Werner M. Müller
Archimedischer Punkt: Vertrauen
Klaus Mertes, Johannes Siebner: Schule ist für Schüler da. Warum Eltern keine Kunden und Lehrer keine Eltern sind, Freiburg – Basel – Wien: Herder Verlag 2010 (160 S.)

Bildung und Schule sind spätestens seit dem „PISA-Schock“ 2001 in Deutschland zum gesellschaftspolitischen Top-Thema geworden. Nicht nur dass die jeweils neueste PISA-Studie und vergleichbare Untersuchungen, schon Tage vor ihrer Veröffentlichung, ähnlich wie die Arbeitsmarktzahlen, auf der ersten Seite der Zeitungen angekündigt werden und die Ergebnisse lang und breit und kontrovers kommentiert werden, auch dass eine Schulreform in Hamburg per Volksentscheid gekippt wurde – mit der indirekten Folge, dass auch die ganze Landesregierung kippte – oder dass im Saarland eine von der Jamaika-Koalition vereinbarte Schulstrukturreform abgeblasen werden musste, sind nur die bekanntesten Beispiele dafür, dass Schule nicht nur ein akademisches Thema ist, sondern eines von unmittelbarer politischer Relevanz. Es geht ja auch alle an, weil jede und jeder selbst mal Schüler/in war, meist eigene Kinder – oder Enkelkinder – in der Schule hat oder sich sonst wie, als Arbeitgeber oder Rentner, mehr oder weniger „betroffen“ fühlt. Weil alle glauben mitreden zu können – und in einer demokratischen Gesellschaft ja auch sollen -, ist seit etwa sechs Jahrzehnten in Deutschland eine unendliche Bildungs- und Schuldebatte zu verzeichnen – und eine entsprechende sprunghafte Politik auf diesem Feld; eine Schulreform wird durch die nächste abgelöst, bevor sie überhaupt richtig umgesetzt ist; und dies alles in jedem der 16 Bundesländer nochmals in eigener Version. Kein Wunder, dass inzwischen Stimmen lauter werden, die sich für ein Moratorium in der Schulreform(debatte) aussprechen, so z.B. der sächsische Kultusminister Roland Wöller (CDU): „ Aus diesem Grund plädiere ich für einen Schulfrieden von zehn Jahren“ (FAZ 26.11.2010, S. 10). In dieser Situation kommt das hier anzuzeigende Buch gerade zur rechten Zeit.

Es stammt von zwei „gestandenen Schulmännern“, nämlich den beiden Rektoren der Jesuiten-Kollegien Canisius in Berlin, Klaus Mertes, und St. Blasien im Schwarzwald, Johannes Siebner. Klaus Mertes ist vor einem Jahr dadurch bekannt geworden, dass er als erster die Fälle sexuellen Missbrauchs an seiner Schule öffentlich gemacht und damit die Aufklärung dieser Fälle in der katholischen Kirche insgesamt und darüber hinaus angestoßen hat. Das hätte das geplante Buch fast verhindert, weil die beiden Autoren, als „der Skandal des Machtmissbrauchs und sexualisierter Gewalt gerade auch an von Jesuiten geführten Kollegien offenbar wurde“ (7), ihre Zeit und Kraft der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zu widmen hatten und der Zeitpunkt, als Jesuiten über Schule zu schreiben, nicht besonders opportun erscheinen musste. „Und doch ist es vielleicht ein guter Zeitpunkt, ‘gerade jetzt‘ öffentlich Rechenschaft zu geben von dem, was wir über Bildung und Erziehung denken, wofür wir in unseren Schulen (…) eintreten und welchen Schatz die Tradition der ignatianischen Pädagogik … bereithält“ (8). Bei der Lektüre des Buchs wird schnell deutlich, dass Mertes, wollte er nicht in diametralen Widerspruch zu seiner Auffassung von Erziehung und Schule geraten, gar nicht anders konnte, als die Missbrauchsfälle an seiner Schule öffentlich zu machen und aufzuklären. Dass er daneben noch das Buch, zusammen mit seinem Mitbruder aus St. Blasien, zu Ende brachte, ist dem Drängen des Cheflektors des Verlags, Dr. Rudolf Walter, zu verdanken, wie die Autoren im Vorwort ausdrücklich festhalten.

