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Auch mit 83 noch kein bisschen leiser
Kirchenkrise - Wie überlebt das Christentum?
Spreu und Weizen


Erhard Bertel
Auch mit 83 noch kein bisschen leiser
Hans Küng: Ist die Kirche noch zu retten?

Der 83jährige Theologe Hans Küng hat sich noch einmal aufgerafft und ein Buch gegen die Resignation geschrieben. In seinem Vorwort geht er auf das Anliegen des Buches ein und sagt etwas darüber, „was mich jetzt zum Schreiben drängt“

Lieber hätte ich dieses Buch nicht geschrieben. Es ist nicht angenehm, der Kirche, die meine geblieben ist, eine solch kritische Veröffentlichung widmen zu müssen. Ich meine die katholische Kirche, die größte, mächtigste, internationalste, in etwa auch älteste Kirche, deren Geschichte und Geschick aber auch alle anderen Kirchen beeinflusst.

Lieber hätte ich freilich meine Zeit anderen dringenden Fragen und Projekten gewidmet, die auf meiner Agenda stehen. Aber der Restaurationskurs der letzten drei Jahrzehnte unter den Päpsten Karol Wojtyla und Joseph Ratzinger mit seinen fatalen und für die gesamte christliche Ökumene zunehmend dramatischen Auswirkungen drängt mir erneut die mir keineswegs angenehme Rolle des Papstkritikers und Kirchenreformers auf, eine Rolle, die oft die mir wichtigeren Aspekte meines theologischen OEuvres verdeckt.

Im ersten Kapitel fragt er nach der Kirche, „Eine kranke, gar sterbenskranke Kirche?“

„So kann es doch nicht weiter gehen mit unserer Kirche! Die da oben, die in Rom, machen doch die ganze Kirche kaputt!“, zitiert er „erbitterte, empörte, verzweifelte“ Stimmen. Er beobachtet vier Arten, wie Katholiken mit dieser Situation umgehen: man kann aus der Kirche austreten, man kann das Schisma einer ganzen Gruppe bewirken, man kann in die innere Emigration gehen, man kann sich äußerlich anpassen. Keiner dieser Wege sei für ihn akzeptabel. Küng wirbt dafür, sich auf Gemeindebene zu engagieren, öffentlich zu protestieren oder über die entstandene Lage wissenschaftlich zu reflektieren und zu publizieren.

Er widmet weitere Kapitel der „Diagnostik des römischen Systems“, benennt „Keime einer chronischen Krankheit“. Er sieht „Rehabilitation mit Rückfällen“ und bleibt auf der Suche nach der „Großen Rettungsaktion“. Unter der Überschrift „Ökumenische Therapie“ benennt er in 18 Punkten konkrete Rettungsmaßnahmen.

Das Buch ist allen zu empfehlen, die trotz aller Resignation, die jemanden befallen kann, der dieser katholisch so gewordenen Kirche, nicht den Rücken kehren will. Es sind die vielen Frauen und Männer, die in Gruppen und Initiativen zusammen kommen und sich Mut machen, in einer konkreten Gemeinde vor Ort glaubwürdig zu leben und andere zum Bleiben ermutigen. Auch Einzelkämpferinnen und -kämpfer finden in den Ausführungen von Küng Argumente und Ermutigung.

Hans Küng: Ist die Kirche noch zu retten?
259 Seiten, Piper Verlag, München 2011


Einer unserer Leser hat uns aus diesem Buch zwei Zitate zugeschickt, die, wie er meint, auch für die übrige Leserschaft einen Einblick in dieses Buch vermitteln:

„[...] Ich habe diese Vision, wie die Kirche zu retten ist, schon vor langer Zeit in vier Doppelsätze zusammengefasst. Diese Gesamtsicht - sie gilt nicht nur für die katholische Kirche - wurde in den zurückliegenden Jahren immer wieder bestätigt und ich sehe deshalb keinen Grund, von ihr abzuweichen:

1. Nicht zu retten ist eine Kirche, die rückwärtsgewandt ins Mittelalter oder die Reformationszeit oder auch in die Aufklärung verliebt ist. Überleben aber kann eine Kirche, die am christlichen Ursprung orientiert und auf die gegenwärtigen Aufgaben konzentriert ist.

2. Nicht zu retten ist eine Kirche, die patriarchal auf stereotype Frauenbilder, exklusiv männliche Sprache und vordefinierte Geschlechterrollen festgelegt ist. Doch
überleben kann eine Kirche, die eine partnerschaftliche Kirche ist, die Amt und Charisma verbindet und Frauen in allen kirchlichen Ämtern akzeptiert.

