Thomas Schüller
Gemeindeleitung durch Laien?
Von Möglichkeiten und Grenzen einer überraschenden Norm des kirchlichen Gesetzbuches (CIC)


Schaut man sich die Personal- und Pastoralplanungen der deutschen Bistümer an, so ist es um den Fortbestand des ausdifferenzierten Systems von Pfarreien nicht gut bestellt. In vielen Diözesen werden Pfarreien aufgelöst und mit anderen Pfarreien zu Großpfarreien zusammengelegt. Bei genauerem Hinschauen wird deutlich, dass neben dem beinahe schon stereotyp genannten vierfachem Mangel („Mangel an Priestern, Gläubigen, Finanzen und - besonders pittoresk – Glauben“) – die Stichhaltigkeit dieser „mangelhaften“ Mängelliste wäre eigens in jedem Fall kritisch zu überprüfen – als vermeintlichem Begründungsszenario letztlich die langfristig zur Verfügung stehende Zahl von leitungsfähigen Priestern als eigentlicher Planungsschlüssel für die Zahl zu erhaltenden Pfarreien ausschlaggebend ist. Dass Pfarrei auch kirchenrechtlich nach c. 515 § 1 CIC mehr ist als nur ein ordentlich bestallter Pfarrer, wird in dieser ausschließlich vom Kleriker her konzipierten Perspektive von Kirche vor Ort nicht mal ansatzhaft erkannt.

Aber nicht nur von dieser Seite droht den Pfarreien in ihrer Existenz Gefahr. Auch aus pastoraltheologischer Perspektive ist schon lange die Sterbeglocke aktiviert worden, was zeigt, dass die Diskussion über die Zukunftsfähigkeit der Pfarrei kaum in das bekannte und doch so oft ermüdend wirkende kirchliche Lagerdenken von progressiven und konservativen Kräften, die miteinander ringen, eingeordnet werden kann. Die „Sündenliste“ der überkommenen Pfarreien und ihrer harten „Kerne“ ist lang: die Lebensräume der Gläubigen sind aufgrund der gewandelten Arbeits- und Lebensverhältnisse größer als das eng umschriebene Gebiet einer Pfarrei; die Pfarreien strahlen keine Attraktivität aus, weil die wenigen engagierten Ehrenamtlichen nur noch einen schmalen Ausschnitt der Bevölkerung widerspiegeln (Sinusstudie) und von daher eher wie „geschlossene Gesellschaften“ (Sartre) denn als einladende Orte praktizierten Glaubens auf Außenstehende wirken; viele Suchende im Glauben werden durch dieses System von Pfarrei nicht mehr angesprochen, weil sie nach neuen, ihrem Lebensgefühl entsprechenden religiösen Angeboten suchen. Hinzu kommen Hinweise auf die mangelnde Lebensfähigkeit vieler Pfarreien, die sich an Symptomen wie fehlender Kinder- und Jugendarbeit, Unmöglichkeit der Besetzung pfarrlicher Gremien mangels Kandidaten u.v.m. zeigen. Und in der Tat: nach dem Boom neuer Pfarreigründungen in der Nachkriegszeit, die auch durch die geburtenstarken Jahrgänge mitbedingt waren, kann man bei vorurteilsfreiem Blick auf die reale pastorale Situation vieler Pfarreien nicht die Augen davor verschließen, dass sie sprichwörtlich „zu Tode“ gekommen sind. Dies ist für die in diesen Pfarreien alt gewordenen Gläubigen, gerade, wenn sie über viele Jahre engagiert in ihren Pfarreien ehrenamtlich gearbeitet haben, eine bittere Erfahrung. Sie wird verstärkt durch einen oft unsensiblen Umgang mit ihnen, wenn besonders junge Kleriker oder moderne Pastoralperformer in den bischöflichen Kurien nicht selten auch öffentlich dieser Generation attestieren, es sei nur noch eine Frage der Zeit, wann dieses Problem sich auf „natürliche“ Weise gelöst habe und man mit den wirklich überzeugten Katholiken („Theorie des Heiligen Restes“) an neuen Orten des Glaubens in neuer Weise katholische Kirche leben könne. Nicht selten nennt man diese Generation im innerkirchlichen Sprachgebrauch die „alt gewordene Konzilsgeneration“, deren Irrtümer und fehlgeleiteten Reformen man gedenke nicht zu wiederholen. Da ist es nur bedingt tröstlich, dass zu diesen Gläubigen auch ältere Pfarrer und emeritierte Diözesanbischöfe gezählt werden.