Vom Zustandekommen nun zum Inhalt des Buchs: Aus der Perspektive der schulerfahrenen Praktiker und auf der Basis eines reflektierten, die ignatianische Pädagogiktradition aufnehmenden und weiterführenden Bildungsbegriffs wird dem gegenwärtigen öffentlichen ‚Bildungssprech‘ eine klare, erfrischend realistische und political incorrectness nicht scheuende Sicht von Schule entgegengehalten. Klarheit kennzeichnet schon die Titelaussage „Schule ist für Schüler da“, die weniger trivial ist, als es auf den ersten Blick scheint: Schule muss sich von den überhöhten Erwartungen von außen freimachen und sich als autonome Institution auf ihre ureigene Aufgabe, die Bildung und Erziehung von Schülerinnen und Schülern, besinnen. „Kinder und Jugendliche sind um ihrer selbst willen zu fördern, zu fordern, zu erziehen und zu lieben“ (28). Da sind die Erwartungen der Gesellschaft, etwa auf Ausgleich der vorhandenen sozialen und begabungsmäßigen Unterschiede zwischen den Schülern, oder die der Wirtschaft auf mehr und besser ausgebildete Fachkräfte, ebenso wie die der Eltern auf Berufskarrieren ihrer Kinder als berechtigt anzuerkennen, aber zugleich zu relativieren im Hinblick auf das, wozu Schule eigentlich da ist. „Vergleich und Wettbewerb sind wichtig, sozialer Ausgleich und individuelle Förderung geboten. Aber Schule ist weit mehr als das. Vor allem: Sie ist für Schüler da“ (29).

Dies bedeutet zugleich, dass sich Schule, konkret: die Lehrerinnen und Lehrer, auch ihrer eigenen Grenzen bewusst sein müssen. Lehrer sind keine Eltern - wie der Untertitel sagt -, d.h. sie können die erzieherische Funktion von Familien unterstützen und ergänzen, aber nicht ersetzen. Dies heißt umgekehrt, dass die Familien ihrerseits auf ihre ureigenen Aufgaben hingewiesen werden – angesichts der von PISA angeblich herausgefundenen Benachteiligung sozial schwächerer Schichten durch das deutsche Bildungssystem eine durchaus brisante These. „Es ist falsch, bildungsfernen Familien ständig einzureden, dass die im Schnitt schwächeren Schulleistungen ihrer Kinder eine Folge des Schulsystems sind, also nichts mit dem eigenen Willen zu Lernen und Leistung zu tun haben. Wer immer nur hört, dass er gar nicht erfolgreich sein kann, hat keinen Erfolg. Er wird seine Lernpotentiale nicht richtig nutzen… (Es ist) immer wieder darauf hinzuweisen, dass Bildung auch eine Holschuld ist“ (32). Umgekehrt sind bildungsinteressierte Elternhäuser in ihrem Leistungsstreben für die eigenen Kinder zu ,bremsen‘: Wenn eine Drei auf dem Zeugnis als Katastrophe angesehen wird, das Abitur zum Menschenrecht und das Hochschulstudium zur notwendigen Voraussetzung für eine ordentliche Berufslaufbahn erklärt wird, ist das Ergebnis eine ständige Versagensangst. Diese ist wiederum Ausdruck einer Ökonomisierung der Schule, die sich auch im ,Nationalsport‘ Bildung-Messen und in einem seit Jahren wachsenden milliardenschweren Nachhilfe-Markt zeigt. Die Autoren sind realistisch genug, von einer guten Schule und gutem Unterricht auch die Vermittlung nützlicher, im späteren Beruf verwendbarer Fertigkeiten zu erwarten. Doch sie hat außerdem die Aufgabe, die persönliche und kulturelle Identität der Schüler, d. h. eigenständiges Denken und Urteilen – und in letzter Hinsicht: deren Freiheit – zu fördern. „Junge Menschen sollen durch Bildung nicht besser und schneller, nicht anpassungsfähiger und in diesem Sinn lernfähiger werden, sondern freier“ (25). Insofern hat Schule einen über Ausbildung hinausgehenden „übernützlichen Anspruch“ (37).