3. Nicht zu retten ist eine Kirche, die ideologisch verengt konfessionalistischer Exklusivität, Amtsanmaßung und Gemeinschaftsverweigerung verfallen ist. Überleben jedoch kann eine Kirche, die eine ökumenisch offene Kirche ist, die Ökumene nach innen praktiziert und endlich auf viele ökumenische Worte auch ökumenische Taten wie Ämteranerkennung, Aufhebung aller Exkommunikationen und volle Abendmahlsgemeinschaft folgen lässt.

4. Nicht zu retten ist eine Kirche, die eurozentrisch ist und einen christlichen Alleinanspruch und römischen Imperialismus vertritt. Überleben aber kann eine Kirche, die eine tolerante universale Kirche ist, die Respekt hat vor der immer größeren Wahrheit, die deshalb auch von den anderen Religionen zu lernen versucht und den National-, Regional- und Lokalkirchen eine angemessene Autonomie lässt. Und die deswegen auch von den Menschen - Christen wie Nichtchristen - respektiert wird.
Ist die Kirche noch zu retten? Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie überleben wird.“
(Seiten 256-257.)

„[...] Ein erschreckendes Beispiel gibt der Bischof von Limburg, FRANZ-PETER TEBARTZ-VAN ELST, römisch gesinnter Nachfolger des aufgeschlossenen Franz Kamphaus und Zögling von Kardinal Meisner (vgl. Bericht von N. Sommer in Publik-Forum vom 3.12.2010). Dieser Bischof meint, einen im Bistum zirkulierenden Brief von zehn Pfarrern, der ihm Geldverschwendung, Arroganz und ein Klima der Angst vorwirft, leicht abtun zu können. Weit verbreitet in seiner Diözese ist die Kritik, dass er sich in einer für zahllose Menschen wirtschaftlich schwierigen Zeit einen millionenschweren Neubau seiner Bischofsresidenz gestattet, mit großer Wohnung und eigener Kapelle, wo im Untergeschoss nach offizieller Angabe »der Reliquienbestand des Bistums aufbewahrt« werden soll. Schlimme Zustände: Ein neuer Generalvikar, der »Diskretion als Verschwiegenheit« fordert. Angst im Klerus, die Wahrheit über die kirchliche Lage auszusprechen. Kirchenzeitungsredakteure unter ständigem Druck. Laien nicht mehr als Pfarrbeauftragte zugelassen und auch Laientheologen nicht als »Seelsorger und Seelsorgerinnen« zu bezeichnen. Priesteramtskandidaten, denen klerikaler Dünkel eingeimpft wird. Dafür Priester, die - gegen das Votum des Priesterrates - wieder mehr mit römischen Titeln wie »Prälat« oder »Monsignore« geschmückt werden. Keinesfalls sollen sie wiederverheiratete Geschiedene zur Kommunion zulassen oder homosexuelle Paare segnen. Schluss mit den bisherigen Pfarrgemeinden, dafür Konzentration auf von den übrig gebliebenen Priestern geleitete Gottesdienstzentren, zu denen sich die verbliebenen Gläubigen gefälligst hinbewegen sollen.

Kann man da den Notschrei der betroffenen Pfarrer nicht verstehen? In jenem Offenen Brief an ihren Bischof schreiben sie unter anderem: »Sind wir Auslaufmodelle? Seelsorger, die möglichst nah und verlässlich mit den Leuten in den Gemeinden das Leben teilen wollen; Pfarrer, denen ihre Gemeinden ans Herz gewachsen sind und die sie nicht wechseln und kumulieren wollen, wie man das Hemd wechselt; die in liebevolle Gesprächs- und Gebetsgemeinschaften mit ihren Gemeinden verschworen sind ... ; in den Räten Engagierte, die Mitverantwortung übernommen hatten und sich immer häufiger nach dem Klappstuhlprinzip in die Ecke gestellt vorkommen...; Künstler und Intellektuelle, die sehr deutlich spüren, dass ihre Welt nicht die der Bommeln und Troddeln ist, die die Kirche wieder zur Verzierung baumeln lässt, auch nicht des Hochglanzkitschs, der die leeren Worthülsen aufdesignt ... « [...]“
(Seiten 44-45.)

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Paul M. Müller
Franz-Xaver Kaufmann: Kirchenkrise - Wie überlebt das Christentum?


