43.
JAHRGANG |
INFORMATIONSDIENST DER ARBEITSGEMEINSCHAFT VON PRIESTER- UND SOLIDARITÄTSGRUPPEN IN DEUTSCHLAND (AGP) | 2010 / 3 |
Erneuerung aus dem Geist des Konzils |
Verantwortlich in Kirche und Welt |
Missbrauch – und kein Ende! |
Entlarvendes zum Weltgeschehen |
Erneuerung aus dem Geist des Konzils
Essener Kreis begeht sein 40-jähriges Bestehen
Der in der Zwischenzeit erheblich kleiner gewordene Essener Kreis (EK) vermag es, zumindest noch zu besonderen Anlässen Nichtmitglieder für seine Veranstaltungen zu interessieren. So fanden sich am 8./9. Mai zum 40-jährigen Jubiläum fast fünfzig Personen in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim a.d. Ruhr ein. Der Ort war mit Bedacht gewählt; hatten doch die damaligen Dozenten der Wolfsburg zu den Gründungsvätern des EK gehört.
Bewusst hatte man auch das Thema wie in der Überschrift gewählt. Die römische Sprachregelung, dass man sich auf den Buchstaben des Konzils beziehen müsse und sich nicht auf dessen „Geist“ berufen dürfe, wurde damit zurückgewiesen. Nicht der Buchstabe macht frei, sondern der Geist; er allein schafft auch in der Kirche Leben.
Das sollte auch auf der zweitägigen Veranstaltung verdeutlicht werden. Am Beginn stand natürlich ein Rückblick auf die Arbeit seit 1970. Gute Erfahrungen, Erneuerungsimpulse, Konflikte mit der Bistumsleitung kritische Anfragen und Reflexion standen zunächst auf dem Programm. Da die Tagung kein Nostalgie-Treffen werden sollte, wurde das Hauptaugenmerk aber auf Gegenwart und Zukunft gerichtet. Der Wandel des Glaubensbewusstseins, Aggiornamento - aber was heißt „heute“? und: Wie können Christen morgen „heutig“ leben? waren die Themen von Vorträgen und Diskussionen, zu denen Prof. Rudolf Englert sehr realistische und anregende Beiträge lieferte.
Wie immer bei mehrtägigen Veranstaltungen des EK nahm die Musik eine wichtige Rolle ein. Beispiele für das Aufscheinen von Neuem in der Musik wurden vorgestellt und interpretiert – und natürlich auch - im wahrsten Sinne des Wortes - neue Lieder gesungen. Den Höhepunkt bildete die Eucharistiefeier am Sonntagmittag, nicht zuletzt wegen der musikalischen Gestaltung durch den Mädchenchor des Essener Doms.
Nicht unerwähnt bleiben darf, dass mehrere Vertreter der benachbarten
AGP-Gruppen - Freckenhorster Kreis und ehemalige SOG-Paderborn - an der Tagung
teilnahmen; ein schönes Zeichen der Solidarität und einer Verbindung
zwischen den Gruppen, die sowohl sachlich als auch persönlich über
viele Jahre bestehen.
Eine äußerst gelungene Veranstaltung, die nicht darüber hinwegtäuscht,
dass die Kräfte geringer und die Reformschritte kleiner werden.
Ut
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Verantwortlich in Kirche und Welt
Mit einem Titel der obige Worte enthält, ist zum Jahresende „eine Bilanz nach 40 Jahren“ der AGP in Vorbereitung. Genauere Informationen werden bei der kommenden Jahresversammlung zu Pfingsten möglich sein. Als Einführungstext ist zur Zeit folgender Entwurf geplant:
Das oft zwiespältige oder in manchem halbherzige II. Vatikanische Konzil, das ursprünglich eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern zum Ziel hatte, liegt inzwischen über vierzig Jahre hinter uns. Der spätere Papst und damals an der Universität tätige Joseph Ratzinger hatte 1966 den Eindruck, das positive Echo auf das Konzil sei eher von außen gekommen, während die „treuen Teilhaber des kirchlichen Lebens“ eher verschreckt gewesen seien. In den meisten Gemeinden sah es jedoch völlig anders aus. Dort hatte nach der Katastrophe der Nazizeit und dem verbrecherischem Krieg durchweg ein Hunger nach Erneuerung geherrscht. Wie ein Sturm schien der Heilige Geist im Konzil einen neuen Frühling anzukündigen.
