Vorbemerkung
Die Gerontologie ist längst eine transdisziplinäre Wissenschaft, die ihre Fragen nicht zuletzt aus der stetig wachsenden Aktualität ihres Gegenstands entwickelt. Alter ist nicht nur ein physiologischer Vorgang, sondern auch ein gesellschaftlicher und individueller Prozess. Allem Anschein nach ist Alter ebenso unterschiedlich wie die Menschen, die es antizipierend reflektieren oder in actu leben. Die Gerontologie vermag Konstanten, Kontexte und Wechselbeziehungen des Alters aufzuzeigen. Schwieriger fällt es ihr jedoch, sich auf Prognosen oder gar „Rezepte“ des gelungenen Alters zu einigen.
Hochschätzung und Verachtung, Lob und Klage, Integration und Desintegration des Alters und der Alten waren und sind in allen Zeiten zu finden. So wären die vielfältigen Mahnungen der Hl. Schrift, das graue Haar zu achten - „Du sollst vor grauem Haar aufstehen, das Ansehen eines Greises ehren und deinen Gott fürchten.“ (Lev 19,32) -, wohl nicht nötig, wenn es in ihrer Welt nicht auch gegenläufige Erfahrungen gegeben hätte.
Eines lässt sich gewiss sagen: Alter ist viel mehr als ein Lebensabschnitt, es ist als eine Lebensweise zu begreifen, die sich mit dem kalendarischen verbinden kann, aber nicht notwendig muss. Es geht beim Alter immer auch um die Lebensgestaltung, die den Menschen in seiner Verantwortung für sich, für die Anderen und vor Gott fordert.
Insofern theologische Rede den Menschen in seiner Bezogenheit und Zuordnung auf Gott wahrnehmen muss, wächst ihr das Thema Alter gleichsam von selbst zu. Es ist das dem Menschen Bevorstehende. Freilich kann theologische Reflexion über das Alter nicht von den Menschen, die altern, absehen.
Und doch muss gesagt werden, dass es bei diesen Überlegungen nicht um die Alten als Thema der Theologie geht, m. a. W.: pastoraltheologische Erwägungen stehen nicht im Mittelpunkt. Es gibt aber selbstkritisch zu denken, dass die Frage der Alten in der Gemeinde erst dann auf die Agenda der Pastoraltheologie kam, als demographische Entwicklungen die Alten in der Gemeinde längst zu einem numerisch beherrschenden Faktor gemacht haben.[1]
Theologisches Grundverständnis des Alters
Um theologisch vom Alter zu reden, muss die Position benannt werden, von der her dieses Sprechen erfolgt.
Zur Kennzeichnung der unterschiedlichen Betrachtung und Herangehensweise an das Alter als theologisches Alter kann man sich auf Karl Rahner berufen, der das schreckliche Wort, im Alter habe man das Leben hinter sich, in christlich angemessene Rede umdeutete: „Wenn wir dann aber sagen, wir hätten unser Leben „hinter uns gebracht“, dann muß der genauer und tiefer denkende Mensch stutzen, erst recht, wenn er ein Christ ist. Denn wir müßten eigentlich sagen: Wir haben unser Leben im Alter „vor uns gebracht“. Die Freiheitsgeschichte unseres Lebens brachte aus den unzählig vielen Möglichkeiten wie aus einem dunklen Grund, der vorgegeben und nicht von uns verfügt hinter uns liegt, die konkrete Gestalt unseres Lebens durch unsere Freiheitstat hervor und vor uns. Und diese ist und steht vor dem prüfenden Blick unseres Gedächtnisses und unserer Erinnerung.“[2]
Alter ist die Zeit, in der man je neu sein Leben gestaltet, eingedenk des geschehenen Lebens - im Guten wie im Bösen, in Schuld wie in Vergebung. Alter ist in diesem Sinne ein Freiraum seiner selbst, in dem man sich und seinem Leben anders und neuartig begegnen kann. Da dem Alter das Wissen und die antizipatorische Erfahrung der Endlichkeit beigegeben ist, vermag es in der freudigen Bejahung des Lebens gelingen, diesen Freiraum zu gestalten und, wo nötig, zu erkämpfen. Gewiss artikuliert sich hier eine Hoffnung, die ihren Grund außerhalb des menschlichen Vermögens hat. Dass aber der Mensch auch einiges tut, um diese Hoffnung zu destruieren, sei im Folgenden bedacht. Es gibt Bedrohungen des Alters, die daran hindern, dieses lebenswichtigen Abschnitts menschlicher Existenz inne zu werden.
