Thesen zur Diskussion über aktuelle Probleme in der katholischen Kirche

Dieser Text ist eine persönliche Stellungnahme von Siegfried George, Vorsitzender des Pfarrgemeinderats St. Anna Biebertal und St. Dreifaltigkeit Krofdorf-Gleiberg. Er ist vom Pfarrgemeinderat nicht beschlossen worden.
(imprimatur dokumentiert den Beitrag in leicht gekürzter Form.)

Die zahllosen Berichte über Missbrauchsfälle tangieren - soweit ich weiß - unsere Kirchengemeinden nicht. Die Perspektiven notwendiger Veränderungen in der Kirche sollten aber Thema im Pfarrgemeinderat und der Pfarrgemeinde sein.

Wir brauchen öffentliche Diskussionen über die anstehenden Probleme, und zwar in den Pfarrgemeinden, wo sich ja nun das kirchliche Leben abspielt.

Auf der Ebene anderer Laiengremien ist das bereits der Fall. So haben sich z.B. die Katholiken des Bezirkssynodalrats Limburg in einem offenen Brief an den Bischof gewandt und notwendige Veränderungen insbesondere bezüglich des Zugangs zum Priesteramt angemahnt: Deshalb erwarten wir von Ihnen, dass Sie sich als Bischof von Limburg in Sorge um Ihr Bistum und unseren Bezirk bei Papst und den zuständigen Stellen für eine Erweiterung der Zugangswege zum Priesteramt einsetzen.

Die Vorsitzende des Bezirkssynodalrats Limburg, Marga Hilden, spricht in diesem Brief auch die Nöte der Gemeinden an: Wir haben einen klaren Auftrag der Gemeindemitglieder, die die große Not des Priestermangels erleben und sich die bange Frage stellen, wie es angesichts einer schrumpfenden Zahl an Priestern weiter geht.

Laiengremien sind keine Befehlsempfänger

Laiengremien verfügen über relativ große Freiheit. Weder haben sie dem Bischof gegenüber Gehorsam gelobt, noch gibt es Beschränkungen bezüglich der Tagesordnungen in ihren Sitzungen. Trotzdem brauchen sie ein neues Selbstverständnis. Neben dem freien Reden muss es freies Handeln geben, z.B. Wortgottesdienste dann anzubieten, wenn es sinnvoll erscheint - ohne Rücksicht auf Festlegungen des Bischöflichen Ordinariats.

Der Jesuitenpater Friedhelm Hengsbach hat sich sehr kritisch zur Reformfähigkeit der kirchlichen Hierarchie geäußert: Können die Katholiken von oben Reformen erwarten? Nein, von der Basis her müssen Widerstand, Protest, Regelverletzung und ziviler Ungehorsam geleistet werden.

Pater Hengsbach nennt wichtige Reformen der Kirche: die Verfassung der katholischen Kirche zu demokratisieren ... die Männermacht in der Kirche und die verkrampfte Sexualmoral aufzubrechen, den Ausschluss der Frauen aus kirchlichen Ämtern zu beenden und die extrem hierarchisch-patriarchalische Struktur der katholischen Kirche zu zerschlagen (Frankfurter Rundschau 28. Mai 2010).

Die Begriffe, die Pater Hengsbach verwendet, entstammen der Arbeiter- und Protestbewegung. Wenn kirchliche Gremien sich damit anfreunden wollten, müssten sie eine sehr kritische Bestandsaufnahme ihrer eigenen Arbeit vornehmen. Denn wenn wir z.B. Demokratisierung kirchlicher Entscheidungen als Ziel hätten, müsste Schluss sein mit der Vorstellung, wie sie gerade wieder von Weihbischof Löhr (Sitzung des Diözesansynodalrats Limburg vom 24. 4. 2010) bekräftigt wurde: Für die synodale Befassung ist wichtig, dass von Anfang an klar ist, dass die Entscheidung durch den Bischof fällt.

Einen solchen absoluten Machtanspruch erhoben früher Fürstbischöfe. Pfarrgemeinderäte und Pastoralausschüsse sollten hier den Gehorsam verweigern und aktiven Widerstand leisten. Die Probleme vor Ort kennen wir besser als der Bischof. Wir sind keine Befehlsempfänger.