Kardinal Walter Kasper hat versucht in seiner Reaktion auf das „Memorandum“ der (inzwischen über dreihundert Unterzeichner) deutschsprachigen katholischen Theologieprofessoren und Theologen zur Krise der Kirche, die Kritik des „Memorandums“ zu entschärfen, indem er sie in einer allgemeinen „Gotteskrise“ auffängt und damit relativiert. Gelungen allerdings ist ihm dieser Versuch nicht. Die von Johann Baptist Metz aufgenommene Formel der neuzeitlichen „Gotteskrise“, als solche theologisch relevant, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die katholische Kirche derzeit in einer nicht mehr zu übersehenden Akzeptanzkrise befindet.

Kirchenbindung und christliche Gläubigkeit nehmen in unserer Gesellschaft dramatisch ab. Welche Probleme liegen hinter den aktuellen Konflikten? Wie wird es weitergehen? Der Autor, em. Professor für Sozialpolitik und Soziologie an der Universität Bielefeld, fragt mit Max Weber, ob das Christentum nicht „notwendigerweise“ unter den Bedingungen der Moderne seine gesellschaftliche Potenz immer mehr verliert. In einer ebenso scharfsinnigen wie nüchternen Analyse sucht Kaufmann unter einem weiten historischen und gesellschaftlichen Horizont die Chancen der Kirche auszuloten. Dabei geht es ihm nicht nur um die „Kommentierung“ der aktuellen Lage der Kirche; er fragt nach den, der heutigen Kirchenkrise zugrunde liegenden „Struktur- und Kognitionsproblemen“. Dieser Ansatz lässt denn auch einen eindeutigen Zusammenhang von rigiden Strukturen und der Verengung der Weltwahrnehmung in der gegenwärtigen katholischen Kirche erkennen. „War gegenüber einer aggressiven und häufig antikatholischen Aufklärung die Abschottung und der Aufbau einer katholischen Parallelgesellschaft noch eine produktive Antwort, fördert das Festhalten an einer Strategie zentralistischer Vereinheitlichung und Kontrolle den zunehmenden Verlust an Glaubwürdigkeit und Gläubigen.“ (10)

Die Analyse des Autors nimmt einen weiten Weg, um den heutigen „eklatanten Abbruch“ religiös-kirchlicher Traditionen (speziell auch in Deutschland), der die
Existenz der Kirchen in ihrer bisherigen Verfassung bedroht, zu verstehen. Dabei sieht er sich nicht als Zukunftsforscher, sondern befragt in einer Tour d` Horizon durch die abendländische Kirchengeschichte die jeweiligen historischen Bedingungen der Kirche: Wie ist es zu den historischen Erfolgen des Christentums gekommen? Warum hat es die zweitausend vergangenen Jahre überlebt? Diese geschichtliche Betrachtungsweise - so versichert Kaufmann dem Leser von vorneherein - wird zeigen, dass die aktuelle Kirchenkrise „nicht zuletzt mit der Weigerung der kirchlichen Führungsspitze zusammenhängt, die Geschichtlichkeit der eigenen Institution und damit deren Veränderbarkeit ernst zu nehmen“. (18)

Im Weiteren untersucht der Autor in den einzelnen Kapiteln „den historischen Erfolg des Christentums in der Antike“, das „Christentum und die europäische Freiheitsgeschichte“, die „Modernisierung, Säkularisierung und Verkirchlichung des Christentums“, nicht zuletzt unter dem Fragehorizont nach den Überlebenschancen des Christentums in der Moderne. Das letzte Kapitel „Strukturschwächen der katholischen Kirche“ widmet sich u.a. insbesondere der gegenwärtigen Kirchenkrise. Der Autor verwendet dabei ein Verständnis von Krise, die erkennen lässt, dass soziale Zustände sich destabilisieren und als „gefährdet“ und „gefährdend“ erscheinen, „insbesondere wenn das Vertrauen eines erheblichen Teils der Beteiligten in den gedeihlichen Fortbestand des bisherigen Zustandes schwindet“. (vgl. 129) Diese Form der Destabilisierung sieht er in weiten Teilen der katholischen Kirche bis hinein in den Episkopat.