In jenen Jahren haben sich in ganz Europa Priestergruppen gebildet, die diesen Impuls aufnehmen und für eine kirchliche Reform nutzen wollten. Später haben sich die Gruppen - meist unter dem Namen „Solidaritätsgruppen“ - ausgeweitet, von denen einige aus unterschiedlichen Gründen inzwischen aufgehört haben, jedoch entstanden auch andere neu. Unsere/Diese Gruppen spürten den Geist der Erneuerung und wollten das Konzil gewissermaßen beim Wort nehmen, was keine Beschränkung auf tote Buchstaben verträgt. Vielmehr verlangte es Mut, Kreativität und einen festen Glauben. Das soll der Titel dieses Buches andeuten: die Gruppen von denen berichtet wird, haben das Konzil ernstgenommen, somit in den Grenzen ihrer Möglichkeiten damit „ernstgemacht“.
Ursprünglich war der Titel „Gegen alle Hoffnung?“ erwogen worden. Das ging zurück auf das Urteil eines unserer Sache nahestehenden namhaften Kirchenrechtlers. Dieser hatte 1970 im Rundfunk und in mehreren wissenschaftlichen Publikationen als Zwischenbilanz des Konzils erklärt: „Diejenigen, welche Strukturveränderungen auf ihre Fahnen geschrieben haben, wie etwa die Solidaritätsgruppen der Priester oder auch kirchlich engagierte Laien, werden erkennen müssen, dass ihre Anliegen nicht einmal im Ansatz verwirklicht sind.“ Die Ausdauer derer, die dennoch Reformen verlangen, müsse (nach Röm 4) von „einer Hoffnung wider alle Hoffnung“ getragen sein. Die AGP und die Autoren dieses Bandes sind trotz aller Enttäuschungen und Skepsis der Auffassung, daß nicht aller Tage Abend sei.
Die folgenden Texte können samt und sonders nur Ausschnitte aus der über vierzigjährigen Geschichte der AGP und ihrer Gruppen bieten, mal etwas ausführlicher mal äußerst bescheiden. Der erste Teil bietet einen Überblick vor allem über die thematische Entwicklung in den Solidaritätsgruppen. Der zweite Teil bezieht sich im Abschnitt a) auf die Geschichte der AGP und ihrer Einzelgruppen. Im Abschnitt b) sind aus verschiedensten Anlässen entstandene AGP-Texte gesammelt, die als Bruchstücke eines Mosaiks gelten können. Anfangs fanden Äußerungen der AGP auch öffentlich relativ große Resonanz. Nach dem ersten „Katholikentag von unten“ (1980) vertrat eine kirchenkritische Rolle immer mehr die anschließend im selben Jahr entstandene „Initiative Kirche von unten“ (IKvu), deren Mitglied die AGP ist. Später kam als stärker innerkirchlich orientierte Gruppierung „Wir sind Kirche“ hinzu, in der ebenfalls vieler unserer Mitglieder mitarbeiten. Infolge dieser Entwicklung gab es für uns weniger Anlaß zu offiziellen Resolutionen. Statt dessen behandelten Artikel im Informationsdienst der AGP „SOG-Papiere“ vielfach deren Themen und Positionen, nicht zuletzt geben sie Auseinandersetzungen mit einer vielfach diffus herrschenden oder offiziellen Auffassung wieder.
Für die Zeit von 1969 bis 1970 liegen bereits zwei Publikationen vor: Eine freie Kirche für eine freie Welt. Delegiertenkonferenz europäischer Priestergruppen (1969) und Impulse zur Freiheit. Initiativen der Solidaritätsgruppen (1971).
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Missbrauch – und kein Ende!
Langsam scheint es ruhiger zu werden. Auflistungen und Kommentierungen von Missbrauchsfällen,
vor allem in der römisch-katholischen Kirche, verschwinden von den ersten
Seiten der Tagespresse und als Hauptthema der Wochenzeitungen. Neue „Fälle“
werden noch in kurzen Nachrichten pflichtgemäß gemeldet. Scheinbar
ist in den Talk-Sendungen alles gesagt. Doch dieser Schein trügt. Vieles
ist gesagt worden – vieles aber blieb auch ausgeblendet. Vielleicht kommt
darum die Zeit, in der man nun auch Aspekte zur Sprache bringen kann, die bisher
ausgeblendet wurden; vielleicht kann man sie inzwischen ansprechen, ohne in
den Verdacht zu geraten, man wolle von kirchlichem Versagen und persönlichen
Verbrechen ablenken.