1. Anfeindungen des Alters
Es gibt verschiedene Elemente, die ein selbstbestimmtes und selbstverantwortetes Alter, wenn nicht verhindern, so doch merklich erschweren. Einige seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit kurz angeführt; sie wären aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen und subjektiver Erfahrungen leicht vermehrbar.
1.1 Konsumismus und Alter
Die Entdeckung des Alters und der Alten als wirtschaftlicher Faktor sind zweifelsohne Folgen der demographischen Entwicklung. Die Gesetze des Marktes gelten eben für alle, vorausgesetzt sie sind dem Markt dienlich. Es soll hier wahrhaftig nicht darum gehen, Konsumverzicht zu predigen oder zur materiellen Mäßigung zu mahnen. Denn recht betrachtet ist es ein Vorrecht und ein Privileg des Alters, dass es keiner Mahnungen mehr bedarf.
Vielmehr ist es darum zu tun, dass die konsumistische Sicht des Alters völlig eingleisig ist, indem sie bestimmende Elemente des Alters verschattet. In ihr wird das Leistungskriterium, das die gesellschaftlichen Prozesse durchzieht, in das Alter hinein verlängert. Das Alter, so die Suggestion, kann nur dann als gelungen gelten, wenn die Norm der Leistung weiterhin erbracht wird, so dass Innehalten als Verfehlung am Alter gelten kann. Notwendigerweise verdrängt dabei die vita activa die vita contemplativa.
Kaum etwas anderes kann dies so gut belegen wie das Wortungeheuer von den „jungen Alten“. Selbst wenn damit nur gemeint sein sollte, es handele sich um gesunde Betagte, wird das Alter diskriminiert, denn folgerichtig wären die alten Alten die Siechen und Kranken, denen nichts mehr bleibt außer eben dem untätigen Alter.
Diesem Alter eignet kein Wert und wohl in dieser Sicht keine Würde, da es eben nicht mehr das Adjektiv „jung“ verdient. Die Wendung von den „jungen Alten“ ist eine Variante der Jugendpriorität, die implizit behauptet, Jungsein sei nicht nur ein erstrebenswerter Zustand, sondern auch ein angemessenes Kriterium der Beurteilung aller Lebensphasen.
Damit wird der Erfahrungsschatz des Lebens negiert, der das Alter grundsätzlich von der Jugend unterscheidet. Die im Alter je neu zu machenden Erfahrungen sind quantitativ und qualitativ nach dem erfahrenden Subjekt verschieden. Gleichwohl ereignen sie sich stets angesichts der Summe des in einem Leben Stattgehabten. Die tastenden, suchenden Wege der Erfahrung in der Jugend wären im Alter nur möglich, wollte man sich und seine Erfahrungen verleugnen.
Der Preis für die Verwischung zwischen Jugend und Alter wird dabei nur auf Seiten des Alters gezahlt. Dort, wo das Alter sich zeigt als Erfahrung des Verlustes geistigen und körperlichen Vermögens, bricht das auf, wofür im Konsumismus kein Ort ist: die menschliche Existenz in ihrer Bedrohtheit.
Dächte man das Konzept des konsumistischen Alters zu Ende, wäre das Alter ein Zustand, dem es an Lebenswürde und Lebensfreude grundlegend mangelte. Die Fortsetzung der jungen Alten wären die verzweifelten Alten.