Zugänge zum Priesteramt

Gegen die obligatorische Koppelung von Priesterberuf und Zölibat (nicht gegen eine frei gewählte zölibatäre Lebensform) wird neben anthropologischen Gesichtspunkten (veränderte Bewertung der Sexualität, größere Kompetenz von Verheirateten in Fragen von Ehe und Familie, gewachsenes Bedürfnis nach freier Selbstbestimmung) vor allem auf die Not der Gemeinden verwiesen, die wegen des Priestermangels auf die Eucharistiefeier verzichten müssen. Deshalb treten in jüngerer Zeit sowohl in Europa als auch in Afrika und Lateinamerika Bischöfe, Theologen und Synoden für die Weihe von Männern ein, die sich in Ehe und Familie bewährt haben (viri probati). (Handbuch der Dogmatik, Hrsg. Theodor Schneider u.a., Patmos Verlag, Düsseldorf, 2. Aufl. 1992, 5. 357).

Im Rahmen der z.Zt. laufenden Missbrauchsdiskussion hat der Jesuitenpater Friedhelm Mennekes sehr hart die Zölibatsregelung kritisiert: Dass es mit der Verpflichtung für alle Priester so nicht weitergehen kann, ist völlig klar. Eigentlich ist der Zölibat nur noch freiwillig in den Ordensgemeinschaften möglich. Und dann müssen wir über die Öffnung des Priesteramts für Frauen nachdenken. Sonst fährt das System vor die Wand. (Frankfurter Rundschau, 5.2.2010)

Ich frage: Sind wir in den Gemeindegremien dazu verurteilt, in einfallsloser Resignation lediglich den laufenden Untergang zu verwalten, statt mutig den längst fälligen Übergang zu gestalten? (Paul M. Zulehner, Stimmen der Zeit 4/2010, S. 280).

Insbesondere sollten wir darauf dringen - wie es auch Bischof Schick/Bamberg angeregt hat -, endlich viri probati zu Priestern zu weihen; an erster Stelle verheiratete Diakone sowie Pastoral-und Gemeindereferenten. Außerdem ist angesagt, Diakoninnen zu weihen, wie es im Urchristentum üblich war.

Zur Rolle der Frau in der Kirche hat sich in einem Gespräch mit der Professorin für christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster, Marianne Heimbach-Steins, der Bischof von Osnabrück, Franz-Josef Bode, geäußert. Er sieht im Missbrauchsskandal der vergangenen Monate, wie wichtig die Kompetenz von Frauen ist und wie sehr eine geschlossene Männergesellschaft Abnormitäten begünstigt... Die Kirche gewinnt, wenn sie die Wirklichkeit mit beiden Augen anschaut, dem männlichen und dem weiblichen.

Frau Heimbach-Steins stellt die Frage nach der Rolle der Frau grundsätzlich: Bei allem Respekt für den Papst - wer kann ausschließen, dass der Heilige Geist in eine andere Richtung weht? Wenn wir das Amt als geistliche Berufung verstehen, dann ist der Ausschluss von Frauen wirklich nur schwer zu begreifen... Woher wissen wir, dass nur Männer diese Gaben empfangen können? Verteilt Gott sie etwa geschlechtsspezifisch? ... Ich rate nur, dabei nicht aus dem Blick zu verlieren, dass immer mehr Frauen sich von der Kirche abwenden ... In weiten Bereichen hat die Kirche ihre Orientierungsfunktion längst verloren - ich nenne nur als Stichwort die Sexualmoral. Mit einem weiteren Verlust vieler Frauen, gerade der engagierten Frauen, droht der Kirche die Kernschmelze. (Frankfurter Rundschau 21. Juli '10)

Ein Tabu: Katholische Sexualmoral

Im weltlichen Bereich würde niemand auf die Idee kommen, gerade solche Juristen zu Verkehrsrichtern zu ernennen, die keinen Führerschein besitzen und nie ein Auto im Straßenverkehr gelenkt haben. Theoretisches Wissen reicht eben nicht aus.

Und wie dieses theoretisch-moralische Wissen von Priestern genutzt wurde, davon können viele Gläubige aus leidvoller Erfahrung berichten: Im Bereich des Sexuellen, so wurde uns eingeredet, gebe es faktisch nur Todsünden. Egal, ob ich sexuelle Phantasien habe oder mich selbst befriedige oder einen Sexualmord begehe: Falls ich in diesem Zustand sterbe, marschiere ich in die Hölle. Der von mir bereits zitierte Jesuitenpater Mennekes zieht eine drastische Konsequenz: Nicht zuletzt durch die rigide Beichtpraxis früherer Zeiten hat die Kirche ihre Legitimation verspielt, den Menschen in ihr Sexualleben hineinzureden (Frankfurter Rundschau 5.2. 2010).