Bisher wurde ja zumeist auf allen Seiten bei Bekanntwerden der Missbrauchsfälle recht aufgeregt und „aufgebracht“ reagiert, sei es in den Medien, in den politischen Parteien oder in kirchlichen Kreisen bis hin zu den Bischöfen. Doch diese Reaktion sollte nicht überraschen bei der Schwere der Vorwürfe, dem Grad der Traumatisierung der Opfer und den verfehlten Abwiegelungsversuchen in Teilen der kirchlichen Hierarchie. Wenn es sicher auf allen Seiten Selbstgerechtigkeit gegeben hat und nicht immer nur das Interesse am Wohl der Opfer im Vordergrund stand, dann gibt die Art, wie die Missbrauchsfälle insgesamt in der Öffentlichkeit behandelt wurden, keinen Anlass zu einer Medienschelte. Nicht zuletzt deswegen war die österliche Solidaritätsadresse Kardinal Sodanos an den Papst nicht nur peinlich, sondern höchst entlarvend. Sie zeigte nämlich, wie wenig lernfähig höchste kirchliche Kreise sind, wie wenig Sensibilität sie menschlichem Leid gegenüber aufbringen – und mit welch großer Engstirnigkeit sie im elfenbeinernen Turm einer vermeintlich heiligen Kirche sitzen und die Welt nur als Feind zu sehen vermögen. Dass sich die einschlägig Verdächtigen im deutschen Episkopat, die Bischöfe Müller und Mixa an diesem kirchlichen Ablenkungsmanöver lautstark beteiligten, wundert nicht. Müller ortet „kriminelle Energie“ bei der Presse (!) - und versetzt einen pädophilen Priester gegen die eigenen bischöflichen Richtlinien einfach an einen andren Ort. Mixa versucht der 68er Generation zumindest Mit - Schuld an den Missbrauchsfällen in die Schuhe zu schieben - und verschiebt bedenkenlos Stiftungsgelder in den eigenen Weinkeller. Er wäscht seine Hände in Unschuld, mit denen er zuvor zugeschlagen hat. Der Spuk mit diesem „Reinheitsfanatiker“ ist inzwischen zum Glück beendet.
Auch „zum Glück“ hat es andere Stimmen und Reaktionen in der Kirche gegeben. Hier sind dann ebenfalls die sonst üblichen „Verdächtigen“ zu nennen: z.B. Erzbischof Zollitsch und Kardinal Lehmann. Beide haben Fehler der Kirche offen angesprochen; Zollitsch hat in der „causa Mixa“ wohl die überfällige Entscheidung des Rücktritts herbeigeführt. Der seitens der Bischofskonferenz nun für die weitere Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsfälle zuständige Bischof Ackermann scheint ein glaubwürdiger „Sachwalter“ zu sein.
Aber auch auf den unteren Ebenen ist mancherorts Klartext gesprochen worden. In Predigten witterte man dann keine antikirchliche Medienkampagne, rief nicht dazu auf, sich um Papst und Bischöfe als den angeblichen Opfern zu scharen, sondern sprach von den wirklichen Opfern, von notwendiger Solidarität und gebotener Gerechtigkeit – und auch von Schuld und bat stellvertretend um Vergebung. Manche Bußandacht wurde dadurch in der vorösterlichen Zeit zu einem überzeugenden Glaubens- und Schuldbekenntnis.
In der Sache kamen dann auch Aspekte zur Sprache, die immer noch nicht in ausreichendem Maß ins allgemeine Bewusstsein gedrungen sind. Dazu gehören u.a. die Einsicht, dass es grundlegende systemische Fehler in der römisch-katholischen Kirche gibt, die den Missbrauch Schutzbefohlener erleichtert und auch das erforderliche differenziertere Nachdenken über den Nicht-Zusammenhang und den Doch-Zusammenhang zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch von Kindern. Völlig abwegig ist es, die Debatte um die Ursachen des Kindesmissbrauchs dazu zu missbrauchen, Homosexualität und Missbrauch in einen unmittelbaren ursächlichen Zusammenhang zu bringen und sogar die Verurteilung nicht nur der Homosexuellen, sondern der Homosexualität (!) hinzuzufügen. Der neue Essener Bischof Franz – Josef Overbeck hat dieses selbst dem römischen Katechismus widersprechende Anathema nicht nur in der Hitze einer Fernsehdebatte ausgesprochen, sondern hatte auch im Nachhinein dem „nichts mehr hinzuzufügen“.
