Es war der Abend des 7. April 1933, als Prälat Ludwig Kaas, Trierer Domherr und Vorsitzender der katholischen Zentrumspartei, den Anhalter Bahnhof in Berlin betrat. Hinter ihm lag ein turbulenter Tag in der Reichshauptstadt. Zwei Monate nach der „Machtergreifung“ hatte die Regierung unter Reichskanzler Adolf Hitler das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verabschiedet. Betroffen von dem Gesetz waren alle Beamten, die den Nationalsozialisten als nicht zuverlässig galten: in erster Linie Beamte jüdischer Herkunft und solche, die einer Linkspartei angehörten. Auch katholische Staatsdiener waren zunehmend von Schikanen und Entlassungen bedroht. Noch am Nachmittag hatte Kaas diesbezüglich an einem Arbeitsausschuss seiner Partei teilgenommen und danach ein Vier-Augen-Gespräch mit Hitler geführt. Um 22 Uhr fuhr er vom Anhalter Bahnhof mit dem Nachtzug nach München; von dort aus am nächsten Morgen weiter nach Rom. Kaas sollte nie wieder deutschen Boden betreten. Er starb 19 Jahre später, am 15. April 1952, im Vatikan.
Bis zum Tag seiner überstürzten Abreise nach Rom hatte der am 23. Mai 1881 geborene „Sohn eines Handelsmannes aus dem frommen Trier“ (Der Spiegel, Nr. 50/1960) das politische Leben der Weimarer Republik maßgeblich mitgestaltet. Von 1920 bis 1933 gehörte Kaas dem Deutschen Reichstag als Abgeordneter der Zentrumspartei an. Seit Dezember 1928 war er deren Vorsitzender. Das Zentrum, bis dahin Weimars klassische Mittelpartei, stellte unter seiner Ägide die Weichen nach rechts. Zeitweise plädierte der konservative Prälat gar für eine Kooperation seiner Partei mit der NSDAP, auch weil er „Zielsetzung und Gefährlichkeit der totalitären Kräfte […] zu spät“ (Rudolf Morsey) erkannte. Im Vorfeld des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich, dem sogenannten „Ermächtigungsgesetz“ vom 23. März 1933, sprach sich Kaas vor seiner Fraktion und dem Plenum des Reichstages für dessen Annahme aus. Das mit den Stimmen des Zentrums verabschiedete Gesetz bedeutete die faktische Abschaffung der Weimarer Reichsverfassung und war eine wichtige Grundlage für die Festigung der nationalsozialistischen Diktatur. Bald darauf begannen Konkordatsverhandlungen zwischen der Reichsregierung und dem Vatikan. Der Heilige Stuhl wünschte sich seit vielen Jahren den Abschluss eines Konkordats mit Berlin, das Vorhaben war jedoch immer wieder am Reichstag gescheitert. Am 20. Juli 1933, vier Monate nach der Verabschiedung des „Ermächtigungsgesetzes“, wurde schließlich das wesentlich von Kaas mitverfasste Reichskonkordat unterzeichnet. Drei Wochen zuvor hatte die Zentrumspartei sich selbst aufgelöst. Ob zwischen Zustimmung des Zentrums zum „Ermächtigungsgesetz“, Konkordatsabschluß und Untergang des politischen Katholizismus ein kausaler Zusammenhang bestand, ist nach wie vor umstritten. Zweifelsohne aber hatten „die Rechte der katholischen Kirche“ für den Priester und Politiker Kaas stets höhere Priorität gehabt „als die Rechte des Parlaments“ (Heinrich August Winkler). Generell galt Hitler in den Augen des Heiligen Stuhls als wirksame Waffe gegen den gefürchteten Kommunismus.