In diesem - zugegeben - zugespitzt gezeichnetem Szenario wirken Hinweise auf Möglichkeiten des katholischen Kirchenrechts, das gemeinhin zumindest in „linken“ katholischen Kreisen wenig Aufmerksamkeit erfährt, in Zeiten des Pfarrermangels die Verantwortung für lebendige Pfarreien in die Hände von ehren- oder hauptamtlichen Laien zu geben, eher störend, wenn nicht sogar verstörend. Aber der verstorbene Papst Johannes Paul II. hat trotz manch kritischer Einrede bei der Promulgation des kirchlichen Gesetzbuches daran festgehalten, dass der neue c. 517 § 2 CIC in das Gesetzbuch aufgenommen wird. Er sieht vor, dass ein Diözesanbischof im Fall von Priestermangel, wenn er einer Pfarrei keinen eigenen Pfarrer geben kann, eine Gruppe von Gläubigen oder einen einzelnen Gläubigen, die nicht die Priesterweihe empfangen haben, mit der Wahrnehmung der Hirtensorge betrauen kann, wobei ein nebenamtlich leitender Priester die priesterlichen Dienste und die Pastoral insgesamt gegenüber dem Diözesanbischof verantwortet. Dieser ist aber kein Pfarrer.

Dieser Kanon verdankt sich positiven Erfahrungen („ius sequitur vitam“), die mit der Leitung von Gemeinden durch Ordensschwestern und katechetisch ausgebildeten Laien in vielen Ländern Südamerikas seit vielen Jahrzehnten gemacht worden sind. Interessant ist nun, dass diese pastoralen Erfahrungen aus der Südhalbkugel, dadurch, dass sie in c. 517 § 2 CIC in Rechtsform gefasst worden sind, in andere Teile der Weltkirche transferiert werden konnten. Das hat dazu geführt, dass vor allem in den Ländern der Weltkirche dieser Kanon heute unter ganz anderen soziokulturellen und pastoralen Verhältnissen angewendet wird, wo es sehr viele, oft kleine Pfarreien gibt wie in Westeuropa und noch einmal ganz besonders in den Ländern des deutschsprachigen Raumes. Es kommt hinzu, dass dieser Kanon in den deutschsprachigen Diözesen zumeist personell durch ein hauptamtlich personales Angebot aus den Gruppen der Pastoral- und Gemeindereferenten/Innen und der Ständigen Diakone im Hauptberuf abgedeckt wird, womit unweigerlich die Frage nach einem Leitungsdienst in der Pfarrei ohne Weihe aufgeworfen wird.

In den anderen Teilen der Weltkirche, so wurde auf einer vom 12. bis 15.10.2010 in Münster durchgeführten Internationalen Fachtagung zur Gemeindeleitung durch Laien deutlich[1] , wird schon seit vielen Jahrzehnten vom Bischof beauftragten Laien die Seelsorge in priesterlosen Gemeinden verantwortlich übertragen, die taufen, beerdigen, der Ehe assistieren, vor allem aber den Gläubigen als feste Ansprechpartner dienen. Allerdings sind dies oft Gemeinden, die nicht Pfarreien im kirchenrechtlichen Sinn sind. Diese bischöflich ausgebildeten und beauftragten Gläubigen hat es zum Beispiel in Nordindien schon lange vor der Promulgation des CIC von 1983 mit seinem c. 517 § 2 CIC gegeben, wie der indische Kanonist Alex Vadakumthala auf der Tagung in Münster nicht ohne Stolz berichtete.

In dem Austausch der weltkirchlichen Erfahrungen auf der Münsteraner Tagung[2] wurde deutlich, dass es bei allen Unterschieden immer wieder um das Anliegen der Bischöfe geht, katholische Kirche vor Ort erfahrbar zu machen, auch wenn längere Zeit keine Priester in diese Orte kommen, um zum Beispiel mit den Gläubigen die Eucharistie zu feiern. Dies deckt sich mit Ergebnissen einer Studie[3] zu pfarrerlosen Pfarreien in den Bistümern Aachen und Limburg, die nach c. 517 § 2 CIC geleitet wurden. Michael Böhnke (Bergische Universität Wuppertal) in Kooperation mit Thomas Schüller (Institut für kanonisches Recht der Katholisch-Theologischen Fakultät Münster) konnte durch Befragung von Gläubigen dieser Pfarreien als ein zentrales Ergebnis ermitteln, dass sich die Gläubigen eine präsente Kirche mit festen Ansprechpartnern vor Ort wünschen.