Gegen die konsumistische Täuschung ist Widerstand anzumelden: „Diesbezüglich gibt es hohle Parolen („Man ist so alt, wie man alt sein will“ usw.), die man sich nicht anquälen sollte, sondern ehrlich und nüchtern zur Abnahme seiner Lebenskraft in allen Dimensionen (auch des Geistes) sich bekennen. Aber man lebt eben doch noch und sollte das Leben, das einem noch geblieben ist, wirklich leben und ausfüllen wollen.“[3]
1.2 Das Verschwinden des Alters in der Verantwortung
Im Philemon-Brief stellt Paulus sich als Greis vor; er war um die 55. Und nicht einmal vor 50 Jahren galt ein Mann oder eine Frau, die das 80. Lebensjahr vollendeten, als gesegnet. 100jährige waren Fabelwesen gleich, von deren Existenz man bisweilen hörte, weil der Geburtstag überall vermerkt wurde.
Das sind fast nur noch Erinnerungen, denn die Altersentwicklung in den westlichen Industriegesellschaften hat sich grundlegend verändert.
Im Zentrum der gesellschaftlichen Wahrnehmung stehen dabei die pflegebedürftigen alten Menschen. Zwar ist die Zahl der selbstständig lebenden Hochbetagten viel höher als die, welche auf Pflege angewiesen sind, aber es ist nicht zu übersehen, dass es sich hierbei um ein gesellschaftliches Problem handelt, das bisweilen wie eine Bedrohung dargestellt wird.
Dieser Befund verdient umso mehr Beachtung, da es an kulturellen Vorgaben fehlt, die eingetretene Situation zu bestehen. Weder helfen Verklärungen der Vergangenheit mit ihrer angeblichen Solidarität zwischen den Generationen, noch Appelle an Angehörige sich um die hochbetagten Familienmitglieder zu kümmern, wobei die Realität damit zumeist die Frauen meint. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, diesen Akt der Solidarität in Frage zu stellen. Ihm gebührt aller Respekt. Wohl aber geht es darum, auf ein Problem zu verweisen, das in der allgemeinen Hilflosigkeit übersehen und verschwiegen wird, nämlich das Recht auf die Entfaltung des eigenen Alters der Pflegenden.
Bisher ist es noch nicht einmal ausgelotet, was es für eine Gesellschaft bedeutet, dass sich in relativ kurzer Zeit individuelle und kulturelle Muster des Lebens grundlegend veränderten. Was vor 100 Jahren kaum denkbar war, entspricht heute oft dem Alltag, nämlich mit 50, 60 Jahren oder mehr immer noch in Kindespflicht gegenüber den hochbetagten Eltern zu sein. Niemand wird bestreiten wollen, dass in dieser neuzeitlichen Erfahrung auch ein großes Maß an Glück liegen kann.
Und doch kann dieses Erleben zu einer Krise des Lebens führen. Menschen, die zum Teil noch die Verantwortung für die eigenen Kinder tragen, übernehmen obendrein noch die für die Eltern. Sie stehen in einer zweifachen Verpflichtung, wobei die eine aus dem Elternsein, die andere aus dem Kindsein erwächst. Damit stoßen zwei Verhaltensmuster aufeinander, die in der gesellschaftlich vorgegebenen Selbstwahrnehmung gegenläufig sind. Die „impliziten Versprechen“ (Micha Brumlik) zwischen Eltern und Kindern, die ungefragte Bindungen herstellen, ohne aber dass die damit einhergehenden Probleme benannt oder gar bewältigt werden, gewinnen an Dramatik, falls die Verantwortung den oder die trifft, die sich selber bereits der Schwelle des Alters nähern. Im solidarischen Eintreten für die tatsächlich Nächsten ist gewiss eine Erfüllung zu finden. Aber dies entlässt nicht aus der Frage, wie es um die selbst bestellt ist, welche diese Verantwortung übernehmen. Denn es erfordert ja nicht nur ein Höchstmaß an seelischer und körperlicher Kraft, sondern unter Umständen auch den Verlust der Eigenerfahrung. Es ist nicht christlich, wenn man nur an die Verantwortung für die Anderen erinnert, aber die Verantwortung für das eigene Leben hintanstellt. Das eigene Alter kann da nicht eingeübt und gelebt werden, wo es nur als Bedrohung des Sorgens für Andere erlebt wird.