„Akte Kaas“ im Zentralen Staatsarchiv in Rom
Was bisher noch nicht bekannt war: Von 1928 bis 1941 stand Ludwig Kaas im Fadenkreuz der faschistischen Geheimpolizei Italiens, der Divisione Polizia Politica (POLPOL). Dies belegt ein Aktenfund aus dem Archivio Centrale dello Stato (ACS) in Rom. Die POLPOL war im Jahr 1926 zur effizienteren Bekämpfung der Gegner des italienischen Faschismus gegründet worden. Das totalitäre Regime in Rom – mit Benito Mussolini an der Spitze – hatte vier Jahre zuvor die Macht übernommen. Bei der POLPOL liefen alle Informationen über oppositionelle Bestrebungen zusammen. Die von Arturo Bocchini geleitete Polizeieinheit unterhielt ein weitverzweigtes Netz von Agenten und Spitzeln im In- und Ausland. Offiziell beschäftigte sie mehr als 800 Mitarbeiter, die ihrerseits über weitere inoffizielle Informanten verfügten. Regimegegner waren der „in technischer Hinsicht hochmodernen Streitkraft in keiner Weise gewachsen“ (Hans Woller). Auch der Prälat aus Trier nicht. Wie die – nicht sehr umfangreiche – „Akte Kaas“[1] beweist, reichte der lange Arm der POLPOL bis hinter die Mauern des Vatikan.
Der erste Eintrag in der Akte stammt vom 12. Dezember 1928. Vier Tage zuvor war der Prälat in Köln mit klarer Mehrheit zum Vorsitzenden des Zentrums gewählt worden. Er hatte sich gegen die Vertreter des katholischen Arbeitnehmerflügels, Joseph Joos und Adam Stegerwald, durchgesetzt. Der neue Parteivorsitzende, heißt es in dem POLPOL-Bericht aus Berlin, sei zugleich der wichtigste Berater des Nuntius in Deutschland, Eugenio Pacelli, des späteren Papstes Pius’ XII. (1939-1958). Kaas habe „gewaltigen Einfluss“ auf alle von Pacelli „an das Staatssekretariat des Vatikan gesandten Berichte“. Bereits seit 1917 war er enger kanonistischer Berater des Nuntius und dessen Konkordatsfachmann. Der „Professor für Kirchenrecht aus Trier“, schreibt der Mitarbeiter der POLPOL weiter, genieße „großes Ansehen in vatikanischen Kreisen“. Innerhalb seiner Partei gelte er nicht gerade als Verfechter demokratischer Werte. Kaas hege zwar „keine Sympathien für das faschistische Regime“ in Rom, insbesondere nicht für dessen repressive Südtirolpolitik, nichtsdestotrotz sei er aber „ein großer persönlicher Bewunderer Mussolinis.“ Auch öffentlich machte Kaas aus seiner Wertschätzung für den „Duce“ keinen Hehl. Im Zuge der zwei Monate später geschlossenen Lateranverträge zwischen dem Heiligen Stuhl und den italienischen Faschisten lobte er ausdrücklich die Rolle Mussolinis und dessen Verständnis für die Belange der Kirche. Im Jahr 1933 schrieb er in einem Aufsatz, das erste Jahrzehnt der faschistischen Diktatur in Italien umfasse „einen seltenen Reichtum […] erfolgsbestätigter Kämpfe“ und „starker Führerleistung“. Der faschistischen Südtirolpolitik, der sogenannten „Italianisierung“, stand Kaas hingegen stets ablehnend gegenüber. Da Südtirol für ihn „eine Art zweiter Heimat war“ (Georg May), wo er seit 1930 auch einen Wohnsitz hatte, lag ihm das Schicksal der dortigen Bevölkerung besonders am Herzen.
Exil im Vatikan
Die genauen Gründe für den überstürzten Gang ins Exil am 7./8. April 1933, mit dem Kaas seine Partei in einer schweren Stunde „buchstäblich im Stich“ (Martin Persch) ließ, liegen im Dunkeln. Der Prälat hat nie Erinnerungen publiziert oder Stellungnahmen abgegeben. Politische Papiere oder Materialien sind nur wenige überliefert. Im Juni 1933 wusste die POLPOL zu berichten: „Seit geraumer Zeit befindet sich einer der großen Exponenten der deutschen Zentrumspartei, Monsignore Kaas, in Rom. Vertreter des Staatssekretariats haben ihm geraten, zum jetzigen Zeitpunkt nicht nach Deutschland zurückzukehren […]. Es scheint, dass Kaas in Rom bleiben und sich in einen der vatikanischen Palazzi zurückziehen wird, um die italienische Regierung nicht in Verlegenheit zu bringen. Von ihr könnte Berlin eventuell seine Auslieferung fordern“. Eine Erklärung für Kaas’ Auswanderung bei Nacht und Nebel findet sich im POLPOL-Bericht vom 23. März 1934: Sie sei auf Verstrickungen des Prälaten in den „Görreshaus-Skandal“ zurückzuführen. Die „Görreshaus GmbH“ (seit 1930 A.G.) war 1926 in Köln mit dem Ziel gegründet worden, zum bedeutendsten katholischen Verlagshaus Deutschlands zu expandieren. Seit 1929 geriet sie in den Sog der Weltwirtschaftskrise und musste, auch aufgrund dubioser Finanzspekulationen, am 1. Mai 1933 Konkurs anmelden. Drei Monate später begann ein Prozess gegen den Vorstand des Verlagshauses wegen inkorrekter Geschäftsführung. Hauptangeklagter war der Bankier Anton Paul Brüning. Zum Kreis der Verdächtigen gehörte – neben dem Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer – auch das Mitglied des Aufsichtsrates Ludwig Kaas. Mit seinem Verbleib im Exil entzog sich dieser einer drohenden Verhaftung im „Fall Görreshaus“. Hinzu kam, dass er nach der „Machtergreifung“ Hitlers – wie auch andere bekannte Politiker der Weimarer Republik – verstärkt persönlichen Bedrohungen ausgesetzt war.