Eine andere kirchliche Öffentlichkeit

In der Kirche gäbe es eine neue Öffentlichkeit, wenn grundlegende religiöse Fragen diskutiert würden.

Wir leben in einer Welt, die stark durch Medien geprägt ist. In jüngster Zeit haben negative Schlagzeilen über die Kirche große Aufmerksamkeit gefunden. Es handelt sich an erster Stelle um sexuellen Missbrauch, die autoritäre Haltung der Hierarchie, die Zölibatsfrage, aber auch nicht zuletzt um konkrete Angelegenheiten des Bistums Limburg, z.B. den Bau des bischöflichen Palais. Diese Probleme belasten das spirituelle Leben in den Gemeinden.

Gegenüber kritischen Thesen-Papieren wie diesem hier wird leicht der Verdacht geäußert, wir könnten die alten Menschen mit solchen neuen Themen verprellen. Die Erfahrung zeigt aber, dass insbesondere die alten Kirchenmitglieder sehr kritisch und offen sind, weil sie in den Gemeinden ihre kirchliche Heimat sehen. Nur solche Offenheit und Diskussionsbereitschaft können dazu führen, was der Papst während seiner Portugalreise im Mai sagte, nämlich dass die katholische Kirche lernen müsse, in der gegenwärtigen Welt zu leben. Für die Probleme des 21. Jahrhunderts dürften viele Lösungen der vergangenen Jahrhunderte ungeeignet sein. Die Pfarrgemeinderäte können viel dazu beitragen, die Weltfremdheit katholischer Institutionen zu überwinden.

Verantwortung für Text und Finanzierung: Dr. Siegfried George.


„Hochwürdigster Herr“

Exzellenz, hochwürdigster Herr Bischof!

Mit großer innerer Anteilnahme habe ich davon Kenntnis genommen, dass Sie gedenken, in der Diözese Limburg die alten Ehren- und Hoheitstitel für die Hochwürdigen Herren wieder einzuführen.

Ihr leuchtendes Beispiel könnte vielleicht bald Nachahmer unter Ihren Hochwürdigsten Herren Confratres finden. Darum erlaube ich mir in aller Unterwürfigkeit und Bescheidenheit, Ihnen hochwürdigster Herr Bischof, einige möglicherweise hilfreiche Hinweise dazu aus einem Ihnen und Ihren hochwürdigsten und hochwürdigen Herren Mitarbeitern im Hinblick auf Ihr außerordentlich bedeutsames Vorhaben sicher bekannten französischen Handbuch des Kirchenrechts zu geben:

„Um die Missbräuche abzustellen, die sich in den Gebrauch der Pontifikalien eingeschlichen hatten, die einigen nicht mit der Bischofswürde ausgestatteten Prälaten gewährt worden waren, und um den Glanz der bischöflichen Würde in den Augen des christlichen Volkes zu erhöhen, hat Pius X. mit dem Breve Inter multiplices (21. Februar 1905) erneut die Insignien, Privilegien und Vorrechte der Apostolischen Protonotare und der römischen oder Hausprälaten festgesetzt. Die Insignien und Privilegien der ersten Klasse werden wie folgt festgesetzt:

a) Sie können bei den heiligen Handlungen die Prälatenkleidung (nämlich die Strümpfe, das Kollar, die Soutane, das seidene, links herabhängende Zingulum mit zwei ebenfalls seidenen Troddeln, den Mantel oder die Manteletta über dem Rochett) in violetter Farbe tragen; dazu das schwarze Birett mit einer amarantroten Quaste; der Hut hat auch schwarz und von einem seidenen Band eingefasst zu sein, das mit einer Borte im selben Rot verziert ist. Von derselben Farbe und ebenfalls aus Seide haben auch die Knopflöcher, die Knöpfe, die kleine Litze, die den Hals und die Kanten der Soutane wie des Mäntelchens schmückt, das Futter dieser beiden Kleidungsstücke sowie die Ärmelaufschläge, selbst die des Rochetts, zu sein. (Nr.16)