Begründet ist der Schwund an Stabilität nach seiner Ansicht vor allem darin, dass das gegenwärtige Regierungssystem der Kirche, einschließlich seines theologischen Überbaus, an Ordnungsvorstellungen festhält, die sich im 19. Jahrhundert kirchlich ausgeprägt haben. Kaufmann ist sich gewiss, dass diese Vorstellungen ihre Plausibilität immer mehr einbüßen werden, weil sie sich immer stärker hinsichtlich der Erfordernisse der Zeit und eines neuen Selbstverständnisses der Menschen als kontraproduktiv erweisen. Der immer noch praktizierte Rekurs der Kirche auf „keineswegs ewige“, sondern „höchst zeitbedingte“ Ordnungsvorstellungen und ihre rigide Umsetzung durch die römische Kirche „sind ein wesentliches Element der Probleme, die sich heute als Kirchenkrise manifestieren“. (vgl. 130)

Was „die Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit der Modernisierung“ angeht, zeigt Kaufmann im Einzelnen Tendenzen der autoritären disziplinären Absicherung und der gesellschaftlichen Abschottung der Kirche auf, die sowohl an neueren theologischen Erkenntnissen wie auch an den Lebenswelten der Menschen vorbeigehen. Diese Abgrenzung führte in der Vergangenheit in vielen europäischen Ländern zu einem „katholischen Milieu“, mit gemeinsamen sozialen Lebenswelten, „geprägt von der unter strikter römischer Kontrolle stehenden Klerikerkirche.“ (134)

Leider ist es auch dem 2. Vatikanischen Konzil mit seiner erneuerten Selbstbeschreibung von Kirche nur vorübergehend gelungen, näher an die Menschen heranzurücken. Wenn auch heute viele Katholiken mit neuem Selbstbewusstsein die ethischen und theologischen Vorgaben der zentralistisch regierenden römischen Kurie diskutieren, so bleibt der Einfluss der Laien auf kirchliche Entscheidungen, Prozesse und Strukturen nach wie vor marginal. Wenn der Eindruck nicht täuscht, scheint die Vergreisung des Klerus den vorkonziliaren Klerikalismus noch zu bestärken. Zudem feiert die klassische Immunisierung des päpstlichen Jurisdiktionsprimates und der Unfehlbarkeit des Papstes gegen Erfordernisse der Zeit „fröhliche Urständ“. Vielfach stoßen Neuerungsversuche wie etwa die Aufhebung des Pflichtzölibats und die Zulassung von Frauen zur Priesterweihe auf ein päpstliches Lehramt, das in totalitärer Weise auch geschichtlich bedingte Traditionen theologisch und disziplinär zentralistisch einfordert. Und wie steht es um die Laien? Das einzige unaufgebbare Recht der Gläubigen bezieht sich auf die Messfeier und die Sakramente.

Interessant für den Leser ist zu alldem der umfassende Einblick, den der Autor in die komplizierten und verworrenen Strukturen der römischen Kurie gewährt, in der es selbst einem Bischof verwehrt ist, sich kritisch gegenüber einem Kardinal zu äußern, geschweige denn gegenüber dem Papst. Sein Fazit: „Die römische Kurie ist, was ihre Steuerungskompetenz betrifft, auf dem Niveau der höfischen Organisation des Absolutismus stehen geblieben“. (145) Der Autor bleibt trotz der von ihm im einzelnen aufgezeigten Krise der heutigen katholischen Kirche prinzipiell optimistisch. „Die römisch-katholische Kirche wird auch diese Krise überwinden. Zwar lässt sich aktuell heute in Europa die Entstehung einer defensiven Klerikerkirche beobachten und damit das Zurückdrängen der Partizipationschancen der Laien, anstatt diese im Licht des II. Vatikanums weiter zu entwickeln. Das Konzept des Klerikers wir rigidisiert auf das ausschließliche männliche Priestertum hin, und dies wird vor allem in der Form der diözesanen Organisation verfasst, welche ihrerseits dem theoretischen Hierarchiemodell besser entspricht als z.B. die genossenschaftlich organisierten Orden.“ (171)

Hinter den aktuellen Konflikten der heutigen Kirche, das zeigt die Untersuchung in aller Deutlichkeit, verbergen sich gravierende Struktur- und Wahrnehmungsprobleme. Die Strategie der zentralistischen Vereinfachung hat den zunehmenden Verlust an Glaubwürdigkeit mit verursacht. Kaufmann bietet dem Leser ein nüchternes Nachdenken über die Zukunft des Christentums, unter einem Horizont, der weiter ist als die aktuelle Berichterstattung ihn darstellt. Im Ganzen sehr lesenswert und erhellend, nicht nur für engagierte Laien, insbesondere auch für Kleriker.

