Rudolf Lill
Buchbesprechung im Interview: Benedikt XVI. „Licht der Welt“.
Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit.
Ein Gespräch mit Peter Seewald


(Für den Druck um einen Schlussabschnitt erweitert.)

Herr Lill, das jüngste Buch des Papstes fällt etwas aus dem Rahmen, denn es ist in der Form eines Gesprächs aufbereitet, eines Interviews. Ein Buch, das viel Altbekanntes, aber auch durchaus Neues preisgibt, von und über Benedikt XI. Aber es ist auch ein Buch, das aus der Sicht der Geschichtsschreibung vieles übergeht oder sogar unkorrekt darstellt.
Was ist für Sie als Historiker das markanteste Thema, das nicht oder nur verkürzt in diesem Buch auftaucht?

Lill: Nun, ich glaube, dass die Geschichtswissenschaft sich nicht wesentlich mit diesem Buch auseinandersetzen muss, denn es ist kein historisches Buch. Fragen zur Geschichte und zur Zeitgeschichte werden darin nur sehr oberflächlich gestellt, z.B. zur päpstlichen Unfehlbarkeit, zu Pius XII., oder zu Johannes Paul II. Sie werden benutzt, um eine Affirmation der bekannten vatikanischen Standpunkte und der Meinung des Papstes selbst zu bringen. Das ist alles unhistorisch, genauer gesagt: Beide Gesprächspartner, von denen Seewald noch päpstlicher auftritt als der Papst, verweigern sich der historisch-kritischen Methode. Der Papst tritt zwar einerseits bescheiden auf. Eindringlich wirbt er für Solidarität mit armen, kranken und missbrauchten Menschen. Er spricht auch von den täglichen Lasten seines Amtes und erklärt sich zum evtl. Rücktritt im Krankheitsfall bereit. An das historische Reflexionsniveau der Tagebücher Johannes XXIII., welche nicht ins Deutsch übersetzt wurden und welche von der vatikanisch inspirierten katholischen Publizistik geradezu ignoriert werden, kommt das Ganze aber nirgendwo heran. Man versucht, die möglichst hohe Auffassung vom eigenen päpstlichen Amt und von der derzeitigen mehr oder minder absolutistischen Kirchenverfassung als richtig und selbstverständlich darzustellen. Von historischen Prozessen, auch Umbrüchen, ist nie die Rede.

Je nachdem, wie man das Buch liest, sagen die einen, es ist sehr verinnerlicht, andere sagen, nein, der Schwerpunkt liegt letztlich auf der Kirchenpolitik und da tritt der Papst in der Tat auch immer wieder als Warner auf. Neben dem berühmten Warnruf vor dem Relativismus hat er jetzt ein neues Wort, einen neuen Begriff geprägt, nämlich den der negativen Toleranz, der in der Gesellschaft angeblich die Oberhand gewinnt und zwar verbunden mit der Warnung, dass die Sorge vor einer politischen Korrektheit im Rahmen dieser negativen Toleranz das Christentum auf ein Normalmaß weltweit reduziert. Hat er Sorge, dass das Christentum nicht mehr der bevorzugte Partner der Politik sein könnte?

Lill: Die Warnung vor der „negativen Toleranz“ der Progressisten nehme ich ernst. Aber, dass es nur um die Politik geht, habe ich nicht aus dem Ganzen entnehmen können. Doch im Grunde genommen wiederholt der Papst ja erstens seine Polemik gegen den Relativismus und er dehnt seine Kritik an der Moderne gerade auf deren negative Toleranz aus, aber er sagt nirgendwo, was denn von der Moderne für ihn annehmbar ist und was nicht. Er wendet sich wieder pauschal gegen die Moderne und spricht von Ersatzreligion. Damit kann man eigentlich als Historiker wenig anfangen.

Trotzdem vermischt sich ja, wenn ich’s mal so sagen darf, politische, historische Behauptung mit lehramtlicher Äußerung. Eine Vermischung, die ja immer wieder vorkommt und auch von vielen ja auch einfach hingenommen wird.