Am 20. März 1934 wurde klar, dass Kaas die „ewige Stadt“ auf absehbare Zeit nicht mehr verlassen würde: Papst Pius XI. ernannte ihn zum Apostolischen Protonotar de Numero Participantium. Er war nun einer von sieben Protonotaren, die für die Ausfertigung der wichtigsten Schriftstücke des Heiligen Stuhls verantwortlich zeichneten. In dieser Funktion trat Kaas die Nachfolge von Monsignore Umberto Benigni an, der knapp einen Monat zuvor gestorben war. Die POLPOL bezeichnete die Wahl des Trierers zum Nachfolger des Kirchenhistorikers Benigni als „Ironie des Schicksals“. Ausgerechnet dieser sei in den Monaten zuvor „erzürnt“ darüber gewesen, dass Kaas trotz seiner Verstrickungen in den „Görreshaus-Skandal“ „vom Vatikan […] ein hohes Amt“ in Aussicht gestellt würde. In seinen letzten Lebensjahren hatte sich der innerkirchlich seit langem isolierte Benigni der faschistischen Bewegung angenähert. In ihr erblickte er einen Verbündeten für seine antimodernistischen und antiliberalen Ziele. Aus anderen Zusammenhängen ist zudem bekannt, dass ihm „geheimdienstartiges Vorgehen gegen den innerkirchlichen Gegner“ (Thomas Marschler) nicht fremd war. Es ist durchaus denkbar, dass Benigni der POLPOL Informationen über vatikanische Interna zuspielte oder zuspielen ließ. Die Ernennung zum Apostolischen Protonotar war für Kaas ein wichtiger Karriereschritt. Seine Verbindung zu Pacelli – in der Zwischenzeit zum Kardinal erhoben – hatte sich als zuverlässig erwiesen.
Ehrgeiziger Karrierist
Dass sich Kaas „der Hochachtung und des Schutzes“ seines einflussreichen Freundes und des Heiligen Stuhls erfreute, zeigte sich am 6. April 1935 erneut – in seiner Ernennung zum Kanonikus von St. Peter. Die rasante Karriere des ehemaligen Zentrumsvorsitzenden rief in italienischen Vatikankreisen auch Neid und Missgunst hervor. Dies belegt der POLPOL-Bericht vom 22. August 1936. Zwei Tage zuvor hatte Pius XI. – auf Empfehlung Pacellis – Kaas zum Verwalter von St. Peter berufen (Economo e Segretario della Sacra Congregazione della Reverenda Fabbrica di San Pietro). Als Inhaber dieses prestigereichen Amtes war er nun zuständig für die Vermögensverwaltung der Peterskirche und Leiter der Dombauhütte. „Es gab viele italienische Kandidaten für das Amt“, schrieb die POLPOL, „die fachlich qualifizierter und der Beförderung würdiger waren als der deutsche Prälat (Monsignore Tedesco).“ Kaas sei vom Papst und von Kardinal Pacelli seit seiner Ankunft im Vatikan „ohne jegliches Eigenverdienst mit Wohltaten und hohen Ehrungen“ bedacht worden. „Der italienische Klerus flüstert sich schlecht gelaunt zu, dass der Vatikan von Jahr zu Jahr immer mehr zu einem deutschen Lehen wird“. Noch drei Jahre später, im Bericht vom 26. Februar 1939, hieß es: Teile des Vatikan seien zurecht äußerst befremdet darüber gewesen, „dass ein Ausländer“ mit der Leitung der „größten römischen Kirche der Christenheit“ beauftragt worden sei. Was sein Fortkommen auf der kirchlichen Karriereleiter anging, war Kaas nie ein Kind von Schüchternheit gewesen. Als „Gipfel der Stellenjägerei“ bezeichnete Joseph Listl die „als fast krankhaft ehrgeizig zu bezeichnenden“ (Martin Persch) Bemühungen um das 1924 erreichte Kanonikat in Trier. An Kaas’ Erfolgsstreben hatte sich auch nach seinem totalen Scheitern als Politiker nichts geändert: Ein ausgeprägtes Karrieredenken und gute Verbindungen in die Schaltzentrale der geistlichen Macht hatten ihn in wenigen Jahren zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten im Vatikan werden lassen. Anfang März 1939 wurde Eugenio Pacelli zum Papst gewählt. Fast ehrfurchtsvoll bemerkte die POLPOL, Kaas treffe sich „ohne Voranmeldung […] quasi jeden Tag mit dem Papst in dessen Privatgemächern“. Sein Wunsch nach einer Ernennung zum Kardinal erfüllte sich indes nicht.