Franz-Xaver Kaufmann: Kirchenkrise - Wie überlebt das Christentum?
Freiburg (Herder) 2011, 200 Seiten

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Markus Groß
Spreu und Weizen
Zu: Volker Küster, Gé Speelman (Hrsg.). Islam in the Netherlands


Dieser auf Englisch geschriebene, 233 Seiten umfassende Sammelband, der auf eine dreitägige Konferenz zu Ehren des als Autor ebenfalls vertretenen Harry Mintjes zurückgeht, deckt eine ganze Bandbreite von Sichtweisen ab, wobei drei große Themengruppen unterschieden werden: Der erste Teil ist der Lage verschiedener muslimischer Gruppen in den Niederlanden gewidmet, der zweite Teil ist länderübergreifend, der dritte schließlich dem interreligiösen Dialog zwischen den „abrahamitischen“ Religionen gewidmet.

Bei insgesamt 17 Beiträgen ist es natürlich kaum möglich, jeden einzelnen gebührend zu würdigen, deshalb werden in der Folge nur einige markante Eckpunkte beschrieben.

Der erste Beitrag von Ceylan Pektas-Weber zur „Emanzipation hinter den Deichen – eine persönliche Sicht von Frauenfragen im Islam“ ist allein schon durch die Angaben der Autorin zu ihrer eigenen Biographie lesenswert. In das Leben der ehemaligen Feministin mit katholischem Hintergrund, die „im Frauencafé saß, Kräutertree trank“ und „eine lila Latzhose“ trug, trat im Jahre 1989 ein „türkischer Muslim“ und ein halbes Jahr später trat sie, nach der Lektüre des Koran, zum Islam über.

Zugleich zu Beginn erklärt sie den Lesern, die einen solchen Schritt für eine Feministin überraschend finden, diesen Schritt, indem sie feststellt, dass die islamische Lehre „Männern und Frauen gleiche Rechte gibt“. Zumindest die Leser, die den Koran, und mehr noch die, die die Sunna (islamische Tradition) kennen, dürften hier vehement widersprechen. Die Erlaubnis der Polygamie, das islamische Erbrecht (nach dem Koran erben Töchter halb soviel wie Söhne), sind doch mittlerweile allseits so gut bekannt, dass man sich ein paar Belege für diese Sichtweise aus den Schriften gewünscht hätte. Statt dessen verweist sie auf andere Studien, die aber – dem Titel nach – ebenfalls eher sozialwissenschaftlich als exegetisch zu sein scheinen.

Auf den Beitrag und das Buch gibt es zwei Erwiderungen, eine davon ist ein Beitrag der Alttestamentlerin Dorothea Erbele-Küster, die schon zu Beginn ihrer Ausführungen auf ihre Mitarbeit bei der Bibelübersetzung „Bibel in gerechter Sprache“ hinweist. Dabei stellte sich ihr die Frage, wie man „einen androzentrischen Text (die Bibel) in einer Weise übersetzen kann, dass er die Position von Frauen stärkt“. Bereits hier wird jeder Übersetzer (ich selbst übersetze nebenberuflich auch für Gerichte) vehement Einspruch erheben. Wenn ein Text eindeutig patriarchalisch ist, dann darf ein Übersetzer ihn auch nur so und nicht anders übersetzen. Allenfalls mit Fußnoten darf man hier erklärend (und relativierend) eingreifen, aber auch nur da, wo dies historische Gründe hat.

Noch befremdlicher erscheint die Schilderung ihrer persönlichen Gefühle bei der Lektüre der biblischen Geschichte von Sara, die ihren Mann Abraham dazu brachte, ihre Dienerin Haggar und deren Sohn in die Wüste (und den vermeintlich sicheren) Tod zu treiben. Solange sie die Geschichte aus der Sicht Saras gelesen habe, habe sie sich „emanzipiert“ gefühlt, erst später habe sie begonnen sich zu fragen, warum sie sie nicht aus der Sicht Haggars gelesen habe. Dieses Problem der Sichtweise des Lesers thematisiert sie auch in Bezug auf die Untersuchungen des Koran, wobei sie für eine „Hermeneutik des Vertrauens“ plädiert – was auch immer dies bedeuten möge.

Bis zu diesem Zeitpunkt war ich eher der Meinung, dass die vorliegende Rezension des Sammelbandes nur in einem Verriss enden könnte, die folgenden Artikel sollten diese Einschätzung aber als zu verfrüht erscheinen lassen.

Der vierte Beitrag von Özcan Hidir gibt einen Überblick über die junge „Islamic University of Rotterdam“, deren offizielle Anerkennung zur Zeit der Abfassung noch im Gange war. Dabei geht er auf die Meinung ein, dass „Islam und wissenschaftliche Forschung sich fundamental widersprechen“. Hier ist seine Haltung durchaus kritisch gegenüber der eigenen Tradition, zu einem wirklich historisch-kritischen Ansatz kann er sich aber nicht durchringen.