Lill: Ja, aber sie ist historisch nicht hinzunehmen. Lassen Sie es mich an zwei Beispielen zeigen. 1. Benedikt erweckt den Eindruck, als ob die päpstliche Unfehlbarkeit um 1870 aus der ganzen christlichen Tradition hergeleitet sei und schon im Urchristentum die Vorstellung einer solchen Unfehlbarkeit vorhanden gewesen sei (S. 22). Aber das ist falsch, und es gab die konziliare Gegenkonzeption, welche auf dem Konzil von Konstanz (1414 – 1418) in den nie widerrufenen Dekreten „Haec sancta synodus“ (1415) und „Frequens“ (1417) definiert worden war. Und außerdem wird verschwiegen, dass das Dogma von 1870 nicht nur die Unfehlbarkeit, sondern den Universalepiskopat des Papstes dekretiert hat, denn es vorher nie gab. Das heißt also, dass keine historisch aufweisbare Kontinuität, sondern ein Bruch vorhanden ist, der eine neue Kirchenverfassung eingeführt hat. 2. Der Papst behauptet (S. 178), dass Christus der Kirche eine Gestalt gegeben habe, auf die zwölf Jünger ausgerichtet und dass deswegen die katholische Kirche keine Frauen zu geistlichen Ämtern zulassen könne. Es ist immer diese direkte Kombination von heutigen Statusbehauptungen und einem zu diesen passenden Umgang mit der Geschichte.

Aber das hat ja z.B. schon der berühmte Michael Schmaus, der Dogmatiker der Vor- und Nachkriegszeit in Deutschland, an der Universität München zu Hause, auch mit Josef Ratzinger verbunden über den Streit um dessen Habilitationsschrift gesagt: „Das ist dogmatisch einfach nicht korrekt.“

Lill: Schmaus war ein ganz an den Quellen orientierter Dogmatiker und Dogmenhistoriker und der Streit um Ratzingers Habilitationsschrift ist ja in diesem Zusammenhang hochinteressant. Aber die historische Methode lehrt, dass wenn zur Zeit des strengen Judentums, in dem Jesus lebte und wirkte, Frauen zu keinerlei öffentlichen Ämtern zugelassen waren, dann auch Jesus dies nicht tun konnte. Aber aus einem gesellschaftlichen Umstand kann man als Historiker keine Norm für die Zukunft und für zwei Jahrtausende ableiten. Also auch diese Argumentation bezeugt leichtfertigen ungeschichtlichen Umgang mit der Geschichte.

Was dann auch dazu führen kann, wie jüngst geschehen, dass man in der Kirche neuerdings drei Stände ausmacht, nämlich den Klerikerstand, den Laienstand und den Stand der Frauen und auf die erstaunte Nachfrage, warum denn Frauen als dritter Stand, man sagt: „Ja, Laien könnten potentiell, männliche Laien könnten potentiell ja noch Kleriker werden, aber eine Frau in der katholischen Kirche niemals. Sie sehen, was das auch für Entwicklungen dann in der Praxis oder in der praktischen Lehre hat.

Lill: Ja, aber die haben erst recht mit Geschichte der Frauen und der Männer in der Kirche nichts zu tun. Und wenn der Papst so apodiktisch sagt „Wir können nicht“ Frauen zulassen, dann setzt er sich auch überhaupt nicht mit der Argumentation der anderen Konfessionen auseinander, die sich ja nicht leicht getan haben, Frauen zuzulassen. Also Prozesse historischen Nachdenkens, historischer Kritik kommen in dem Buch nicht vor. Und aus der „langen Dauer“ vor Pius XII. werden in den Gesprächen nur drei Päpste erwähnt (S. 14, 157, 158; das Register nennt mehr, bezieht sich dabei aber auch auf Seewalds Anhänge). Man ist eben ganz auf die „pianische“ Gegenwart konzentriert, nicht auf Tradition in vollem Sinne.

