrestag des »Antimodernisten-Eides« nach England. Natürlich will Benedikt nicht zurück in die Zeiten des Kulturkampfes, aber die Zeichen stehen erneut auf Rückzug vom »Geschwätz« der heillosen Welt. Der Glaube, so der Papst am Palmsonntag, verleihe die »Kraft, sich nicht vom Geschwätz der vorherrschenden Meinung einschüchtern zu lassen«. Auch die Wiederzulassung der lateinischen Messe und die Ablehnung des Friedensgebets der Religionen in Assisi, die Karfreitagsfürbitte für die Juden, die Absage an die Ökumene und die Beleidigung der evangelischen Kirche (»keine Kirche im eigentlich Sinne«) – all dies spricht für eine Strategie der machtgeschützten Weltverneinung, für den Exodus aus dem »Ägypten« der Moderne, der Epoche von »Verirrung und Verwirrung«. Und Antonio Riboldi, der ehemalige Bischof von Acerra, spricht bereits von einem »Krieg zwischen Kirche und Welt, zwischen Satan und Gott«.

Auch das bedingungslose Entgegenkommen des Papstes gegenüber der abtrünnigen Pius-Bruderschaft passt in dieses Programm. Die katholische Sekte, die in ihren lichtlosen Katakomben noch nie die Luft des freien Geistes atmen durfte, ist gleichsam der lebende Antimodernismus. Fanatisch bekämpft sie die Vielfalt der Religionen und die Gewissensfreiheit des Einzelnen. Vor allem aber bekämpft sie das Zweite Vatikanische Konzil. Für die Pius-Brüder ist diese Kirchenreform »das größte Unglück des vergangenen Jahrhunderts«, weil sie den Antimodernisten-Eid abgeschafft und das teuflische Erbe der Französischen Revolution akzeptiert hat, die liberale Trennung von Kirche und Staat. »Da diese Reform vom Liberalismus und Modernismus ausgeht, ist sie völlig vergiftet. Wir bleiben dem Antimodernisten-Eid treu, den abzulegen Pius X. von uns verlangt.« Zu diesem Glaubensbekenntnis passt auch die Judenfeindschaft der Pius-Brüder. »Die Lefebvristen«, sagte der in Harvard lehrende Theologe Harvey Cox der ZEIT, »haben eine lange antisemitische Geschichte«, in der sich »der alte christliche Antisemitismus fortsetzt und den Juden die Schuld am Tod Jesu aufgebürdet wird«. Kein Wunder, dass das Weltbild der französischen Rechtsextremisten und das der Pius-Brüder viele Gemeinsamkeiten aufweisen.

Nun mag man sagen – und einige Autoren in dem Band Der Papst im Kreuzfeuer (Lit Verlag, 2009) argumentieren so –, der Papst handele in Sorge um die Einheit der Kirche, denn jedes Schisma sei eines zu viel. Das mag so sein, aber bemerkenswert bleibt doch, dass er keinerlei Neigung zeigt, die schismatische Verwerfung mit lateinamerikanischen Befreiungstheologen zu beenden, sondern alles daransetzt, die klerikal-orthodoxe Flanke zu stärken. Die Gründe liegen auf der Hand. Für Befreiungstheologen steht die Kirche inmitten der Gesellschaft; sie wollen Gerechtigkeit, damit die Menschen frei werden für Gottes Botschaft. Benedikt aber, und das passt zu seinem platonischen Verständnis des Christentums, versteht seine Kirche als Fels in der Brandung einer unrettbar verlorenen Welt, als erlösenden Stern im Drama aus Leben und Sterben, Schuld und Opfer. Gerechtigkeit gibt es erst im Himmel.