Sehr informativ sind dagegen die meisten der folgenden Beiträge zu einzelnen muslimischen Gruppen in den Niederlanden, so z.B. der Artikel von Karel Steenbrink zu Muslimen aus Indonesien. Das zusammengetragene Fakten- und Zahlenmaterial zur Geschichte dieser Gruppen, vor allem die detaillierteren Fallstudien zu Gemeinden der molukkischen und javanischen Muslime sowie eine Übersicht über Verbände der indonesischen Muslime ist sicherlich nützlich. Interessant ist auch die Bemerkung in seiner Zusammenfassung, dass Mischehen zwischen indonesischen Muslimen und Nicht-Muslimen durchaus häufig sind, wobei in der Regel der nicht-muslimische
Ehepartner zum Islam übertritt.

Im darauf folgenden Beitrag zu afrikanischen Muslimen von Martha Th. Frederiks ist die Beobachtung bemerkenswert, dass es einen Trend unter somalischen Muslimen gibt, die Niederlande in Richtung England zu verlassen, da sie dort ihre Religion freier ausüben zu können glauben.

Der Beitrag von Nico Landman zur Ahmadiyya Bewegung ist insoweit ein gewisser Sonderfall, als diese Bewegung, die unter anderem an ein Weiterwirken Jesu (nach der Kreuzigung) in Kaschmir glaubt, von den meisten islamischen Autoritäten als Nicht-Muslime angesehen werden, was z.B. in Pakistan zu blutigen Verfolgungen führte. Landman zeigt auf, dass die Haltung der niederländischen Muslime dieser Gruppe gegenüber ebenfalls unklar, in einigen Fällen auch offen feindselig ist. Gegen Ende verweist er auf die ähnliche Lage der türkischen Aleviten, bei denen aus Sicht der Sunniten auch nicht klar ist, ob sie als Muslime angesehen werden oder nicht.

Der zweite Teil des Sammelbandes beginnt mit einem Beitrag von Georg Wenz über Probleme der Integration, vor allem der Integration von Muslimen in Deutschland, wobei er einige Forderungen wie die der Einführung von islamischen Studiengängen an Universitäten und von Religionsunterricht an Schulen stellt. Die Probleme der Vereinbarkeit unserer Verfassungsgrundsätze mit den „ewigen“ Aussagen Gottes im Koran, falls diese in Konflikt geraten, sind ihm aber schon bewusst, wenn auch nur in einem Nebensatz.

Sehr interessant wegen der vielen Fakten ist der folgende Beitrag zu britischen Muslimen nach den Bombenanschlägen von 2005, in dem der Autor Philip Lewis nicht nur auf eine Vielzahl einzelner Gruppen eingeht, sondern auch Sonderfälle wie den spektakulären Übertritt des ehemaligen Popstars Cat Stevens (heute: Yusuf Islam) erwähnt. Bemerkenswert ist seine Feststellung, dass britische Muslime fast nur innerhalb ihrer eigenen ethnischen Gruppe heiraten, die nationale Identität also nicht von einer religiösen abgelöst worden zu sein scheint. Als Hindernis im interreligiösen Dialog stellt er vor allem ein Defizit auf Seiten der Muslime fest: deren geringe Kenntnis westlicher kultureller und religiöser Traditionen. Vor allem bedauert er die geringe Neigung von britischen Muslimen, geisteswissenschaftliche Fächer (mit Ausnahme von Arabistik) zu studieren. Etwas beängstigend sind die bei ihm zu lesenden Tatsachen, dass die Altersgruppe von 16-24 im allgemeinen konservativer ist als die Vorgängergenerationen, dass die Hälfte der 18-24-jährigen der Ansicht sind, die USA und Israel seien für den 11. September verantwortlich und dass über ein Drittel der jungen Muslime mit der Scharia in dem Punkt einer Meinung sind, dass Abtrünnige mit dem Tode bestraft werden sollten.

Den Islam in Dänemark behandeln die nächsten beiden Beiträge. In einem Abschnitt widerspricht Charlotte Karlsen, die Autorin des ersteren, der Ansicht, dass gerade in skandinavischen Ländern der Islam „neu gedacht wird“ (gemeint ist wohl eine Art „Euro-Islam“), dagegen sieht sie diese Ansätze eher als Einzelerscheinungen, die mit der generellen Stimmung der Muslime in diesen Ländern nichts zu tun habe. So seien die meisten auf Dänisch von Muslimen publizierten Bücher eher Übersetzungen und alles andere als liberal, was sie vor allem auf das Fehlen einer islamischen Elite in diesen Ländern zurückführt.