Der Anspruch der Interviewpartner auf gemeindenahe pastorale Präsenz vor Ort fordert die Realisierung der Katholizität der Kirche von den Bischöfen ein. Damit ist katholisch im Sinne von allumfassend gemeint, ein Gedanke, der mit dem in Jesus Christus geoffenbarten Heil korrespondiert, das das ganze Leben der Menschen umfängt und trägt, vor allem dann, wenn es auf dem Spiel steht in den bedrohlichen Situationen des Lebens. Es kennzeichnet und verschärft die derzeitige pastorale Krise der Kirche, dass diese strukturkonservativen Erwartungen der Gläubigen nach Erhalt ihrer Pfarreien, letztlich nach einer ortsnahen Pastoral mit Gesicht, mit Strukturreformen begegnet wird, die personalkonservativ motiviert sind, nämlich die Zusammenlegung von Pfarreien, damit diese wieder durch einen Pfarrer geleitet werden. Der Preis dafür – der mögliche Verlust der Erfahrbarkeit der Katholizität – ist hoch. Eine Kirche, die nicht unter den Menschen präsent ist, kann nicht sakramentales Zeichen des unbedingten und universalen Heilswillens Gottes sein.

Der c. 517 § 2 CIC ist ein sicher temporal befristetes Planungsinstrument des Bischofs, um die pastoralen Strukturveränderungsprozesse in dem ihm übertragenem Bistum zum Wohle der Gläubigen vor Ort zu gestalten. „Dahinter steht auch der Gedanke, dass eine Pfarrei, die in ihren Grundvollzügen lebensfähig ist, nicht ohne Not, auch wenn ihr kein eigener Pfarrer gestellt werden kann, kirchen- und staatskirchenrechtlich aufgelöst und einer anderen Pfarrei zugepfarrt werden sollte. Umgekehrt gilt aber auch: Wird der c. 517 § 2 CIC zur Dauerlösung und verhindert ein vorurteilsfreies Nachdenken über die Sinnhaftigkeit überkommener territorialer Seelsorgestrukturen, dann hat er in der Anwendung durch den Diözesanbischof eindeutig sein Ziel verfehlt.“[4]

Zum Autor:
Thomas Schüller (1961), seit 2009 Direktor des Institutes für Kanonisches Recht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster; von 1993 bis 2009 Leiter der Abteilung Kirchliches Recht, Bischofsnotar und Kirchenanwalt im Bischöflichen Ordinariat und Offizialat Limburg und einige Jahre Persönlicher Referent von Bischof Franz Kamphaus.


© imprimatur März 2011
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[1]Vgl. U. Ruh, Gemeindeleitung: Weltkirche als Experimentierfeld, in. HK 64 (2010), 603-605.
[2]Vgl. M. Böhnke/T. Schüller, Gemeindeleitung durch Laien? Internationale Erfahrungen und Erkenntnisse, Regensburg 2011.
[3]Vgl. M. Böhnke/T. Schüller, Problematische Strategien. Zur Neuordnung der Pastoral in deutschen Diözesen, in: HK 63 (2009), 451 – 456; vgl. M. Böhnke/T. Schüller, Zeitgemäße Nähe. Evaluation von Modellen pfarrgemeindlicher Pastoral nach c. 517 § 2 CIC (= Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge), Würzburg 2011.
[4]T. Schüller, Pfarrei und Leitung der Pfarrei in der Krise – eine kritische Bilanz der kanonistischen Diskussion zur sog. „Gemeindeleitung“ auf dem Hintergrund kooperativer Seelsorgeformen in den deutschsprachigen Diözesen, in: Ahlers, Reinhild; Laukemper-Isermann, Beatrix (Hrsg.), Kirchenrecht aktuell - Anfragen von heute an eine Disziplin von gestern? Essen 2004 (= Beihefte zum Münsterischen Kommentar zum Codex iuris canonici; 40), 153-170, hier 166.