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Jacques Gaillot: Die Freiheit wird euch wahr machen
Rüdiger Kaldewey, Franz W. Niehl: Christentum kompakt
Helmuth James von Moltke: Im Land der Gottlosen


Paul M. Müller
Jacques Gaillot: Die Freiheit wird euch wahr machen
Hg: Roland Breitenbach; Reimund Maier Verlag, Schweinfurt 2010, 223 Seiten

Warum ist Jacques Gaillot weltweit bekannt und geschätzt? Wer ist dieser „kleine Bischof“, der durch den Vatikan am 13. Januar 1995 als Bischof von Évreux abgesetzt wurde? Konkreter Anlass, diese Fragen neu zu stellen und in 25 Beiträgen dieses Sammelbandes zu beantworten, ist der 75. Geburtstag Gaillots, den er am 11. September dieses Jahres mit vielen Freunden in Paris hatte feiern können.

Eine erste Annäherung an Jacques Gaillot bietet die Zeittafel am Ende des Buches (201-207). Geboren am 11. Dezember 1935 in St. Dizier, theologische Studien in Langres, zwei Jahre Militärdienst in Algerien, weitere Studien in Rom, 1961 Priesterweihe, Studien am „Institut de Liturgie“ in Paris, Dozentur in Reims, 1977 Generalvikar im Bistum Langres und 1982 Bischof von Évreux in der Normandie. Nach der Bischofsweihe verstärkt sich bei Gaillot mit vielen kritischen Äußerungen und Aktionen seine Distanzierung von der französischen Bischofskonferenz und dem Vatikan, ja der Amtskirche überhaupt. U.a. unterzeichnet er 1985 den „Appell de Monpellier“, ein Protestschreiben gegen die konservative Linie des Vatikans, nicht zuletzt in der Person Kardinal Ratzingers. Sehr früh hatte Gaillot das Jesuswort verinnerlicht: Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein. (Mk 10,42) In der Konsequenz dieses Wortes hat Bischof Gaillot von Anfang an mit den Menschen, denen er begegnete, auf Augenhöhe gesprochen, um ihnen gerecht zu werden.

Römische Glaubenswächter werden aufmerksam auf den Bischof von Évreux, der das freie Wort über alles liebt. Zu viele seiner Äußerungen und Aktionen passen nicht in ihr hierarchisch gezeichnetes Kirchenmodell.

Es kommt zu einer ersten Bespitzelung des Bischofs seitens der vatikanischen Glaubensbehörde. 1991 beauftragt der Päpstliche Nuntius in Paris den Generalvikar des Bistums Évreux, ihm über die Zustände im Bistum Bericht zu erstatten. Dieser Bericht aber fällt positiv aus. Allerdings aufgrund des üblichen Berichtes der Bischöfe der Region Nordfrankreich von 1992 ermahnt Papst Johannes Paul II. Gaillot, er soll im Chor der Bischöfe und nicht außerhalb des Chores singen.

Gaillot aber bleibt seiner hierarchiekritischen Position treu, bedient sich dabei zunehmend öffentlich-symbolischer Aktionen und ganz bewusst auch der Medien. So kritisiert er die Annulierung der Ehe von Prinzessin Caroline von Monaco, fordert die Anerkennung von homosexuellen Partnerschaften und die Zulassung von Frauen zum Priesteramt. Der Nuntius in Paris verlangt von ihm die Zusicherung, nicht mehr in anderen Bistümern aufzutreten und „gebietet“ ihm, nicht mehr in Radio- und Fernsehsendungen zu reden.

1995 wird Gaillot nach Rom bestellt. Am 13. Januar meldet Agence France Presse, dass Gaillot als Bischof von Évreux abgesetzt worden sei. Der Vatikan verleiht ihm den Titel „Bischof von Partenia“, ein vor 1600 Jahren erloschenes Bistum in der Wüste Algeriens. Dieses virtuelle Bistum aber eröffnet Gaillot in Europa einen neuen Raum der Freiheit, kontraproduktiv zu der Absicht der hierarchischen Kirche, die ihn in der „Wüste“ hatte ruhig stellen wollen. Die Botschaft Jesu, für die zu sprechen Gaillot sich berufen weiß, erhält in dem neuen „Bistums Partenia“ einen außerordentlich großen Raum der Freiheit.