Unter anderem das Problem der Selbstzensur und des Verlustes an Meinungsfreiheit in Dänemark nach dem Karikaturenstreit ist Thema des zweiten Beitrags von Jørgen S. Nielsen. Er zitiert u.a. die Meinung, dass Muslime von Medien eine Sonderbehandlung ihrer religiösen Gefühle verlangen, was er für unvereinbar mit der westlichen Auffassung von Demokratie hält. Dass in Diktaturen Menschen wegen des Erzählens von Witzen ins Gefängnis geworfen werden, könne ja schließlich ebenfalls mit dem Hinweis auf die Verletzung von Gefühlen gerechtfertigt werden. In der Folge referiert der Autor ausführlich die Diskussion zum Thema, wobei auch die Argumente von Muslimen detailliert ausgeführt werden. Dabei sieht er es als gefährlich an, wenn der Tatbestand der Beleidigung allein von denen definiert wird, die sich als Opfer betrachten, und er gibt als gefährliches Beispiel die Blasphemiegesetzgebung Pakistans mit ihren vielen Missbrauchsmöglichkeiten an.

Der dritte Teil des Sammelbandes ist dem „Dialog innerhalb des Abrahamitischen Glaubens“ gewidmet, wobei mir persönlich schon allein aus drei Gründen diese Überschrift missfällt: Erstens wird Abraham – zumindest in der westlichen Theologie – als legendarische Figur angesehen, weshalb es auch keinen „Abrahamitischen Glauben“ im Singular geben kann, allenfalls „Abrahamitische Religionen“ in dem Sinne, dass sie in ihren Schriften diese legendarische Person wiederfinden. Zweitens war „Abraham“ noch kein Monotheist. Wieso man für den Dialog aber ausgerechnet auf eine Person zurückgreifen soll, die – ob legendarisch oder historisch – eine junge Mutter mit ihrem Kind in die Wüste getrieben hat, bleibt doch sehr zweifelhaft.

Trotz dieser Kritik an der Überschrift sind die darauffolgenden Beiträge selbst jedoch durchaus lesenswert und behandeln eine Reihe wichtiger Aspekte, so ist der erste von Gé Speelman dem Bilderverbot im Islam, in Christentum und Judentum gewidmet. Nach einem historischen Überblick über die Haltung zur bildlichen Darstellung, wobei er im Falle des Islam auch Koran- und Hadithstellen zitiert, gibt er eine Reihe von Beispielen aus der islamischen Kunstgeschiche an, mit denen er aufzeigt, dass Menschen allgemein und auch der Prophet selbst durchaus bildlich dargestellt werden konnten, wenn dies auch ein eher marginales Phänomen war.

Simon Schoon fordert im nächsten Beitrag statt Dialog einen „Trialog“ auch unter Einschluss des Judentums. Dabei fordert er aber auch, dass die Dialogpartner akzeptieren müssen, dass Fakten und Meinungen auf den Tisch kommen, die ihnen missfallen. Es kann sich also nicht nur um die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner handeln. Was mir hier fehlt, ist die Miteinbeziehung von Atheisten und Agnostikern, in vielen Teilen der westlichen Welt (z.B. in den neuen Bundesländern) die Mehrheit der Bevölkerung.

Volker Küster stellt den Begriff „Abrahamitische Ökumene“ zur Debatte. Er tut dies mit Hilfe eines geistesgeschichtlichen Überblicks unter anderem mit vielen Verweisen auf Bibel- und Koranstellen. In der Summe kommt er zum Ergebnis, das die bei Troeltsch zu findende Unterteilung in Judentum, Christentum und Islam als monotheistische Religionen einerseits und Hinduismus und Buddhismus auf der anderen Seite seine Berechtigung hat. Er begründet dies in erster Linie mit ihren gemeinsamen Ursprüngen. Hierbei vergisst er jedoch m.E. einen wichtigen Punkt: Die „abrahamitischen Religionen“ mögen den Monotheismus gemeinsam haben, auf dem Gebiet der Ethik aber sind vor allem Christentum und Islam Antipoden.