Ein Blick in die Gegenwart ist aber dennoch erstaunlich, denn bereits im Vorfeld dieser Buchveröffentlichung hatten die Aussagen des Papstes zum Gebrauch von Kondomen als Schutzmaßnahme gegen Aids und nicht – und das ist auch interessant und auch zu bestreiten - als Verhütungsmittel Erstaunen hervorgerufen. Man sah darin eine durchaus berechtigte, vorsichtige Korrektur der bisherigen lehramtlichen Aussagen des Vatikans. Für Kardinal Meisner, den Erzbischof von Köln, sind diese Aussagen des Papstes aber dennoch nicht grundlegend neu, er versteht auch die Aufregung nicht, bekräftigten sie doch vielmehr bereits früher gemachte Aussagen des Papstes zu diesem Problemkreis. Wie sehen Sie das?

Lill: Ich habe nicht verstehen können, dass gewisse Journalisten von einem revolutionären Schritt des Papstes sprachen. Denn diese Äußerung über den Kondomgebrauch unter Kranken ist nur ein verspäteter halber Schritt auf die Richtung der Vernunft und holt wahrscheinlich verbal nur das nach, was katholische Priester, Ordensleute und Laien in den bedrohten Ländern längst praktizieren. Aber im Grunde sind gerade die Abschnitte zur Sexualmoral in diesem Büchlein genau das, was der Papst immer schon gesagt hat und er bezieht sich ja ausdrücklich auf die Enzyklika Humanae Vitae Pauls VI. und setzt in diesem Zusammenhang in einem meines Erachtens unerträglichen Maße die Empfängnisverhütung in die Nähe der Abtreibung. Seine Grundsätze sind dieselben wie früher; und Sie haben ja schon gesagt, dass nicht von einer Erleichterung der Empfängnisverhütung, sondern nur von der Abwehr von Krankheiten die Rede ist. Wir sind da auf einem Gebiet, von dem ich als Historiker meine, dass es, was solche Einzelheiten angeht, das kirchliche Lehramt überhaupt nichts angeht. Es ist alles so, wie er es früher gesagt hat, auch ganz scharf in seinem Urteil über die Homosexualität (S. 180 f). Er gibt zwar zu, dass wenn jemand diese Neigung hat, das eine schwere Prüfung ist. Und dass man diesen Menschen entgegen kommen muss, aber das bedeutet nicht, dass die Homosexualität dadurch moralisch richtig ist. „Homosexualität steht gegen das Wesen dessen, was Gott ursprünglich gewollt hat“. Das zu sagen, ist sein Recht, wenngleich ein solcher Wille Gottes m.E. nicht beweisbar ist. Aber er zieht, wie schon die vatikanische Bildungskongregation 2005, eine unerhörte Konsequenz: „Homosexualität ist mit dem Priesterberuf nicht vereinbar“, und entsprechend muss die Auslese der Priesterkandidaten erfolgen. Mit seriöser Reflexion sexuellen Verhaltens und sexueller Deviationen hat das nichts zu tun.

Das ist natürlich auch eine Anfrage an die Politik in diesem Zusammenhang, denn das würde ja auch heißen, dass ein katholischer Politiker nicht Gesetze zur gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft befürworten kann, weil eben der Papst doch eine sehr eindeutige Position in dieser Sache bezieht.

Lill: Damit berühren Sie ein schwieriges, durch den doktrinären Rigorismus Benedikts XVI. unnötig verschärftes Problem, welches aber in seinem Buch mit Seewald nicht expliziert erörtert wird. Ich darf daher kurz antworten: Wenn der Papst glaubt, aufgrund seiner Interpretation der Tradition die Homosexualität objektiv verurteilen zu müssen, dann ist das seine Sache. Wenn er aber katholischen Politikern verbieten will, an Gesetzen zur (eventuell nur begrenzten) Anerkennung homosexueller Gemeinschaften mitzuwirken, dann mischt er sich in die politische Sphäre ein, welche ein katholischer Politiker aus seiner gesamtpolitischen Verantwortung gestalten muss. Von den Konflikten, welche daraus (neu) entstehen und letztlich die Mitgestaltung der Gesellschaft durch christliche Normen erschweren, erwähne ich nur den mit Italien, wo der Hl. Stuhl bekanntlich besonders intensiv mitwirken möchte. Den Ministerpräsidenten Prodi, einen aktiven, aber nach eigener Aussage „erwachsenen Katholiken“, brüskierte man, weil er auf die Forderungen nach Legitimierung nicht-ehelicher Gemeinschaften u.ä. grundsätzlich positiv reagierte. Den Hallodri Berlusconi dagegen hofierte man <(bis in die letzte politische Krise, November/Dezember 2010), weil er seine Familienpolitik u.ä. an den vatikanischen Normen ausrichtet.