Gaillot ist sich bewusst, dass er mit der konkreten Umsetzung seiner Ideen und seines persönlichen Lebensentwurfes grundsätzlich mit der Kritik der hierarchisch verfassten Kirche rechnen muss. Er schreibt an Eugen Drewermann: „Die Kirche kann es nicht akzeptieren, wenn man ihre Funktionsweise stört“. Dennoch will er die „Mauern ihrer alten Strukturen aufbrechen“ und ihre „Bastionen schleifen“, damit sie sich neu innerhalb der Freiheit versteht, zu der Christus sie befreit hat. „Nur die Freiheit“, so sagt er einmal, „wird die Kirche leben lassen“. „Machtlos, aber frei“, titelt Jacques Gaillot seine Tagebuchnotizen. Er überschreibt seinen Weg in das Wüstenbistum „Partenia“ mit: „Ich wählte die Freiheit“. Seinen Katechismus nennt er „Katechismus, der Freiheit atmet“. (vgl. 19)

Die 25 Beiträge des Buches, unterschiedlich in Form und Inhalt, schließen sich in Dankbarkeit und Verehrung den freien Wegen an, die Gaillot wählt, damit die christliche Freiheit, die „zwar vor Gott, keineswegs aber vor der Kirche gilt“, wie er einmal sagt, nicht in der Wüste von Partenia verdunstet. Die Beiträge belassen es - ganz im Sinn von Gaillot - nicht bei einer negativen Kirchenkritik. Sie nehmen die positiven Ansätze Gaillots, die zeigen wie die Kirche Jesu Christi aussehen könnte, in ihre Würdigungen des Bischofs auf. Sie heben hervor, dass viele Frauen und Männer bereit sind, die ursprüngliche Botschaft Jesu zu übernehmen und existenziell zu leben. Diese Idee der Freiheit lässt den Bischof in seiner Abschiedspredigt in Évreux vor Tausenden sagen: „Ich für meinen Teil, werde in der Gemeinschaft der Kirche (in Partenia) meinen Weg fortsetzen, um den Armen die gute Nachricht zu bringen“. (19)

In ihrem Beitrag „Unterwegs für Partenia“ erinnert Katharina Haller an den hohen Grad der öffentlichen Wirkung Gaillots. (127-133) Das Internet öffnet Gaillot viele neue Türen zu den Menschen, die nicht selten zu persönlichen Begegnungen mit dem Bischof führen. Zudem suchen Kirchengemeinden, Bildungseinrichtungen, Religionslehrerverbände, Klöster, religiöse Gruppierungen aller Art das Gespräch mit ihm. Mancher Ortsbischof allerdings versperrt Jacques Gaillot den Auftritt in seinem „Revier“. Besonders bekannt wird das Verbot einer Podiumsdiskussion Gaillots mit Eugen Drewermann in Bonn durch Kardinal Joachim Meisner, Köln, unter Berufung auf das Kirchenrecht. Jacques Gaillot reagierte gelassen: „Durch Verbot der Gedankenfreiheit gewinnt man keine Zukunft“.