Anders gesagt: Für Benedikt, der griechische Klassiker fast lieber zitiert als die Bibel, gehört das Leiden zur Schöpfung wie der Schatten zum Licht. Auf Erden bleibt der Kirche deshalb nichts anderes zu tun, als die Leidenden zu vertrösten auf den Jüngsten Tag. »Gott ist Liebe«, predigt er, und das ist ein radikaler, gegen alle Freund-Feind-Theoretiker gerichteter Satz, aus dem er allerdings keine radikalen Konsequenzen zieht. »Gott ist Liebe« heißt für den Papst beispielsweise: Wer in Afrika an Aids erkrankt, der soll sich damit trösten, dass Jesus Christus in selbstloser Solidarität mit ihm leidet. Sollten Priester gegen diese Leidensmystik aufbegehren, dann werden sie, wie geschehen, mundtot gemacht. Dagegen haben »Diktatoren oder Kinderschänder, Massenmörder oder aktive Rassisten« – wie der Theologe Hermann Häring bissig vermerkt – vom Papst naturgemäß keine Sanktion zu fürchten.

Und dennoch. So schwer es auch fällt, man sollte den päpstlichen Antimodernismus nicht bloß als Marotte eines Unbelehrbaren abtun, als Phantasma eines intellektuellen Reaktionärs. Denn wie viele Konservative besitzt Papst Benedikt ein seismografisches Krisengespür, und das sagt ihm: Die Moderne ist am Ende, sie hat sich zu Tode gesiegt, sie ist erschöpft von kapitalistischem Götzendienst und sinnloser Emanzipation. Was einmal an menschenfreundlichen Verheißungen in ihr steckte, das hat sie aufgezehrt und banalisiert.

Selbst Flores d’Arcais, ein bekannter italienischer Papstkritiker, räumt ein, Benedikt spüre sehr genau, dass die Welt »ins Straucheln geraten« sei – und daraus schöpfe er Hoffnung für seine heilige Kirche. »Der Papst der Reconquista sieht die Chance für die katholische Wahrheit im Scheitern einer Endlichkeit ohne Zukunft, die jedem einzelnen nur das hic et nunc des unmittelbaren, flüchtigen Genusses gewährt, ohne darüber hinaus reichenden Sinn, ohne Identität und Solidarität« (Ratzinger/d’Arcais: Gibt es Gott?, Wagenbach Verlag, 2009). Warten auf das Ende der Neuzeit – das allerdings wäre genau das Programm von Pius X.: Die Kirche, so glaubte er, muss sich nur in den Exerzitien des Ausharrens üben. Bislang habe sie alle Epochen überlebt – warum nicht auch Aufklärung und Demokratie? Roma aeterna. Die Moderne ist zeitlich und die katholische Wahrheit ewig.

Sollte Papst Benedikt seinem Vorgänger auf diesem Weg folgen wollen, dann würde er sich in einem doch sehr täuschen: Denn anders als der Unfehlbare glaubt, wird die mediengetriebene Öffentlichkeit den Austritt der Kirche aus der Geschichte mit viel profanem Weihrauch begrüßen. Aber sie täte es nicht aus Bewunderung, sondern aus Gründen der Selbstbestätigung. So wie die Zivilisation den Wilden brauchte, um sich zivilisiert zu fühlen, so braucht die Gesellschaft die klerikale Orthodoxie, um am Ende ihre Überlegenheit, ihre moralische Superiorität zu bestätigen. Ist die von Selbstzweifeln geplagte Moderne – verglichen mit dem katholischen kingdom of darkness – nicht eine Quelle von Licht und Freiheit?

Wer all das nicht will – wer den Katholizismus nicht aus der Geschichte entlassen möchte; wer nicht will, dass der Vatikan im Neoklerikalismus erstarrt und unfreiwillig die Entchristianisierung Europas vorantreibt –, dem bleibt nur eins: Er muss sich in frommem Ungehorsam üben, in religiöser Dissidenz. Die Rebellion gegen den Vatikan, so der katholische Moraltheologe Dietmar Mieth, kann sofort beginnen, zum Beispiel mit einem Aufstand gegen den Zölibat. »Wenn sich morgen fünf Bischöfe zusammentäten, um verheiratete Männer zu Priestern zu weihen, würde überhaupt nichts passieren.«

Aus: Die Zeit


© imprimatur Dezember 2010
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