Ein anderes großes Thema in dem neuen Buch des Papstes ist die Behandlung der allgemeinen Kirchenversammlung des Konzils. Mit Blick auf das letzte Konzil in der katholischen Kirche sagt Benedikt, dass eine Einberufung ein nicht wiederholbarer Gestus sei, den Johannes XIII. damals gesetzt hat und dass das Konzil – und jetzt kommt eine sehr merkwürdige Aussage – in der Interpretation der Medien in die Welt gekommen sei und nicht so sehr mit seinen eigenen Texten, die kaum jemand gelesen habe, so der Papst wörtlich. Wie sehen Sie denn diese Rezeptionsvorstellung des Konzils. Das scheint mir etwas merkwürdig zu sein.

Lill: Ja, die ist vollkommen falsch. Und es ist eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, die der Papst auf S. 85 ausspricht. Denn er hat das Konzil und dessen direkte, breite Wirkung ja erlebt; und es gab und gibt eine seriöse Konzilsforschung. Ich erinnere an den bedeutenden italienischen Historiker Giovanni Alberigo, der mit dem Segen Johannes XIII. diese Forschungen begonnen hatte und eine fünfbändige Geschichte des 2. Vatikanischen Konzils geschrieben hat, deutsche Ausgabe mit Klaus Wittstadt, auf breitester Quellengrundlage. Man könnte auch an die Fortsetzung der Studien Alberigos durch Alberto Melloni (u.a. Edition der Tagebücher Johannes XXIII.) oder an die Konzilsgeschichte von Otto Hermann Pesch erinnern. Und vor allen Dingen, das ist doch ein Schlag ins Gesicht all jener Bischöfe, Priester und Laien, welche anhand der Texte des 2. Vatikanums nach Ende dieses Konzils die uns allen bekannte Erneuerung des kirchlichen Lebens, der Ökumene und der Kontakte mit der modernen Welt betrieben haben. Da ist freilich die eine oder andere Übertreibung erfolgt, an der sich Josef Ratzinger ja schon seit 25 Jahren festhält. Im Wesentlichen hat er ja diese Vorwürfe – vorsichtiger - schon in seiner Schrift über die Zukunft des Glaubens 1986 geäußert, also immer unterschieden zwischen den Texten und der Verwirklichung des Konzils. Er sagt ja auch hier, es ginge ihm um die Kontinuität des Glaubens trotz neuem Konzil, aber seine Behauptung wegen der Rezeption des Vatikanums über die Medien ist, wie gesagt, falsch und für viele beleidigend.

Hängt damit auch zusammen, dass er das Konzil zwar als Konzil nicht beiseite schieben kann, aber auch keine Neuauflage eines Konzils, wenigstens nicht für sein Pontifikat sieht. Er schließt das ja nicht aus für andere nachfolgende Pontifikate. Dass aber gleichsam in der Stufe unter dem Konzil, nämlich in diesem Instrument der Bischofssynode man eigentlich die Dinge behandeln könne, die man eigentlich einem Konzil vorbehalten müsse. Ist das nicht letztlich eine Aushebelung der Konzilien der Kirche, die ja immer die große lehramtliche wie auch gesetzgeberische Institution in der Kirche gewesen sind?