Eines verbindet alle Beiträge des Buches: Die Bewunderung und Begeisterung für Jacques Gaillot, den Bischof von Partenia, dies in durchgehend emphatisch gefärbter Sprache. Der Leser spürt, die Autoren haben auf der Suche nach neuen Inhalten und Formen ihres christlichen Glaubens, in der Person des Bischofs von Partenia eine neue Antwort gefunden, die sie existenziell trägt. In seiner Theologie und Lebenspraxis erfahren sie eine neue Kirche als Haus der Freiheit der Christenmenschen. Das mag ein Grund dafür sein, dass es den meisten Beiträgen an kritischer Distanz mangelt. Bischof Gaillot selbst sieht sich in seiner Betrachtung der Zukunft von Partenia kritischer: „Wir allein können nicht bewirken, dass Partenia überlebt. Vielleicht muss sein Verschwinden akzeptiert werden, damit etwas Neues entstehen kann. Beruht die Kontinuität nicht darauf, dass etwas verschwindet, um Neuem Platz zu machen.“ (173)

Ein lesenswertes Buch über den „kleinen Bischof von Partenia“, der die Türen der Kirche als dem Haus der Freiheit, zu der Christus den Menschen befreit hat, weit öffnen konnte. Jacques Gaillot, den die hierarchische Kirche in die Wüste schickt, hat den Finger auf die Wunden dieser Kirche gelegt. Er hat das römische Monopol der disziplinären Glaubensverwaltung unterlaufen, wie die einzelnen Beiträge mit unterschiedlichen Aspekten hinreichend belegen, indem er dem Evangelium der Freiheit den ihm gebührenden Platz in der Kirche durch sein Wort und sein Verhalten einräumt.

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Benno Rech
Rüdiger Kaldewey, Franz W. Niehl: Christentum kompakt. Inhalte -Traditionen – Praxis
München (Kösel Verlag) 2010, 368 Seiten

Seitdem das bischöfliche „imprimatur“ für religiöse und theologische Schriften, sofern sie für den Gebrauch im Unterricht oder der kirchlichen Unterweisung vorgesehen sind, kaum noch eingeholt wird, kann man auf spannende Bücher zu christlichen Themen rechnen.

„Christentum kompakt“ liegt eine bewährte Gliederung zugrunde: Religion, Christentum, Die Bibel, Gott, Jesus Christus, Kirche, Ethik. Es handelt sich um ein didaktisch mit Umsicht angelegtes Kompendium, in dem man sich rasch zurechtfindet.

Die Bibel gilt den Autoren als „Basis und Orientierungstext“. Die Dogmen der Kirche spielen im Vergleich dazu eine nachgeordnete Rolle. Sie setzen sich nirgends explizit mit Dogmen auseinander, beobachten das Christentum vorwiegend im Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Das ganze Kapitel über die Bibel ist instruktiv und didaktisch effektiv angelegt. Es geht ihnen nicht allein um Glaubensinhalte, die Bibel wird auch als literarisches Werk gewürdigt. Besonders schön sind die Ausführungen unter der Leitfrage „Warum brauchen wir Erzählungen?“. Wichtig ist es, dass der Vergleich zwischen Bibel und Koran angeschnitten wird. Allerdings fällt er angesichts der Bedeutung dieser Thematik heute etwas knapp aus. Ein Kompendium hat eben seine Zwänge. Es muss Kompliziertes auf engem Raum plausibel darlegen. Das bringt mit sich, dass man manches eingehender behandelt sehen möchte. Aber muss das ein Nachteil sein? Womöglich löst gerade dieses unvermeidlich Fragmentarische Impulse zur weiteren Beschäftigung mit einem angerissenen Thema aus.

Uns aus dem alten Religionsunterricht geläufige Fragen wie: „Was wissen wir über Gott?“ werden nicht mehr gestellt. Es geht hier bescheiden darum, die Frage zu klären: „In welchen Situationen benutzen Gläubige das Wort ´Gott`, und was wollen sie zum Ausdruck bringen, wenn sie dieses Wort gebrauchen?“ Danach erst wird von den Gottesvorstellungen in der Bibel berichtet. Dann folgt ein historischer Abriss. Das Kapitel endet folgerichtig mit einer aktuellen Zustandsbeschreibung: „Konturen einer zeitgenössischen Suche nach Gott“.

