Heinz-Günther Schöttler
Zum aktuellen Stand der katholisch-jüdischen Beziehungen
Protokoll einer schleichenden Entfremdung

Das Zweite Vatikanische Konzil stellte einen Neubeginn im Verhältnis der Katholischen Kirche zum Judentum dar. Papst Johannes Paul II. hat diesen Neubeginn in der Praxis der Kirche in vielen persönlichen Begegnungen und Handlungen praktiziert und in seinen Ansprachen und Predigten theologisch konsequent weitergeführt. So legte, um nur ein eindrucksvolles Beispiel zu nennen, der von Krankheit gequälte Papst am 26. März 2000 bei seinem Besuch in Jerusalem mit zitternder Hand und unter großer Mühe einen Gebetszettel in einen Spalt der Westmauer des Plateaus des Tempels, „Klagemauer“ genannt. Darauf stand der Text jener Vergebungsbitte, die er zwei Wochen vorher, am Ersten Fastensonntag, in einer Bußfeier im Petersdom gebetet hatte:

„Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt, deinen Namen zu den Völkern zu tragen. Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn.“

Bemerkenswert ist nicht nur die Wertschätzung des Judentums, die in dieser anrührenden Geste liegt, nicht nur die Anteilnahme an dessen Leiden, die aus dieser Vergebungsbitte spricht, nicht nur das offene Bekenntnis der Schuld der Christen am Leiden des jüdischen Volkes, auch nicht nur die Hoffnung auf eine neue Geschwisterlichkeit zwischen Juden und Christen. Bemerkenswert ist vielmehr, dass er hier an diesem Ort, der in der jüdischen Frömmigkeitsgeschichte einen zentralen Stellenwert hat, in großer Sensibilität dem jüdischen Glauben gegenüber jene Vergebungsbitte ohne den christologischen Schlusssatz („Darum bitten wir durch Christus unseren Herrn.“) der Fassung aus dem Gottesdienst im Petersdom auf den Zettel geschrieben hatte.

Mit diesem Gebet kulminiert gleichsam die Israel-Theologie Johannes Pauls II. Vor diesem Hintergrund wollen die folgenden Überlegungen die Entwicklung des katholisch-jüdischen Verhältnisses anhand signifikanter Ereignisse im Pontifikat Benedikts XVI. weiterverfolgen.

19. August 2005: Besuch in der Kölner Synagoge

Am 19. April 2005 wird Joseph Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt. Vier Monate später, am 19. August 2005, besucht er als Papst Benedikt XVI. anlässlich des Weltjugendtages in Köln die dortige Synagoge. Benedikt XVI. betont eingangs seiner Ansprache in der Synagoge die Kontinuität zu seinem Vorgänger, Papst Johannes Paul II.:

„Ich beabsichtige, den Weg der Verbesserung der Beziehungen und der Freundschaft mit dem jüdischen Volk, auf dem Papst Johannes Paul II. entscheidende Schritte getan hat, mit voller Kraft weiterzuführen.“

Der Papst erinnert dann im Anschluss an „Nostra aetate“, Kap. 4, „an unsere gemeinsamen Wurzeln und an das äußerst reiche geistliche Erbe, das Juden und Christen miteinander teilen“, zitiert Paulus, „dass ‘Gnade und Berufung, die Gott gewährt, unwiderruflich sind’ (Röm 11,29; vgl. 9,6.11; 11,1f)“, beklagt mit „Nostra aetate“, Kap. 4, „alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von wem auch immer gegen das Judentum gerichtet haben“, nennt die Verpflichtung der Kirche, die Erinnerung an die Schoah denen, „die selbst nicht mehr Zeugen der schrecklichen Ereignisse vor und während des Zweiten Weltkriegs waren, weiterzugeben“, betont, dass „die katholische Kirche [...] für Toleranz, Respekt, Freundschaft und Frieden unter allen Völkern, Kulturen und Religionen [eintritt]“ und zählt die Verdienste der Kirche für die „Verbesserung und Vertiefung des Verhältnisses zwischen Juden und Christen“ auf. Abschließend sagt der Papst, dass Vieles freilich noch zu tun bleibe:

„Wir müssen uns noch viel mehr und viel besser gegenseitig kennen lernen. Deshalb möchte ich ausdrücklich ermutigen zu einem aufrichtigen und vertrauensvollen Dialog zwischen Juden und Christen. Nur so wird es möglich sein, zu einer beiderseits akzeptierten Interpretation noch strittiger historischer Fragen zu gelangen und vor allem Fortschritte in der theologischen Einschätzung der Beziehung zwischen Judentum und Christentum zu machen. Ehrlicherweise kann es in diesem Dialog nicht darum gehen, die bestehenden Unterschiede zu übergehen oder zu verharmlosen: Auch und gerade in dem, was uns aufgrund unserer tiefsten Glaubensüberzeugung voneinander unterscheidet, müssen wir uns gegenseitig respektieren und lieben.“

Die Ansprache ist politically correct; aber ihr fehlen deutlich hörbar die theologische Nähe und Wärme, die die Ansprachen seines Vorgängers im Papstamt auszeichneten. Das liegt zum einen an der so unterschiedlichen Biographie der beiden Päpste, zum anderen und damit eng zusammenhängend an der so unterschiedlichen Theologie der beiden. Die Ansprache in der Kölner Synagoge ist erwartungsgemäß rhetorisch durchaus freundlich, aber für den aufmerksamen Zuhörer, die aufmerksame Leserinnen theologisch dem Judentum gegenüber distanziert-reserviert. Sie lässt jene theologischen essentials, mit denen Johannes Paul II. „Nostra aetate“, Kap. 4, so theologisch-innovativ weiterentwickelt hatte und die er immer neu einprägte, vermissen. Dazu zählen insbesondere folgende drei Aspekte: (1) Juden und Christen „sind auf der Ebene ihrer je eigenen religiösen Identität eng und beziehungsvoll miteinander verbunden“ (Johannes Paul II.); (2) das Judentum ist für Christen „nicht etwas ‘Äußerliches’, sondern gehört in gewisser Weise zum ‘Innern’ unserer Religion“ (Johannes Paul II.); (3) die jüdische Glaubensperspektive ist der christlichen gegenüber ebenbürtig – ebenbürtig von der religionsgeschichtlichen Herkunft her, aber auch theologisch ebenbürtig.

28. Mai 2006: Besuch im deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz

Ein gutes Jahr nach seiner Wahl führt die zweite Auslandsreise nach dem Weltjugendtag Benedikt XVI. nach Polen, in das Heimatland seines Vorgängers. Dort besucht er am 28. Mai 2006 auch das ehemalige deutsche nationalsozialistische Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und hielt eine Ansprache in italienischer Sprache, eine große Herausforderung im Blick auf seinen Vorgänger im Papstamt und als deutscher Papst, der – so Wladyslaw Bartoszewski, Überlebender von Auschwitz – „Wärme und einfache Menschlichkeit aus[strahlte] und [...] sie mit allen Anwesenden [teilte]“. Er komme, so sagt Benedikt, „an diesen Ort des Grauens, einer Anhäufung von Verbrechen gegen Gott und den Menschen ohne Parallele in der Geschichte“ als „Papst, der aus Deutschland kommt“, und stellt gleich zu Beginn in bewegenden Worten die Theodizee Frage:

„An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen – Schweigen, das ein inwendiges Schreien zu Gott ist: Warum hast du geschwiegen? Warum konntest du dies alles dulden? In solchem Schweigen verbeugen wir uns inwendig vor der ungezählten Schar derer, die hier gelitten haben und zu Tode gebracht worden sind; dieses Schweigen wird dann doch zur lauten Bitte um Vergebung und Versöhnung, zu einem Ruf an den lebendigen Gott, dass er solches nie wieder geschehen lasse.“