Lill: Ja. Und die findet sich nicht nur an der Stelle, die Sie hier meinen, wo er von Konzil und Bischofssynoden spricht. Schon bei der kurzen Betrachtung des 1. Vatikanischen Konzils, auf das er sich ja beruft, weil es die Unfehlbarkeit definiert hat, ist ja keinerlei Rede davon, dass es da heftigste Kontroversen gegeben hat. Konzilien müssen aber Kontroversen hervorbringen, weil da ja alle Bischöfe gleichberechtigt zusammen kommen und damit die verschiedensten Meinungen. Benedikt meint hingegen, dass man jetzt und auf längere Zeit kein Konzil brauche, weil ja die Bischofssynoden - wie Sie sagten - dessen Aufgaben übernommen haben. Aber die Bischofssynoden, die Paul VI. eingeführt hatte, weil er zwischen den beiden großen Parteien in der Kirche (Traditionalisten und Reformern) vermitteln wollte, haben sich ja zu einem ganz anderen Instrument entwickelt. Ich will nicht leugnen, dass da viel Gutes und Richtiges gesagt und angeregt wird. Die letzte Synode über die Fragen des Palästina-Israel-Konflikts hat z. B. sehr mutig Stellung bezogen. Aber im Prinzip sind das ja nur Gruppierungen von Bischöfen, die der Papst beruft, er bestimmt die Tagesordnung. Infolgedessen ist eine solche Synode eine von ihm abhängige Versammlung, sie passt also ganz in das vatikanische System!

Aber bei den Konzilien war das aber doch auch. Der Vatikan hat ja doch einen starken Zugriff auf Tagesordnung und Bestellung des Direktoriums und so weiter.

Lill: Ja, aber gerade beim 2. Vatikanischen Konzil hat man diesen starken Zugriff verhindert. Die Bischöfe und Papst Johannes XXIII. haben dafür gesorgt, dass nicht der Plan des Kardinals Ottaviani und des von ihm geleiteten „Hl. Offizium“ ausgeführt wurde, der die Tagesordnung und die Kommissionen alle vom Vatikan her bestimmen wollte. Es war ein freies Konzil. Zu denen, die darauf bestanden hatten, gehörte der Erzbischof von Köln, Josef Kardinal Frings, für den Joseph Ratzinger damals arbeitete.

Und auf dem 1. Vatikanum waren ja die Gegner der Unfehlbarkeit zahlreich zu Wort gekommen. Es sind die besten Theologen und Historiker der Zeit, die diese Konzentration auf den Papst nicht akzeptieren wollten. Also auf einem kompletten Konzil muss man immer mit Unruhe rechnen. Wenn man aber von den vielen Bischöfen nur hundert oder zweihundert auswählt, dann kann man ja auch die auswählen, auf die man sich am besten verlassen kann und wenn man auch die Tagesordnung komplett festlegt, dann gibt es etwas ganz anderes als ein Konzil in vollem Sinne..

Der Papst nimmt innerhalb dieser Gespräche, die er geführt hat, auch Stellung zu Problemen der Gegenwart wie Umweltschutz, wie Ausbeutung der Natur, wie Umgang mit Minderheiten, wie Umgang mit Migrationsproblemen und so weiter. Wenn Sie abschließend eine Bewertung dieses, ja nicht gerade alltäglichen Buches, muss man zugeben, machen wollen, was ist für Sie wichtig oder wo sagen Sie, ja, dieses Buch ist doch eigentlich innerhalb der Verlautbarungen, die wir bislang gekannt haben, doch eine Sonderstellung.

Lill: Aber eine Sonderstellung kann ich nun wirklich nicht feststellen. Ich gebe gerne zu, dass das, was der Papst sagt zur Erhaltung der Natur, zum Umgang mit anderen Konfessionen, zum friedlichen Miteinander der Menschen, zur Bewahrung der Ressourcen, das ist alles sehr vernünftig. Aber es ist nicht neu. Zur Moderne insgesamt hält der Papst deutliche Distanz, und das nicht nur wegen der „negativen Toleranz“ ihrer aggressiven Vertreter, welche er wohl mit Recht kritisiert (S. 71 ff.). Ganz pauschal verurteilt er auch die 1968er Bewegung; davon ausgehend, dass „das Evangelium gegen machtvolle Konstellation steht“, wie „besonders drastisch“ in seiner Jugend gegen den Nationalsozialismus. Und er fährt direkt fort: „Seit den 1968er Jahren geriet der christliche Glaube dann in den Gegensatz zu einem neuen Gesellschaftsentwurf, sodass er immer wieder gegen machtvoll auftrumpfende Meinungen bestehen musste“ (S. 26).