Die Sorge für sich hat die gleiche Würde wie die Sorge für Andere.
Wer diese Perspektive außer Acht lässt, operiert letztendlich unfreiheitlich und setzt auf die Karte des schlechten Gewissens. Dass es für den Menschen um seiner selbst willen notwendig sein kann, Verantwortung abzugeben, kommt so nicht in den Blick.
Noch viel weniger ist damit geklärt, wie ein Mensch damit umgehen soll, dass ihm selber die Chance des Einübens und Innewerdens des Alters abhanden kommt. Es stünde der Theologie gut an, sich dieses Problems anzunehmen, um Menschen nicht unter dem Druck der Verantwortung zusammenbrechen zu lassen. Es sei daran erinnert, dass der barmherzige Samariter das Opfer der Räuber auch nicht auf eigenem Rücken trug.
1.3 Die Bedrohung des Alters durch das Altern
Die Vorstellung, das Alter gäbe im Wissen um die Endlichkeit Raum, um Frieden mit sich und Gott zu schließen, ist schön und unaufgebbar. Doch ist sie alles andere als einfach lebbar. Vielfältig sind die Anfechtungen des Alters. Hier ist nicht nur vom Nachlassen der Kräfte zu sprechen, sondern auch von den Verlusterfahrungen, den gesammelten Verletzungen, dem Versagen und der Schuld. Keineswegs ist das Alter gleichbedeutend mit stiller Frömmigkeit und Gottergebenheit.
Auch dies ist eine alte Erkenntnis, wenn man den Rat des Predigers liest: „Gedenk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe denn die bösen Tage kommen und die Jahre herzutreten, da du wirst sagen: Sie gefallen mir nicht“ (Koh 12,1). Es ist „leichter“ an den barmherzigen Gott zu glauben, wenn das Leben einem leicht fällt. Krankheit, Vereinsamung und Not können den Blick auf Gott verstellen. Die Erfahrung eines langen Lebens kann das Lob Gottes verstummen lassen.
Es gibt zahlreiche Gründe, warum das Alter als Krise des Glaubens erfahren wird. Der zentrale Grund jedoch ist das Altern selbst, das Innewerden, dass der Prozess des Sterbens ins Leben hineinreicht. Die Zeit, die einem bleibt, wird nicht als geschenkte erlebt, sondern als Fristsetzung für unerfülltes und unerfüllbares Wollen. Was bleibt, ist das Defizit.
Vielleicht hat diese Erfahrung auch zu der Verklärung des Sterbens als Moment der Entscheidung geführt, so als käme dem Sterben eine besondere theologische Würde zu, da es über das ganze Leben entscheidet.[4]
Dagegen ist daran zu erinnern, dass christliche Existenz sich im Leben vollzieht, an jedem Tag und jedem Moment. Zunächst und zuerst glaubt man für das Leben, nicht für das Sterben. Credimus vitae, non morti.
So sehr christliches Hoffen auf das ganz Andere gerichtet ist, so ist doch das Leben der geschenkte Ort in der Erfahrung dessen, der nach dem Glauben dieses Leben in der Hand hält. Die Liebe zum Leben in seiner Fülle ist dem Menschen beigegeben.