Der Papst gibt keine vorschnelle Antwort; er lässt diese Frage(n) offen und spricht statt einer Antwort Verse aus Psalm 44 und aus Psalm 23, mit einem Nachdruck auf dem Motiv der „finsteren Schlucht“ (v 4), die die Menschheit in Auschwitz-Birkenau durchschritten habe. Der „Sohn des deutschen Volkes“ erinnert nachdrücklich an seinen Vorgänger, den „Sohn des polnischen Volkes“ und fährt dann fort:

„Ich stehe hier als Sohn des deutschen Volkes, und gerade deshalb muss ich, darf ich wie er sagen: Ich konnte unmöglich nicht hierher kommen. Ich musste kommen. Es war und ist eine Pflicht der Wahrheit, dem Recht derer gegenüber, die gelitten haben, eine Pflicht vor Gott, als Nachfolger von Johannes Paul II. und als Kind des deutschen Volkes hier zu stehen – als Sohn des Volkes, über das eine Schar von Verbrechern mit lügnerischen Versprechungen [...] Macht gewonnen hatte, so dass unser Volk zum Instrument ihrer Wut des Zerstörens und des Herrschens gebraucht und missbraucht werden konnte.“

Dass der Papst, der, 1927 in Marktl am Inn geboren, aus dem Land der Täter der Schoah stammt, die historische Schuld der Deutschen dermaßen herunterspielt, wird mit Recht scharf kritisiert. Sind die Deutschen im Nationalsozialismus etwa Opfer einer verbrecherischen Verschwörung geworden, und waren sie nicht vielmehr Mitläufer und Mittäter, und zwar zuhauf?, fragen sich nicht nur Juden fassungslos. Warum gibt gerade der deutsche Papst eine Deutschland und die Deutschen entlastende historische Deutung? Das ist das Exkulpationsmuster vieler deutscher Täter nach dem Krieg. Warum fällt das Wort „Schuld“ in dieser Ansprache nicht? Ist dies etwa der Versuch, aus den Tätern Opfer zu machen und die Geschichte der Schoah umzudeuten? Einen ähnlich verharmlosenden Gebrauch der Sprache wurde in der in englisch gehaltenen Ansprache in Yad VaShem während der Israelreise am 11. Mai 2009 kritisiert, insofern Benedikt dort das Wort „morden“ (to murder) in Bezug auf die Schoah vermied und neutral von „töten“ (to kill) sprach:

„Ich bin gekommen, um in Stille vor diesem Denkmal zu stehen, das zur ehrenvollen Erinnerung an die Millionen in der schrecklichen Tragödie der Schoah getöteten (engl. Original: „killed“) Juden errichtet wurde. Sie haben ihr Leben verloren, doch niemals werden sie ihre Namen verlieren.“

Joseph Ratzinger / Papst Benedikt hat ein deutlich anderes Narrativ vom 2. Weltkrieg und von der Schoah als sein Vorgänger.

4. Februar 2008: Eine neue Karfreitagsfürbitte für die Juden

Am 7. Juli 2007 veröffentlicht Benedikt XVI. das Motu proprio „Summorum Pontificum“. Damit dekretiert der Papst, dass neben das von Paul VI. promulgierte nachkonziliare Römische Messbuch als der „ordentlichen Ausdrucksform [ordinaria expressio] der ‘Lex orandi’ der katholischen Kirche des lateinischen Ritus“ jetzt auch das vorkonziliare Messbuch „als außerordentliche Ausdrucksform [extraordinaria expressio] derselben ‘Lex orandi’ der Kirche“ zu treten habe. Auf diese Weise erfüllte sich Joseph Ratzinger – jetzt Papst Benedikt XVI. – einen lange gehegten und immer wieder artikulierten persönlichen Wunsch, wie ein Blick in seine 1997 erschienenen Lebenserinnerungen zeigt. Aber: Man wird nicht Papst, um sich seine bisher unerfüllten Wünsche zu erfüllen.