Das Kapitel „Kirchliche Hierarchie und demokratischer Staat“ dürfte mit seinen unvoreingenommenen Beobachtungen zu temperamentvollen Diskussionen in der Gemeindearbeit wie im Religionsunterricht anregen. So auch das Kapitel „Ethik“. Es endet mit der hochaktuellen Frage: „Wie soll man mit illegalen Immigranten umgehen?“ Auf diesem Feld wird keiner kniffligen Thematik aus dem Weg gegangen.

Die Chancen der Kirche heute sind aufs Ganze überzeugend dargestellt, in Teilaspekten allerdings, z.B. was ihre Anziehungskraft auf Jugendliche anlangt, wohl etwas zu optimistisch gesehen.

Allerdings sind die Autoren bei einer lehramtlichen Behauptung, wie der, dass Jesus das Priesteramt eingesetzt hätte, vorsichtiger. Zwar bestätigen sie nicht ausdrücklich diese Lehre, aber sie verneinen sie auch nicht. Womöglich ein Zugeständnis an den Verlag, der ja sein Buch an Gemeindekatecheten wie Lehrer verkaufen will.

„Christentum kompakt“ lässt sich von keiner Missionsideologie den Blick auf die Entwicklung der Weltkirche trüben. Hier wird dargelegt, wie die Missionierung sich in den unterschiedlichen Kulturen zu unterschiedlichen Konglomeraten des christlichen Glaubens geführt hat. Bei den germanischen Völkern kam es zum Beispiel im Vergleich mit den animistischen Kulturen Afrikas zu einem jeweils deutlich unterscheidbaren Bekenntnis. Die Autoren sprechen von einer „Verschmelzung“. Sie vertreten also nicht die Illusion eines überzeitlichen, weltweit identisch gelebten Christentums aller katholischen Gläubigen. Sie berücksichtigen dessen Inkulturation, die also eine divergierende Glaubenspraxis bedingt.

„Christentum kompakt“ stiftet dazu an, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Es unterscheidet sich damit von einem Katechismus, der belehrt, indem er endgültige Antworten gibt.

Dieses Buch visiert nicht den bequemen, glaubenssicheren oder gar selbstherrlichen Christen an. Aber wer sich gern zu relevanten Entdeckungen abseits von ausgetretenen Wegen herausfordern lässt, der sollte zu diesem Buch greifen.

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Paul Gerhard Schoenborn
Helmuth James von Moltke: Im Land der Gottlosen – Tagebuch und Briefe aus der Haft 1944/45
– Mit einem Geleitwort von Freya von Moltke. Herausgegeben und eingeleitet von Günter Brakelmann, Verlag C. H. Beck, München 2009, 350 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-406-58235-6

Helmuth James von Moltke sammelte ab 1940 einen konspirativen Kreis von entschiedenen Gegnern des NS-Regimes um sich, Konservative, Gewerkschaftler, evangelische und katholische Theologen. Der von der Gestapo später sogenannte „Kreisauer Kreis“ erarbeitete Konzepte für die Erneuerung Deutschlands nach dem sich abzeichnenden Ende der Hitler-Diktatur. Die Kreisauer Entwürfe, vor allem die „Grundsätze für die Neuordnung“ vom 9. August 1943, verbinden auf einzigartige Weise katholische Soziallehre, evangelische Sozialethik und Positionen des demokratischen Sozialismus. Die Frage eines Attentats auf Hitler war innerhalb des Kreises umstritten. Aber einzelne Kreisauer waren an praktischen Vorbereitungen zum Umsturz beteiligt.

Der Jurist und Völkerrechtler Moltke arbeitete während des Krieges als Kriegsverwaltungsrat im Amt Ausland/Abwehr („Amt Canaris“) des Oberkommandos der Wehrmacht in Berlin. Nach der Verhaftung von Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer ermittelte das Reichssicherheitshauptamt auch gegen ihn und nahm ihn am 19. Januar 1944 in „Schutzhaft“. Die Verhaftung erfolgte nicht wegen des Verdachts auf konspirative Umtriebe, sondern weil er einen Bekannten vor einem Gestapo-Spitzel gewarnt hatte.