Was ihn bestimmt, ist die Natalität (Hannah Arendt). Der Mensch ist zum Leben und je neuen Anfang bestimmt. Das Leben läuft auf das Leben zu, als Ort des Seins des Menschen. Um die Wahrheit dieser Aussage weiß auch die Hl. Schrift. Das Sterben und der Tod beenden die einzigartige Möglichkeit, in der Schöpfung mit und vor Gott zu leben. Oder um nochmals den Prediger zu zitieren: „Denn bei allen Lebendigen ist, was man wünscht: Hoffnung; denn ein lebendiger Hund ist besser denn ein toter Löwe.” (9,4)
So entbirgt sich im Aufbegehren in Krankheit und Not des Alters gleichsam verhüllt eine Bejahung des guten Willens Gottes, der nun als fraglich erfahren wird. Wenn in der Schwere des Alterns die Rede von der Güte und Barmherzigkeit Gottes völlig fremd wird, dann kann Klage ein Ausdruck paradoxalen Vertrauens sein. Das Alter kann zum Gottesdunkel werden, das zu bestehen kaum menschenmöglich erscheint.
Wenn es darin überhaupt einen Trost gibt, dann letztmöglich den Schrei Christi am Kreuz in all seiner Verlassenheit. In jenem Moment ist es vielleicht auch möglich, Gott zu glauben, obwohl er sich als der Ferne erweist, und so die Ferne und Gott zu überwinden.
Gerade weil das Alter durch das Altern beschwert werden kann, ist es Ort der Erfahrung des Glaubens. Auch die Beschwernisse des Alters entlassen nicht aus den Fragen im Angesicht Gottes. Man mag mit allem Recht hoffen und bitten, dass die Erschwernis nicht zur Anfechtung des Glaubens wird. Doch selbst in dieser Anfechtung entbirgt sich eine Liebe zum Leben und damit im Letzten zu Gott.
2. Alter – eine Phase der freien Hoffnung
2.1 Zum Leben Altern - Altern mit Gott
Theologisch ist das Signum der Endlichkeit keineswegs für das Alter allein bestimmend. Eine Theologie des Alters, die dieses gleichsam als Einübung in die subjektive Eschatologie beschreibt, würde die Gefährdung jeglicher menschlicher Existenz verkennen. Zur Natalität des Menschen gehört auch das Bedrohtsein des Lebens.
Unüberboten hat dies vor 2700 Jahren der Prophet Amos formuliert: „..gleichwie wenn jemand vor dem Löwen flieht und ein Bär begegnet ihm und er kommt in sein Haus und lehnt sich mit der Hand an die Wand, so sticht ihn eine Schlange!” (5,19). Unsicherheit ist der Kern der Sicherheit.
Was aber das Alter von anderen Lebensphasen unterscheidet, ist der Umstand, dass das Ende des irdischen Lebens nahekommt und in Form von Krankheit und Nachlassen der Kräfte sich proleptisch in das Leben hinein manifestiert. Es hängt von vielen Konstanten ab, ob man diese Phase als Sein im Schatten des Todes oder im Licht des Lebens erfahren kann.
Um Sterben und Tod wissen wir wenig, hoffen aber, dass sie in Gottes Hand liegen. Das macht sie nicht weniger schwer, aber diese Hoffnung verweist doch wieder auf den Menschen selbst und das Leben, das ihm durch Gott ist.
Der Mensch vor Gott bleibt als Subjekt seines Lebens aufgefordert, dieses Leben anzunehmen, es verantwortlich zu gestalten und im Leben von Gott als Herr des Lebens Zeugnis zu geben.
Dies kann aber nur gelingen, wenn das Leben bejaht wird. Insofern das Alter die Lebensweise ist, in der das ganze Leben vor einem steht, ohne dass es zu einem Stillstand kommt, bedarf gerade das Alter der Kunst des Lebens.
Sie beinhaltet wesentlich, das Gewesene und das Geschehende miteinander in Beziehung zu setzen und zu leben. Beim Rückblick mögen Trauer wegen der Verluste und Traurigkeit wegen der Uneinholbarkeit überwiegen. Doch werden diese Empfindungen existenzbedrohend, insofern sie Dankbarkeit und Freude für das Seiende verschatten.
Das Alter nur als Verlust und Defizit zu erleben hieße in letzter Konsequenz, Gott und Gottes Barmherzigkeit aus seinem Leben zu entlassen. Die menschlichen Antworten auf die Erfahrung des barmherzigen Gottes: Freude und Dankbarkeit, Vertrauen und Liebe erhalten durch das Alter keine Dispens.