Aber auch diese Kritik ist eben zu pauschal und sie ist nicht neu. Jeder Konservative weiß, dass die 68er Vieles auch Erhaltenswerte zerstört haben, aber von einem altgewordenen Intellektuellen müsste man doch eigentlich erwarten, dass er historisch darüber nachdenkt, warum es zu dieser Radikalisierung gekommen ist. Und dass Versäumnisse der alten Eliten gerade auch in der Kirche und in den Kirchen zu dieser Radikalisierung geführt haben und dass diese Bewegung – so unangenehm und auch so zerstörerisch sie einerseits war – dass sie doch insgesamt uns alle auf ein neues Niveau der Freiheit und der Freiheiten geführt hat. Davon liest man bei Joseph Ratzinger nichts.

Nachtrag

Das Buch Benedikts XVI. und Peter Seewalds ist wegen seines oberflächlichen und/oder ideologisch verkürzten Umgangs mit der Geschichte kein Buch für Historiker. Aber ist es eines für die vom radikalen Säkularismus bedrängten Christen? Der Papst plädiert konsequent für die vom Relativismus bestrittene Wahrheitsfähigkeit des Menschen und für die Wahrhaftigkeit des Christentums (s. bes. S. 69 – 76). Er unterscheidet, allerdings ohne die Kriterien dafür mitzuteilen, zwischen einer guten Moderne und einer Gegenreligion: zur Auseinandersetzung mit dem aggressiven Säkularismus kündigt er eine „Neu-Evangelisierung“ an. Zwar sagt er nicht, dass er damit den Titular-Erzbischof Remo Fisichella beauftragt hat, der selbst unter den mehrheitlich ganz konservativen Prälaten als „Rechts-außen“ gilt und offen mit Berlusconis Regierung sympathisiert. Aber der Papst lässt keinen Zweifel dran, dass die von ihm auf den Spuren des Vorgängers umgeformte Kirche, d.h. eine zentralistische, autoritäre und reklerikalisierte Kirche, den Dialog mit dem Zeitgeist führen soll. Versteht sie ihn?

Die Behauptung im Klappentext des Buches, dass „noch niemals vorher ein Papst auf kritische Fragen (1) zu den drängenden Problemen in Kirche und Gesellschaft … so offen Rede und Antwort gestanden“ hat, zeigt, dass der Schreiber die Reflexionen und die Reden der Konzilspäpste Johannes XXIII. und Paul VI. nicht kennt. Sie hatten sich auf den biblisch und frühchristlich fundierten Kern des christlichen Glaubens konzentriert und das Übrige zur freien Diskussion gestellt. Paul VI. hatte dabei freilich schon Konzessionen an das erst seit dem 19. Jahrhundert festgeschrieben System vatikanischer Interpretationen gemacht. Aber Benedikt XVI. argumentiert ausschließlich (auch zu den Missbrauchsfällen, S. 40 – 51) innerhalb dieses geschlossenen Systems, welches er bekanntlich wegen der Fragen von Sexualmoral, Familie und Bio-Ethik, von Pflichtzölibat und Frauenordination noch verschärft hat. Zuletzt hatte er das kurz vor dem Erscheinen dieses Buches beim Staatsbesuch in Spanien und anlässlich der Ernennung von 24 Kardinälen seiner Richtung bekundet (2); und soeben hat er seine reaktionäre Ekklesiologie auch wieder demonstriert, indem er die Mitternachtsmesse am 24. Dezember 2010 in St. Peter im alten, 2007 von ihm wieder zugelassenen Ritus hielt und nur die Mundkommunion zuließ, zu der die offenbar längst nicht mehr mündigen Laien niederknien mussten. Und zum Schluss forderte der Diakon sie auf: „Inclinate vos ad benedictionem“.