Solange er den Status eines „Schutzhäftlings“, erst in Berlin, dann in Ravensbrück, besaß, genoss er manche Privilegien: Er führte mit seiner Frau Freya einen intensiven Briefwechsel und erhielt zahlreiche Besuche von ihr und sogar von seinem Abteilungsleiter aus dem Oberkommando der Wehrmacht, der ihn nach wie vor wichtige Amtsangelegenheiten bearbeiten ließ. Außer mit frischer Wäsche und zusätzlichen Lebensmitteln wurde er in dieser Phase mit umfangreicher historischer, theologischer, philosophischer Literatur und mit landwirtschaftlichen und naturkundlichen Standardwerken versorgt. Darüber informiert sein Tagebuch, das er vom ersten Tag der Haft an führte. Eine radikale Änderung trat ein, als seine Verbindungen zu den Putschisten des 20. Juli aufgedeckt wurden. Vom 19. September 1944 an wurde seine Haft verschärft. Man verlegte ihn zu weiteren Verhören und zur Verhandlung vor dem Volksgerichtshof nach Berlin-Tegel, wo auch weitere Kreisauer eingekerkert waren. Er wurde zum Tode verurteilt und am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee gehenkt.

Sowohl das Tagebuch aus Ravensbrück als auch die Briefe an Freya von Moltke aus diesen Zeitraum werden in dem vorliegenden Werk erstmals veröffentlicht. Der Bochumer Moltkebiograph Günter Brakelmann, der diese Dokumente herausgibt, hat sie mit einer ausführlichen, zum Verständnis wichtigen Einleitung versehen. Dazu werden noch zur Abrundung des Bildes einige Briefe aus Tegel wiedergegeben. Diese wurden bereits früher in einer größeren Sammlung publiziert (in: Helmuth James von Moltke: „Briefe an Freya 1939-1945“ Verlag C.H.Beck, München).

Tagebuch und Briefe zeigen dem Leser das eindrückliche Bild eines äußerst disziplinierten Mannes, der alles tut, um seine leiblichen, geistigen und seelischen Kräfte für die zu erwartenden Auseinandersetzungen stark zu machen. Er steigert die Zahl seiner Kniebeugen von fündundzwanzig pro Tag auf zweihundertfünfzig (!). Bei dem einsamen Hofgang macht er, wenn es geht, auch Dauerläufe. Er erlaubt sich weder in seinen täglichen Aufzeichnungen noch gar in den Briefen an seine Frau Anflüge von Selbstmitleid. Nach dem 20. Juli 1944 meint man aber zwischen den Zeilen lesen zu können, dass die geänderte Gesamtlage ihn umtreibt. Im Tagebuch notiert er die gesteigerte Unruhe im Gefängnis. In den Briefen nimmt man Hinweise wahr, dass er seine Frau auf alle Eventualitäten vorbereitet. In einem langen, durch den Gefängnispfarrer und „Kreisauer“ Harald Poelchau heraus geschmuggelten Brief an seine Frau, einem ausdrücklichen Gesamtbericht über die Ravensbrücker Zeit, erfährt man Details, die in den zensierten Briefen und im unverfänglich formulierten Tagebuch nicht mitgeteilt werden (Seite 318 – 325).

Die Haftzelle in Ravensbrück hindert Moltke nicht daran, weiterhin seine Rolle als Gutsherr und die damit verbundenen Aufsichtspflichten wahrzunehmen. Je mehr das Jahr fortschreitet, desto mehr verfolgt er in allen Einzelheiten Leben und Arbeit auf dem Gutshof. Da ist die Rede von Wirtschafts- und Bestellungsplänen, von Aussaat und Ernte, von Aufforstungen und Drainagen, von Obstbäumen und Bienenstöcken, von den Tieren und den Maschinen, von Anweisungen an den Verwalter und von Anträgen auf Hagelentschädigungen.