In dem wieder allgemein zugelassenen vorkonziliaren Missale stand eine Karfreitagsfürbitte für die Juden, deren Formulierung bis ins frühe Mittelalter (Ende 7. Jh.) zurückgeht und ein Musterbeispiel von christlicher Verachtung für den jüdischen Glauben darstellt. Diese Fürbitte konnte nach „Nostra aetate“ natürlich nicht stehen bleiben. Aber es bedurfte erst vielseitiger Proteste, so auch vom Gesprächskreis „Christen und Juden“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, dass Benedikt am 4. Februar 2008 eine neue Fürbitte – die einzige Änderung im vorkonziliaren Missale – für den Karfreitag dieses Jahres, wenn er nach dem außerordentlichen Ritus gefeiert würde, vorschrieb.

Sprach die vorkonziliare Fürbitte vom „Schleier“ [velamen], der auf den Herzen der Juden liege, und von ihrer „Verblendung“ [obcaecatio], und dass sie dieser Finsternis [tenebrae] entrissen werden sollen, dann bittet das neue Gebet um dasselbe, nur rhetorisch freundlicher, nämlich um die Erleuchtung der Herzen der Juden. Ja, die Fürbitte von 2008 spitzt die vorkonziliare Fassung christologisch-soteriologisch noch zu, insofern jetzt von „Jesus Christus als dem Heiland aller Menschen“ gesprochen wird.

In seinem neuen Interviewbuch „Licht der Welt“ von 2010 bestätigt der Papst sowohl die gewollte rhetorische Freundlichkeit der Fürbitte als auch die oben aufgezeigte Intention der Neufassung. Er habe die tridentinische Karfreitagsfürbitte aus zwei Gründen geändert: (1) „mit Rücksicht auf unsere Beziehung zu den jüdischen Freunden“, (2) „aber auch dahingehend, „dass nun nicht mehr unmittelbar für die Bekehrung der Juden im missionarischen Sinne gebetet wird, sondern dass der Herr die geschichtliche Stunde herbeiführen möge, in der wir alle miteinander vereint sein werden“. „Nicht mehr unmittelbar“: Indirekt also doch noch! Zur Erinnerung: Johannes Paul II. hatte bei seinem Besuch in Jerusalem im März 2000 die Fürbitte für die Juden aus der Bußfeier vom Ersten Fastensonntag im Petersdom (s. o.) ohne die christologische Formel „per Christum“ in die Mauer-Ritze gesteckt.

Mit der neuen Karfreitagsfürbitte von 2008 steht das Thema „Judenmission“ wieder auf der kirchenoffiziellen Agenda und ist die theologische Grundlage für die Wiederaufnahme der Judenmission gegeben. Im Nachhinein entpuppt sich die vatikanische Argumentation in der Debatte, ob die neue Karfreitagsfürbitte von 2008 denn nun eine Judenmission intendiert oder nicht, als verschleiernd-beschwichtigende Rhetorik. Denn mit der Veröffentlichung des neuen Missale Romanum für die außerordentliche Form des lateinischen Ritus im Februar 2010 ist die Frage eindeutig beantwortet, lautet doch die Überschrift über die neu formulierte Fürbitte für die Juden unverändert „Pro conversione Iudaeorum“ („Für die Bekehrung der Juden“) wie im vorkonziliaren römischen Messbuch!

21. Januar 2009: Aufhebung der Exkommunikation der „Lefebvre-Bischöfe“

Wie eine weitere Bekräftigung dessen, was die Wiederzulassung der vorkonziliaren Messe symbolisierte, erfolgt am 21. Januar 2009 durch das Dekret „Latae sententiae“ der Kongregation für die Bischöfe (veröffentlicht am 24. Januar) die Aufhebung der Exkommunikation der vier von Erzbischof Marcel Lefebvre (1905-1991) am 30. Juni 1988 zwar gegen die ausdrückliche Anweisung des Papstes, aber gültig geweihten Bischöfe.