Ist das die „Vorgegebenheit“ der kirchlichen Formen, von der der Papst und sein Partner ohne jedes Verständnis für historische Prozesse reden? (S. 183 ff)? Menschen, die sich solchen keineswegs apostolischen, sondern pseudobarocken Riten (in St. Peter noch „bereichert“ mit pathetischer und gerade nicht klassisch-römischer Musik und mit Spitzenrochetts) unterwerfen, werden sich mit den Antworten, die Benedikt XVI. als „Licht der Welt“ anbietet, zufrieden geben. Aber „erwachsene Katholiken“ werden weniger auf ihn hören als vor 50 Jahren auf die Konzilspäpste.

PS (auf das ich gerade wegen meiner grundsätzlichen Kritik am Vatikan größten Wert lege):

Zum Ende des Jahres 2010 kommt auch eine gute Nachricht aus dem Vatikan. Mit Motu proprio vom 30. Dezember hat Benedikt XVI. für den Vatikanstaat eine eigene Finanzaufsichtsbehörde geschaffen, welcher die Vatikanbank IOR unterstellt wird, und strafbewehrte gesetzliche Bestimmungen zur Unterbindung jeglicher Geldwäsche und ähnlicher Delikte erlassen. Die einschlägigen Bestimmungen der EU und Italiens werden übernommen.

Vor einem Jahr hatte der Papst den dem Opus Dei nahestehenden Bankier Ettore Gotti Tedeschi mit der Leitung des IOR und mit der Reform der vatikanischen Finanzpolitik betraut. Im Zusammenhang der großen Finanzkrise war der IOR erneut als illegale Oase benutzt worden. Die jetzige Reform war eigentlich schon seit den Marcinkus-Skandalen der 1970er und 1980er Jahre erforderlich. Aber Johannes Paul II. hatte sie verweigert, weil die unkontrollierten Usancen der Vatikanbank die Transferierung immenser Summen zur Unterstützung der antikommunistischen Opposition in Polen begünstigte.

Meist stellt Seewald solche Fragen gar nicht. Für seinen Stil ist eher charakteristisch ein Satz auf S. 94: „Sie sind einer der eifrigsten, vielleicht der eifrigste Arbeiter unter den Päpsten.

Über die beiden neuen deutschen Kardinäle, imprimatur 8, 2010, 377 ff.:

Die Auszeichnung Walter Brandmüller lässt vermuten, dass der Papst eine eher apologetische Darstellung der Kirchengeschichte schätzt.

Einer der neuen italienischen Kardinäle Mauro Piacenza, Präfekt der vatikanischen Kongregation für den Klerus, veröffentlichte gleichzeitig ein Buch über „das Siegel“ priesterlicher Berufung, in dem er die soziologische Verengung der Kirche und die „doktrinäre Konfusion“ in den letzten Jahrzehnten beklagt. Den Zölibat bezeichnet er als Gnade, von den Priestern fordert er Treue zum Lehramt! Immerhin ist unter den zehn neuen italienischen Kardinälen einer von hohem kulturellen Niveau und oft bewiesener Dialogfähigkeit: der Lombarde Gianfranco Ravasi, gelehrter Exeget, früher Präfekt der berühmten Bibliotheca Ambrosiana in Mailand, jetzt im Vatikan für Kultur zuständig.

Dialogische Haltung hat in Mailand größere Tradition als in Rom. Auf dem sozialen Gebiet steht dafür Kardinal Dionigi Tettamanzi (geb. 1934, Erzbischof seit 2002) und immer noch Kardinal Carlo M. Martini S.J. (geb. 1927, Erzbischof 1980 – 2002), ein theologisch-exegetischer Antipode Joseph Ratzingers, welcher aber im Konklave von 2005 nur eine Minderheit anführte.

Hartmut Kriege interviewt Rudolf Lill im Deutschlandfunk, Tag für Tag, am 8. und 9. 12.2010.


© imprimatur März 2011
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