Es geht keineswegs um Vertröstung oder Bescheidung, um Drohung oder homiletische Imperative. Es geht um das Ernstnehmen des Menschen in seiner ganzen Wesenhaftigkeit und Existenz, die auf Gott verweist. Wenn nicht jetzt, wann dann, so könnte man fragen, soll der Mensch beginnen, zu sich, zu seinem Leben und zu Gott Ja zu sagen. Die Aufforderung Jesu: Seid barmherzig wie euer Vater im Himmel (Lk 6,36) gilt auch für sich selber. Die Nachsicht ist nicht nur eine Tugend gegen andere, sondern auch gegen sich selbst, und zwar in Zeiten der Krise.
Dabei ist keineswegs zu verkennen, dass die Annahme des Nachlassens der Kräfte selbst ein hohes Maß der Bejahung des eigenen Ichs verlangt. Krankheit, Vereinsamung und Not sind nicht schönzureden, sondern nur da als dem Menschen gegebene Herausforderungen und Teil des Lebens zu erkennen, wo man um ihre Schwere und Last weiß.
Unter den vielfältigen Verabschiedungen des Alters ist dies gewiss nicht die geringste, sich von seinem eigenen Selbstbild als Mensch vieler Möglichkeiten zu verabschieden.
2.2 Chance des Alters
Aber letztmöglich liegt hier auch eine Chance und eine Hoffnung des Alters. Denn das Eingestehen der eigenen Begrenztheit und des eigenen Unvermögens kann auch als Akt der Befreiung erlebt werden. Der Verzicht auf Nicht-mehr-mögliches, auf Unnötiges, auf nicht mehr zu tragende Verantwortung kann die Befreiung zu sich, zu anderen und zu Gott sein. Und dabei gibt es eben keine Vorschriften, sondern nur das eigen Mögliche.[5]
Eine Theologie des Alters hat im Letzten die Befreiung des Menschen zu sich
zum Ziel. Sie ist realiter Befreiungstheologie. Es gilt den Menschen zu dieser
Befreiung zu verhelfen, und sei es als Akt der Rechtfertigung eines erfüllten
oder enttäuschten Lebens.
Die biblische Sprache kennt für diese Form des Lebens einen Begriff: Weisheit. Weisheit wächst einem nicht biologisch zu, sie muss lebenslang eingeübt und erlernt werden. Alter, wenn es denn mehr sein soll als eine Lebensphase, wird darauf nicht verzichten können. Biblische Weisheit unterscheidet sich von der Tugend der Gelassenheit dadurch, dass sie weiß, dass es noch jemanden gibt, der zur Weisheit verhelfen kann und sie schenkt. So ereignet sich Weisheit auch dort, wo man sich nicht müht, sondern sich nur beschenken lässt.
So ereignet sich Weisheit auch dort, wo man sich nicht müht, sondern sich nur beschenken lässt. Vielleicht ist das sogar die größte Übung in Lebenskunst, die das Alter vollbringen kann, nämlich sich auf Gott verlassend und in der Zuversicht lebend, dass er es sein wird, der einen trägt, dass es nichts mehr gibt, das man tun müsste. Dann ist das Alter der Lebensabschnitt, bei dem man bei sich und bei Gott angekommen ist.
Dr. Rainer Kampling ist Professor für Biblische Theologie/ NT an der Freien Universität Berlin. Er hat vorstehenden Text bei einem Studientag der Katholischen Akademie in Saarbrücken zum Thema „Vom Alter und von der Ruhe. Biblische Einsichten“ am 15. Oktober 2010 vorgetragen. Er wird hier leicht gekürzt und ohne wissenschaftlichen Apparat (außer den theologischen Belegen) nach der schriftlichen Fassung in: Kampling, R., Middelbeck-Varwick, A. (Hrsg.): Alter – Blicke auf das Bevorstehende, Frankfurt a. M. 2009, S. 219 – 232, wiedergegeben. Red.
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