Der Beitrag von Jan Slomp behandelt die Beziehungen und Haltungen niederländischer Kirchen zum Islam, wobei vor allem die Ausführungen zu Mischehen besonders interessant sind. Er erwähnt unter anderem eine ökumenische christlich-muslimische Hochzeit, die von einem Priester und einem Imam gleichzeitig durchgeführt worden sei und in der die beiden Ehepartner sich auf die hanafitische Rechtsschule als Richtschnur geeinigt hätten. Nach Protesten sei jedoch von der Provinzialsynode festgestellt worden, dass diese Rechtsschule (wie übrigens alle islamischen Rechtsschulen) die Polygamie erlaube, was klar der christlichen Vorstellung von Ehe widerspreche. Was m.E. hier etwas fehlt, ist die genaue Unterscheidung von Mischehen, in denen der Ehemann Muslim ist und solche, in denen es die Frau ist. Nach der Scharia darf ein männlicher Muslim eine „Schriftbesitzerin (=Jüdin oder Christin)“ heiraten, ohne dass diese ihre Religion wechseln muss, da man von der Überlegenheit der Männer ausgeht, die dann die islamische Erziehung der Kinder garantieren. Aus ebendiesem Grund darf eine Muslimin aber nur einen Muslim heiraten. Interessant ist jedoch Jan Slomps Feststellung am Ende: Dialog sollte nicht zum Missionieren missbraucht werden, wenn es aber in diesem Zusammenhang zu Übertritten (in beide Richtungen) kommt, müssen die Dialogpartner dies auch akzeptieren.

Der letzte Beitrag von Harry Mintjes gehört sicherlich zu den besten des Sammelbandes und behandelt die Frage „Affen und Schweine – wie naiv ist der christlich-muslimische Dialog“. In ihm kommen auch Argumente erklärter Islamkritiker wie Hans Jansen zur Sprache. Mintjes scheut sich auch nicht vor der Feststellung, dass Gewalt nicht nur ein Teil der muslimischen Geschichte ist, sondern wichtiges Element im Koran selbst und stellt fest, dass eine „Dialogische Haltung mittlerweile eine Art Krankheit geworden sei“ und dass durch die Meinung, dass Koran und Bibel ja „tief unten“ nur dasselbe verkünden, die „Wahrheit gegen den Frieden eingetauscht“ worden sei. In der Folge geht er detailliert auf die koranischen Passagen zu Affen und Schweinen und ihre Interpretation im modernen Islam (meist: Affen = Juden; Schweine = Christen) ein, wobei auch die öffentliche Diskussion in ihrer Breite referiert wird.

Als einziger aller Autoren gelangt er in seiner Zusammenfassung zu einer klaren islamkritischen Schlussfolgerung, wenn er feststellt, dass die „Beleidigung von Nicht-Muslimen nicht nur eine schlechte muslimische Angewohnheit ist, sondern es das ist, was der Koran ihnen beibringt“.

Zudem geht er auf das Problem der im Islam oft fehlenden Interpretation von Koranstellen im Kontext ein. Im letzten Abschnitt wird er dann aber wieder versöhnlich und hält den Dialog – „auch wenn man in der Vergangenheit wohl oft zu naiv war“ – weiterhin für wichtig.

Der Stil des Sammelbandes ist im Übrigen ebenso heterogen wie die Qualität des Englischen, wobei man gerade den Beiträgen deutscher Autoren schon stark anmerkt, dass sie nicht in ihrer Muttersprache schreiben.

Im Blickfeld des Buches sind fast ausschließlich islamische Gruppen, die man als Teil des friedlichen „Mainstream“ betrachten könnte. Was man etwas vermisst, ist eine genauere Behandlung der Ränder des Spektrums. So wird die bekannte Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali zwar mehrfach erwähnt, oft mit eindeutig negativem Tonfall, die Organisation „Centraal Comité voor Ex-moslims (Zentralkomitee der Ex-Muslime)“ bleibt jedoch, wohl als vermeintliche Randerscheinung, außerhalb der Betrachtung. Ebenso vernachlässigt wird das andere Ende des Spektrums, der militante Islam.

Trotz dieses Mangels fällt mein abschließendes Urteil über das Buch durchaus positiv aus. Man muss ein Werk immer am eigenen Anspruch messen, und der ist schon im Titel erkennbar in erster Linie der, die Lage muslimischer Gruppen in den Niederlanden möglichst objektiv und neutral darzustellen. Zu diesem Thema bietet das Buch zum Teil sehr detaillierte und auch exemplarisch interessante Informationen.

Wer allerdings eine klare gesellschaftspolitische Botschaft oder gar eine abschließende Wertung der Weltreligion Islam erwartet, wird sie in diesem Band nicht finden.

Volker Küster, Gé Speelman (Hrsg.). Islam in the Netherlands. Between Religious Studies and Interreligious Dialogue. In honour of Harry Mintjes. Explorations in Intercultural Theology Vol. 2, Berlin 2010

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© imprimatur Juni 2011


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