Durch solche verhängnisvollen Einlassungen - an der Basis kann man gar nicht soviel reparieren, wie von oben ramponiert wird -, verstärkt sich immer wieder der Eindruck, dass die Kirche in ihren leitenden Repräsentanten nicht lernfähig und bußfähig ist. Dies aber ist umso bedauerlicher, da die Kirche mit ihrer Einstellung zur Homosexualität nicht nur die Erkenntnisse des überwiegenden Teils der Humanwissenschaftler außer Acht lässt, sondern zuweilen im Umgang mit Homosexuellen auf höchst bigotte Weise handelt. Daniel Berger, als ehemaliger (?) Herausgeber der konservativen Monatsschrift „Theologisches“ keineswegs im Verdacht, progressive moraltheologische oder dogmatische Positionen zu vertreten, hat sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt (FR-online.de vom 23.4.2010). Das kirchenpolitisch Interessante an diesem Bekenntnis ist, dass er davon berichtet, wie in der Kirche Homosexualität gegen die Betroffenen ausgenutzt wird, um sie auf der gewünschten Linie zu halten; Homosexualität also als Disziplinierungsinstrument.
Missbrauch – und kein Ende – das bedeutet also nicht nur, dass sicher noch weitere Missbrauchsfälle bekannt werden. Es bedeutet auch, dass die Kirche und die Medien noch lange nicht die mit den Missbräuchen deutlich gewordenen Probleme hinreichend begriffen hat. Und obiger Titel soll auf weitere Bereiche hinweisen, in denen Kinder zu Opfern gemacht, mißbraucht werden werden, indem diese für bestimmte Zwecke instrumentalisiert werden.
Damit soll ein Aspekt des Themas „Missbrauch“ angesprochen werden, der in der bisherigen Diskussion noch nicht ausreichend bedacht wurde. Nicht nur, dass dieser Begriff recht undifferenziert für recht unterschiedliche, auch moralisch sehr verschieden zu bewertende Verhaltensweisen verwendet wird. Hierbei besteht die Gefahr, durch einen inflationären Gebrauch des Begriffes das jeweils Gemeinte über Gebühr zu skandalisieren oder aber zu relativieren. Durch die Verwendung des Begriffs „Missbrauch“ scheint man außerdem vorauszusetzen, es gebe auch einen legitimen „Gebrauch“ von Menschen. Dies scheint nun gar keine unstatthafte Unterstellung zu sein. Millionenfach werden täglich Kinder für die Zwecke wirtschaftlichen Profits oder die Befriedigung egoistischer Interessen ausgenutzt, „gebraucht“. Hunger und Elend weltweit sind die Folgen dieses alltäglichen Gebrauchs von Menschen zum eigenen Vorteil. Hier allerdings kann keiner, auf die Anklagebank gesetzt, mit dem Finger auf andere als die Schuldigen zeigen. Denn von diesem „Ausnutzen“ (im gängigen Sprachduktus muß man auch von „Missbrauch“ sprechen!) profitieren alle, die Nutznießer des globalen Finanz- und Wirtschaftssystems sind – und davon kann sich wohl keiner hierzulande ganz freisprechen. Redet man vielleicht so aufgebracht von den Missbrauchsfällen, um von dem anderen viel umfassenderen Missbrauchszusammenhang, in den unsere Gesellschaft involviert ist, abzulenken oder wenigsten weniger sprechen zu müssen?
„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals nur als Mittel brauchst.“ Mit dieser Formulierung des Kategorischen Imperativs erinnert uns Kant daran, dass keine Person nur als Mittel benutzt werden darf. Die Begründung liegt gerade in der Personwürde jedes einzelnen, die in seiner Freiheit gründet und ihren Ausdruck findet.
Nur, wenn die aufgezeigten Zusammenhänge bei den augenblicklichen Debatten – in Kirche und Gesellschaft - berücksichtigt werden, erscheint die berechtigte Entrüstung ehrlich und wird man bei den Forderungen auf die notwendigen Konsequenzen hoffen dürfen. Behutsames Sprechen „Dritter“ ist auch in diesem Kontext geboten – nicht zuletzt deswegen, weil nur eine Personengruppe die Opferperspektive authentisch vermitteln kann: die Opfer!