An diesem Ziel gemessen, weist unser Schulsystem etliche Mängel auf. Auch wenn sich diese im internationalen Vergleich und bei nüchterner Wertung der PISA-Tests durchaus relativieren und dem deutschen Hang zum Klagen nicht nachgegeben wird, belassen es die Autoren nicht bei einer Fehlerdiagnose unseres Schul- und Bildungssystem, wie so manche Veröffentlichung aus jüngerer Zeit. Sie zeigen vielmehr anhand von Beispielen aus ihrer Praxis, die analysiert und, soweit sie negative Erfahrungen beinhalten, ins Positive sozusagen extrapoliert werden, wie gute Schule funktionieren könnte und müsste. Dafür sind zwei Dinge grundlegend: ‚nach außen‘ Rollenklarheit und ‚nach innen‘ Vertrauen.

Im „magischen Dreieck“ Schüler – Lehrer – Eltern hat jeder Akteur die Rolle angemessen wahrzunehmen, die seinem institutionellen Selbstverständnis entspricht. Eltern, deren Recht und Pflicht nach Artikel 6 Grundgesetz die Erziehung der Kinder ist, sind keine Hilfslehrer, aber auch keine Kunden, die von der Schule alles Mögliche, vor allem das, was sie selbst nicht leisten (können), verlangen dürfen. Umgekehrt sind Lehrer keine Mit-Eltern, sondern haben, neben dem Fachunterricht, einen eigenen, anders gearteten Erziehungsauftrag. Schule und Elternhaus sind Partner in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Wie man die unterschiedlichen Erziehungsaufgaben theoretisch definieren kann, deuten Mertes/ Siebner nur an, sie tun es anhand konkreter ,Werte‘ und Verhaltensweisen ( unflätig reden, ständig dreinreden, Füße auf den Tisch legen, permanent Kaugummi kauen…) sehr anschaulich und geben damit allen Lehrern, wie ich finde, sehr brauchbare Verhaltenstipps. Für das wechselseitige Verhalten zwischen Eltern und Lehrern, erfahrungsgemäß oft ein konfliktreiches, geben sie fünf grundlegende Regeln (S. 46 – 48).

Die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern ist keine partnerschaftliche, sondern eine asymmetrische. Der Lehrer übernimmt für den Schüler Verantwortung, nicht umgekehrt - unbeschadet der Verantwortung, die jeder für sich selber, für sein eigenes Leben hat. Verantwortung zu übernehmen setzt vonseiten der Bezugsperson Vertrauen voraus. Damit ist der „archimedische Punkt“ erreicht, von dem aus die beiden Autoren Schule denken und zu gestalten vorschlagen. In Umdrehung eines bekannten Wort Lenins ist Vertrauen unabdingbar für eine gute Schule und „letztlich die wichtigste und effektivste Ressource für eine demokratische Gesellschaft“ (152). Dies wird von der Freiheit als dem obersten und letzten Bildungsziel her begründet: „Freiheit muss zugetraut werden. Jugendliche brauchen dieses Zutrauen ganz besonders. Freiheit zuzutrauen bedeutet, jungen Menschen etwas zuzutrauen, sie von Anfang an nicht bloß als Objekte zu sehen, sondern als Subjekte zu würdigen“ (153). Was wie eine Sonntagsrede klingt, ist in der Schule eine tägliche Erfahrung und Grundlage einer guten Schule. Dies machen ex negativo gerade die Missbrauchsfälle in Schulen, wo anvertraute Kinder und Jugendliche als Objekte missbraucht werden, wo Vertrauen grundlegend missbraucht worden ist, besonders drastisch deutlich.

Im letzten Kapitel zeigen die Autoren anhand des „Herzstücks der ignatianischen Pädagogik“ (138), das sie in den „Geistlichen Übungen“ 15 des Ignatius von Loyola finden, dass die „innere Indifferenz“, die Grundhaltung, in die sowohl Lehrer wie Schüler hineinfinden sollen, den Freiheitsraum ermöglicht, der oben als das letzte Ziel von Bildung und Schule angesprochen wurde. Indem einzelne Züge einer ignatianischen Pädagogik recht eingängig entfaltet werden, bekommt diese ‚Schultheorie‘ eine spirituelle Vertiefung, die nicht aufgesetzt wirkt, sondern die Grundlagen offenlegt.


© imprimatur März 2011
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