Vor allem aber benutzt Moltke seine Klausur in der Gefängniszelle zu intensiven historischen, theologischen und landwirtschaftlichen Studien. Die Schwerpunkte seiner geistigen Arbeit sind zuvor wohl überdacht. Die Intensität, mit der er seine Lektüre betreibt, verschlägt einem förmlich den Atem. Er zeigt sich als erstaunlicher „Intensiv-Leser“ und – „Das-Wesentliche-Auffasser“.

Ich beschränke mich darauf, nur auf seine theologischen Studien einzugehen. In den sieben Ravensbrücker Monaten liest er viermal (!) die komplette Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments durch, das Johannesevangelium, den Römerbrief und die Seligpreisungen noch einige Male öfter. Er arbeitet ferner die Münchener Lutherausgabe vollständig durch, dazu einiges an theologischer und ethischer Fachliteratur – jeweils das komplette Buch von vorn bis hinten. Man kann direkt sagen, er verordnet sich ein theologisches Intensivseminar, vergewissert sich seiner eigenen Identität als Christ und vertieft seinen persönlichen Glauben. Für ihn ist das Christentum der machtvolle Gegenentwurf zur inhumanen Religion des Nationalsozialismus. Welche innere Stärke und welche Widerstandskraft verkörpert dieser mündige und sachkundige Evangelische, den man, wenn die Rede auf die Rolle der protestantischen Kirchen im Dritten Reich kommt, meist zugunsten prominenter Theologen übergeht.

Wie Moltkes Bericht an seine Frau nach seine Gerichtsverhandlung zeigt (Seite 328 – 335), wurde ihm von dem Blutrichter Freisler bestätigt, dass sein Widerstandsdenken und -handeln auf einen christlichen Gegenentwurf zum Nationalsozialismus basiert. Diese Auffassung des - im wahrsten Sinne des Wortes - Todfeindes befriedigt ihn sehr. Freisler - so Moltke – sieht in den bewussten Christen Delp, Gerstenmaier und ihm selbst die geistigen Anführer und damit Hauptschuldigen der Kreisauer Aktivitäten: „Letzten Endes entspricht diese Zuspitzung auf das kirchliche Gebiet dem inneren Sachverhalt … Das Schöne an dem … Urteil ist folgendes: Wir haben keine Gewalt anwenden wollen – ist festgestellt; wir haben keinen einzigen organisatorischen Schritt unternommen – ist festgestellt; mit keinem einzigen Mann über die Frage gesprochen, ob er einen Posten übernehmen wolle – ist festgestellt. ... Wir haben eigentlich nur gedacht, und zwar eigentlich nur Delp, Gerstenmaier und ich, die anderen galten als Mitläufer … Und vor den Gedanken dieser drei einsamen Männer, den bloßen Gedanken, hat der Nationalsozialismus solche Angst, dass er alles, was damit infiziert ist, ausrotten will. Wenn das nicht ein Kompliment ist.“ (Seite 333 – 334)

Einer katholischen Mitgefangenen in Ravensbrück, Isa Vermehren, sagte er, nachdem sein Name in der Reihe derer entdeckt worden war, die für die Goerdeler-Regierung vorgesehen waren, er werde in den Verhören die Lüge als Ausflucht verschmähen: „'Wie kann ich jetzt lügen', sagte er mir, 'und dadurch das nachträglich vernichten und verraten, was ich auch heute noch für das Richtige und Notwendige halte?' Er gehört zu den wenigen, von denen man mit ganzer Gewissheit sagen kann, dass sie zu Märtyrern geworden sind. Im Bekenntnis der Wahrheit lieferte er sich mit vollem Bewusstsein den Henkersknechten aus. Um diesem Tod zu entgehen, hätte er geistig sich selbst umbringen müssen, indem er das verleugnete, um dessentwillen er bisher gelebt hatte.“ (Seite 34, Zitat in Günter Brakelmanns Einführung aus: Isa Vermehren: „Reise durch den letzen Akt – Ravensbrück, Buchenwald, Dachau“, Hamburg 1946, Neuausgabe 2005, Seite 36 – 38).

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© imprimatur Dezember 2010


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