Ut
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Entlarvendes zum Weltgeschehen
Das Chaos auf den Finanzmärkten der Welt zu durchschauen, ist einem normal Sterblichen kaum möglich. Über die Köpfe der meisten rauschen Hunderte und Tausende von Milliarden wie Zahlen aus einer Währung hinweg, die von einem anderen Stern kommt. Ist nicht gleichzeitig im Alltag spürbar, daß alles teurer wird? Man kann sich nur über Politiker und Gefolge wundern, die sich unter diesen Umständen über „Politikverdrossenheit“ und alarmierende Wahlenthaltung wundern.
Der folgende Text erlaubt eine Schnappschußaufnahme auf dieses Schauspiel. Er ist ein Ausschnitt (S. 42-45) aus der Neuauflage als Taschenbuch (8,50 €) einer Streitschrift, die Carl Amery 2002 drei Jahre vor seinem Tod veröffentlicht hat.
Sicher ist es ungewohnt, das Weltgeschehen als totalen Markt zu sehen, beherrscht von imperialistischen Bestrebungen und einer dazu passenden Ideologie, der „Reichsreligion“ (sh. Imprimatur 2002/2). Wer jedoch das äußerst empfehlenswerte Buch von vorn bis hinten liest, dem kann es wie Schuppen von den Augen fallen. Die Feststellung vom drohenden Staatsbankrott ist zum Beispiel tatsächlich schon 8 Jahre alt! Der eigentliche Ausgangspunkt Amerys ist die ökologische Krise. Seine abschließende Hoffnung auf ausreichende Widerstandskräfte aus den Kirchen oder anderen Religionen basiert jedoch offenbar auf dem persönlichen Glauben des Autors. Die vorhergehende Analyse ist allemal brilliant.
Kl.
„Dies (die vorhergehenden Bemerkungen zum „Nintendo-Krieg“) gilt insbesondere für die sogenannten Kollateralschäden; auf deutsch: für die Verwüstungen an Menschen, Ressourcen und Landschaften, die durch die hohe Effizienz der »punktgenauen« Kriegführung nebenbei angerichtet werden. (Für unsere Enkel werden sie bemerkbarer - und folgenschwerer - sein als die gefallenen Soldaten.) In Kuwait und im Irak brannten die Horizonte von den zerstörten Erdölquellen; und nach dem Nie-wieder-Auschwitz-Krieg gegen Serbien rannen Ströme von chemischen Giften über, unter und zwischen den Wassern der Donau. Während altmodische gesundheitspolitische Besorgnis die Pharmaindustrie zwingt, bei ihrer Werbung wenigstens rituell auf Risiken und Nebenwirkungen ihrer Produkte hinzuweisen, läßt das PR-Management der Technokrieger dergleichen souverän beiseite. Außerdem: Der miserable Zustand eines Stroms oder eines Wüstenbiotops ist durch das oberflächlich-bunte Gezappel der modernen Medien ohnehin kaum zu vermitteln, und für das Management selbst sind Berge von Schutt und Sondermüll kein Gegenargument. Wozu auch? Ein solcher Krieg ist ohnehin die Fortsetzung der üblichen Wirtschaftsweise mit fast gleichen Mitteln: Gefährlicher Schutt, gefährlicher Abfall sind immanente Begleiterscheinungen hoher Effizienz - von den Krebsraten der Aborigines in den Uranabbaugebieten bis zu den chemisch durchseuchten Sondermülldeponien, die allmählich regelrechte Risikogebirge bilden. Die Logik des Technokriegs kommt hier nahtlos mit der Logik des Totalen Marktes, seinen Produktions- und Konsumtionsbedingungen überein.