b) Sie werden fortan bei den Kongregationen, Versammlungen, kirchlichen wie zivilen feierlichen Audienzen eine andere, den Prälaten eigene Kleidung tragen können, und zwar die violetten Strümpfe und das violette Kollar, die schwarze Soutane mit amarantroten Knopflöchern, Knöpfen, Paspeln und Futter (wie oben); das Zingulum von violetter Seide mit den ebenfalls seidenen und violetten Fransen; den großen Mantel von violetter Seide ohne Moire, ohne Futter oder irgendeine andere Verzierung, sei sie auch von anderer Farbe, und den schwarzen Hut mit den Kordeln und den Troddeln aus amarantroter Seide. Zur gewöhnlichen Kleidung werden sie die violetten Strümpfe und das violette Kollar und den Hut entsprechend dem oben Gesagten tragen können. (Nr. 17)

c) Sie werden über ihrem Wappen oder Emblem den Hut mit den Kordeln und den zwölf Troddeln, sechs auf jeder Seite, vom selben Amarantrot, ohne Kreuz und Mitra, anbringen können. (Nr. 18)

d) Es wird ihnen gestattet, bei den Pontifikalfunktionen die Mitra (aus Goldstoff, niemals eine kostbare) zu benützen, und wenn sie sich in Prälatenkleidung in eine Kirche begeben, um ein Pontifikalamt zu zelebrieren, beziehungsweise die Kirche verlassen, das Brustkreuz über der Manteletta zu tragen, und zwar ein Kreuz aus Gold mit einem einzigen geschnittenen Stein an einer amarantroten, golddurchwirkten Seidenschnur mit einer gleichartigen Troddel am Rücken. (Nr. 7, 8)

e) Die Benützung des Thrones, des Bischofsstabes, der Cappa, des siebenten Altarleuchters und die Assistenz mehrerer Diakone bei den Pontifikalfunktionen sind ihnen untersagt. Bei nichtpontifikalen Ämtern können sie sich des Kanonbuches, des Handleuchters, der Wasserkanne mit dem dazugehörigen Becken und des Tabletts für das Handtuch bedienen; dasselbe gilt auch für die mit einiger Feierlichkeit zelebrierten stillen Messen; bei gewöhnlichen stillen Messen unterscheiden sie sich in nichts von den anderen Priestern, außer etwa im Gebrauch des Handleuchters. (Nr. 10)“

Ich zitiere aus dem leider vergriffenen, aber sicher auch für Sie, hochwürdigster Herr Bischof und Ihre hochwürdigen Herren Mitarbeiter, sehr lesenswerten Büchlein von Paul Winninger, Die Eitelkeit in der Kirche, Graz 1970, 40-43 (mit kirchlicher Druckerlaubnis des Ordinariats Straßburg vom 19.6.1968). Der Autor weist darauf hin, dass es sich hier um eine einschränkende Regelung zwecks Abstellung von Missbräuchen handele und dass diese Regelung nach wie vor in Kraft sei.
Hochwürdigster Herr Bischof, ich hoffe, dass Sie das alles nicht als Aprilscherz verstehen, sondern als Ausdruck meiner tiefsten Anteilnahme an Ihrem wichtigen Vorhaben. Es würde mich sehr freuen, wenn ich zu gegebener Zeit erfahren dürfte, ob meine bescheidenen Ausführungen Ihnen ein kleine Hilfe sein durften.

Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung bin ich Ihr ergebener
Norbert Scholl


Zu Wunibald Müller: 'Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt' (Imprimatur 4 / 2010)

'Ich will der Wahrheit ins Gesicht schauen' schreibt Wunibald Müller angesichts der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und ihrer Ursachen. Doch: Was ist Wahrheit?

Sexueller Missbrauch ist ein Verbrechen. Die Täter müssen bestraft werden, damit den Opfern Gerechtigkeit widerfährt. Die Opfer sollte man entschädigen, auch wenn juristisch eine Verjährung eingetreten ist. Wer die Verbrechen spiritualisiert, entlastet die Täter und begibt sich in eine fatalistische Opferideologie, wie wir sie auch in den Familienaufstellungen nach Hellinger häufig antreffen. Oder wie anders kann man folgenden Text verstehen?