Am 16. November 1940 konstatierte die POLPOL, Kaas sei zwar „ein erbitterter Gegner Hitlers und seiner Regierung“, habe es aber stets geschafft, dies „geschickt zu verbergen“. Die Gegnerschaft beruhe freilich nicht auf Gegenseitigkeit: Der „Führer“ seinerseits hege „Hochachtung […] und Wertschätzung“ für den Prälaten. Rückblickend würde dies kaum verwundern, hatte Kaas doch durch seine politischen Fehleinschätzungen den Ausbau der Macht Hitlers zumindest begünstigt.
„Eingeschlossen in seine Vergangenheit“
In demselben Bericht der POLPOL spiegelt sich zugleich ein gewisse Normalität vatikanischen Alltags wider: Der Prälat empfange ab und zu Besuch von deutschen Freunden. Oft würde er zudem Touren mit seinem Mercedes unternehmen. Die Sommermonate verbringe Kaas nicht in der Vatikanstadt, sondern in seiner Villa in der Nähe von Castel Gandolfo. Es scheint, als habe Papst Pius XII. auch im Urlaub nicht auf die Dienste seines engen Wegbegleiters verzichten wollen.
Im Oktober 1941 schließt die sporadische und oftmals unkoordinierte Berichterstattung der POLPOL über Ludwig Kaas. Dieser sei „ein Gegner der Achsenmächte und deren Kampfes für die Freiheit“. In den Augen der faschistischen Geheimpolizei galt Kaas als Regimekritiker, von dem jedoch zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte Bedrohung ausging. Seine Vermittlung zwischen dem katholischen Widerstandskämpfer Josef Müller und dem Papst bzw. dem britischen Botschafter 1939/40, entging der POLPOL schlichtweg. Wer die wechselnden Personen waren, die den POLPOL-Agenten über Jahre hinweg Informationen über den Prälaten zukommen ließen – ob Laien oder Geistliche, hohe Würdenträger oder einfache Angestellte des Vatikan –, ist nicht zu rekonstruieren. Am 4. Juni 1944, knapp drei Jahre nach dem letzten Eintrag in der „Akte Kaas“, befreiten alliierte Truppen die italienische Hauptstadt. Kaas lebte und wirkte noch weitere acht Jahre in Rom. Sein Heimweh nach Trier betäubte er „durch rastlose Aktivität“ (Rudolf Morsey). Er leitete die archäologischen Grabungen unter dem Petersdom und verkündete im Dezember 1950 die Entdeckung des angeblichen Petrusgrabes.
Kurz vor seinem Tod besuchte ihn der deutsche Journalist Konstantin Prinz von Bayern. „Kaas“, schrieb er, „musterte mich aus Augen, die schmal, in sich zusammengezogen, wie zwei durchdringende Scheinwerfer auf mich gerichtet verharrten. […] Der Prälat, wie er erzählte, horchte, sprach in sich hinein. Lebte ganz eingeschlossen in seine Vergangenheit, ganz in der Erinnerung“. Seine letzte Ruhestätte fand der Trierer in den Grotten von St. Peter. Die Causa Kaas wird die Geschichtswissenschaft auch weiterhin beschäftigen.
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