Das WC-Personal
Dieser Zustand erfordert riesige Entsorgungsanstrengungen - und damit kommen wir zur »normalen« Politik (jedenfalls vor dem 11. September 2001). Nach der dummdreisten Logik des Totalen Marktes hat sie für die Sicherung und Einhaltung der Entsorgungsregeln geradezustehen. Während er, der Markt, dem Staat laufend Mittel und ordnungspolitische Kompetenz entzieht, während sich der Prozentanteil der Massensteuern am Aufkommen des Fiskus laufend vergrößert und Konzerne wie Milliardäre sich praktisch nur noch subventionieren lassen (bei nahezu totaler Steuervermeidung), hat der Staat erstens Steuer-»Reformen« einzuführen, die den Reichtum noch mehr begünstigen; hat der Staat zweitens Sozial-»Reformen« durchzuführen, die uns in die Zeiten des Manchesterkapitalimus zurückwerfen; und hat der Staat drittens - wenn nötig in Zusammenarbeit mit so bewährten Freunden wie dem Internationalen Währungsfonds - den aus waghalsigen Spekulationen erwachsenden Staatsbankrott Dritter, der das System durcheinanderbringen könnte, aus eigenen Schatztruhen aufzufangen und abzuwenden.
Solch absolute und absurde Macht des Geldes entsteht aus seiner fast gänzlichen, von der neoliberalen Theologie vorangetriebenen Deregulierung, die solche Macht endgültig in Allmacht zu verwandeln strebt. Sie entsteht außerdem aus der Erpressung, die vom Wettbewerb der ständig gegeneinander ausgespielten Standorte ermöglicht wird, wobei die Staaten nur noch auf die Stichworte der Transnationalen reagieren. Alle kommunizierenden Röhren der politischen Weltgesellschaft werden aufgefüllt mit dem stetig steigenden Volumen des goldenen Blutes, das schon fast alle sonst möglichen Gesellschaftsziele und Wertsysteme hinausschwemmt in die Irrelevanz des Kulturbetriebs. Internationale Konkurrenz, angeblich die unvermeidliche Ursache von soviel Inhumanität, soviel Arbeitsplatzvernichtung, soviel sozialer Zerrüttung und biosphärischem Massenmord, wird international mit dem letztgültigen und letztpolitischen Rahmenwerk abgesichert, das im Zuge der sogenannten Globalisierung über Welthandelskonferenzen, GATT-Runden, Investitionsschutzverhandlungen und vor allem, seit 1995, durch die WTO, das neue heilige Büro der Menschheit, stetig und hartnäckig ausgebaut wird. Staaten werden in Defensivstellung gebracht und beliebig erpreßbar. Nationale Gesetze und Anordnungen zum Schutz sozialer Errungenschaften oder der natürlichen Umwelt, die über die international übliche Misere hinausgehen? Das darf es nicht mehr geben. Das wird als Handelshemmnis, ja als »Enteignung« definiert, wird angeklagt vor speziellen, keiner politischen Souveränität unterworfenen und keiner Revisionsinstanz verantwortlichen Gerichtshöfen.
Beispiel: Der sehr arme mexikanische Bundesstaat San Luis Potosí erklärte
ein großes Terrain zum Naturschutzgebiet, um es vor der geplanten Verwendung
als Deponie für US-Sondermüll zu schützen. Die betroffene US-Firma
Metalclad Corporation klagte auf neunzig Millionen Dollar Entschädigung,
der mexikanische Staat verlor und mußte das fragliche Land der Vergiftung
preisgeben — aufgrund eines Schiedsspruchs der NAFTA-Freihandelszone,
in der sich kommendes Weltweites abbildet.
Initiativen zur internationalen Privatisierung sämtlicher öffentlichen
Dienste (einschließlich der Schulen) sind in Vorbereitung: Bildung als
Spezialtraining für die Gladiatoren der Marktarena, den jeweiligen Sponsor:
Es lebe die Coca-Cola-Universität! Klassische Errungenschaften der politischen
Moderne, wie die drei sich gegenseitig kontrollierenden Gewalten, verblassen
und schwinden, treten ihre wesentlichen Funktionen an gesichtslose Gremien der
transnationalen Elefantenriege ab. Darüber wird verhandelt in kleinen hübschen
Châteaus, in der Bergluft von Davos, auf einem Kreuzfahrtschiff; die Staaten,
die hier kastriert werden, bilden dicke Sicherheitskordons um sie, und nur Indiskretion
von Leuten, die ihr Gewissen drückt, läßt Einzelheiten nach
außen dringen. Es handelt sich schließlich um vertrauliche Geschäfte,
die man seit eh und je in Hinterzimmern erledigt.
Und zu alldem, so hören wir, gibt es keine Alternative - TINA.“ (die von M. Thatcher geliebte Formel: There is no alternative)
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