„ Gott, den wir in diesen Tagen oft so wenig zu entdecken glauben in denen, die sich in besonderer Weise als seine Vertreter verstehen und ausgeben. Gott, den wir aber so hautnah und unüberhörbar in den Männern und Frauen entdecken, die Opfer sexuellen Missbrauchs, sexualisierter Gewalt geworden sind: in ihrem Schmerzensschrei, in ihrer psychischen und spirituellen Not. In ihnen begegnen wir Gott als Shekinah. So das hebräische Wort für Gottes weibliche, frauliche, mitfühlende, mitleidende und tröstende Anwesenheit im Menschen der leidet. Die Wunde ist dabei für Gott das Eintrittstor.“

Warum macht Müller die Opfer zu Orten der Gotteserfahrung? Warum kann man Opfer nicht Opfer sein lassen? Er gibt ihrem Opfer einen Sinn und damit nimmt er ihnen das Opfer sein und entlastet die Täter. Warum muss in den missbrauchten Menschen Gott 'hautnah' (wie zynisch) entdeckt werden? Warum werden Opfer Einfallstor einer weiblichen Seite Gottes, die mit den alten Klischees der Weiblichkeit gefüllt werden, jenen, die allmählich selbst die katholische Kirche überwunden hat (das Frauliche als 'mitfühlende, mitleidende und tröstende Anwesenheit').

Wer zudem die Erfahrung der Missbräuche durch kirchliches Personal braucht, um der Kirche einen Läuterungsprozess anheimzutragen, der missbraucht schon wieder. Es geht nicht um die Läuterung der Kirche, sondern um die Bestrafung der Schuldigen und Mitwisser, die um die Täter zu retten, geschwiegen, vertuscht und bagatellisiert haben. Es muss um diese Aufklärung gehen, auch um derentwillen, die sich in dieser Kirche nichts zu schulden haben kommen lassen.

Wenig hilfreich erscheint auch die ständige Verwendung des Begriffs der 'unreifen Sexualität'. Was ist damit gemeint und wer definiert die Grenze zwischen reifer und unreifer Sexualität? Was ist gesunde, reife Liebe und Sexualität? Stehen Leben, Lieben und Sexualität nicht immer in der Spannung von Reife und Unreife? Lehrt das Christentum nicht entgegen den esoterischen Strömungen, dass die Akzeptanz der Unvollkommenheit und der Unreife zum Menschsein dazugehören und natürlich die Erlösung des Menschen herausfordern? Auch werden nicht alle sexuell unreifen Menschen zu Sexualstraftätern oder Missbrauchern. Und da stört dann auch das kolportierte Klischee von 'sexuell unreifen homosexuellen Priestern', deren sexuelle Entwicklung auf der Strecke geblieben ist.

Wir brauchen deswegen auch, wie Müller rät, keine Frauen als Priester, weil das Frauliche im Priesteramt fehle und die Frauen als Therapie der männlichen Priester oder als Repräsentanten einer 'weiblichen Ausprägung' der Sexualität gebraucht werden. Wir brauchen Frauen und Männer als Priester, weil wir in einer aufgeklärten Gesellschaft leben, die Diskriminierungen überwinden sollte und weil sich theologisch nicht mehr begründen lässt, der Frau das Priestertum zu verweigern.
Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen: Wenn sich schon im Priesterjahr scheinbar die Krise der Kirche mal wieder verstärkt, könnte man auch zum Schluss kommen, dass der Klerikalismus überwunden gehört und in Zukunft auch eine Kirche gedacht werden kann, in der das Priestertum eben nicht die Rolle spielt, die ihm momentan von der Kirchenleitung mit theologischen Begründungen zugesagt ist. Aber solche Gedanken enthält Müllers Beitrag nicht.

Die Gottesebenbildlichkeit manifestiert sich nicht nur im männlichen Priester und in der weiblichen Priesterin, wie Müllers Text nahe legt, sondern in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen schlechthin, sei er Mann oder Frau, homo-, hetero oder bisexuell. Die Taufe ist das Grundsakrament der Christen, nicht die Weihe.
Wenn Müller schließlich den Unterschied zwischen Missbrauch und Zölibatsbruch verwischt, ist das Gedankenchaos perfekt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Akten besteht darin, dass das eine ein Verbrechen ist, das andere eine Glaubwürdigkeitskrise der Kirche. So verfängt sich Müller im Dschungel einer unbefriedigenden Missbrauchsdebatte der Kirche. Sein Beitrag offenbart die Notwendigkeit einer vernünftigen und differenzierten Diskussion. Er verweigert sich aber dieser Diskussion. Wahrscheinlich geht das aber nicht aus der Perspektive eines Theologen und Psychologen, der zu sehr mit der Kirche verwachsen ist und dem in dieser Frage die notwendige Distanz abhanden gekommen ist. Schade um die verpasste Chance.

Dr. Herbert Poensgen, Mainz


© imprimatur Dezember 2010
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