Der fast einmütige Aufschrei in Kirche und Öffentlichkeit ist groß und berechtigt, denn mit der Aufhebung der Exkommunikation scheint die Theologie (bes. die Ekklesiologie, Eucharistie-Lehre resp. Messopfer-Lehre und Eschatologie), auf der die „Piusbruderschaft“ basiert und die sie vertritt, katholisch-hoffähig geworden zu sein. Fast gleichzeitig mit der Aufhebung der Exkommunikation wurde bekannt, das einer der Vier, Bischof Richard Williamson, in einem Interview, dass er bereits Mitte November 2008 am Rande einer Diakonenweihe im Priesterseminar der Piusbruderschaft in Zaitzkofen bei Regensburg einer schwedischen Fernsehanstalt gegeben hatte, die Schoah geleugnet hatte – übrigens nicht das erste Mal! Die Piusbruderschaft distanzierte sich zwar schnell von Bischof Williamson und seinen Äußerung. Im Nachhinein aber muss man doch sagen, dass dieses zeitgleich bekannt gewordene bzw. bekannt gemachte Interview gleichsam ein „Geschenk“ des Heiligen Geistes war, im Dienst der Unterscheidung der Geister; war doch damit eine nicht mehr zu beschwichtigende Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit geweckt.

Der Skandal liegt nämlich tiefer, ist doch die Theologie der Bruderschaft zutiefst judenfeindlich – ebenso antijudaistisch wie antisemitisch. Das konnte man schon immer nachlesen, dennoch war es von einer breiten Öffentlichkeit und allem Anschein nach auch vom Vatikan nicht wahrgenommen worden. Jetzt aber wurde auf nicht zu bestreitende Weise offenkundig: Nicht Bischof Williamson ist eigentlich das Problem, sondern die Theologie dieser Bruderschaft:

„Mit dem Kreuzestod Christi ist der Vorhang des Tempels zerrissen, der Alte Bund abgeschafft, wird die Kirche, die alle Völker, Kulturen, Rassen und sozialen Unterschiede umfasst, aus der durchbohrten Seite des Erlösers geboren. Damit sind aber die Juden unserer Tage nicht nur nicht unsere älteren Brüder im Glauben, wie der Papst bei seinem Synagogenbesuch in Rom 1986 behauptete; sie sind vielmehr des Gottesmordes mitschuldig, so lange sie sich nicht durch das Bekenntnis der Gottheit Christi und die Taufe von der Schuld ihrer Vorväter distanzieren. Im Gegensatz dazu behauptet das II. Vatikanum, man könne die Ereignisse des Leidens Christi weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen (§ 4). [...] Wir sehen mit Trauer Papst Johannes Paul II. und nun auch Papst Benedikt XVI. in eine jüdische Synagoge gehen.“

Diese Passage steht in einer in erster Auflage 1989 erschienenen und letztmalig in 4. Auflage im Oktober 2008 veröffentlichten Schrift „Die Zeitbomben des Zweiten Vatikanischen Konzils“ des deutschen Distriktoberen der Bruderschaft, Pater Franz Schmidberger. Und wer ein klein wenig googelt, stellt erschreckt fest, wie oft der Pater dieses Pamphlet seit 1989 als Vortrag gehalten hat. Den Text hat die Bruderschaft zwischenzeitlich von ihrer Internetpräsenz genommen: sicher nicht aus Umkehr, sondern aus Taktik, kann man auf der deutschen Homepage der Bruderschaft doch weiterhin z. B. die unsägliche Lehre vom Gottesmord der Juden lesen. Die Theologie dieser fundamentalistischen Formatierung des Katholizismus hat offenkundig einen Bodensatz von Judenfeindlichkeit und kommt ohne diese Negativfolie nicht aus: krankhaft! In diesen integralistischen katholischen Milieus leben der vorkonziliare Antijudaismus und die vorkonziliare Judenfeindlichkeit ungebrochen weiter.

Schmidberger hatte seine „Zeitbomben“ übrigens bereits im Dezember 2008 an alle deutschen Bischöfe geschickt. Und insofern man die „Zeitbomben“ zudem Jahrzehnte lang (!) im Internet nachlesen konnte: Sollte da das Pamphlet im Januar 2009 höchsten kirchlichen Stellen nicht bekannt gewesen sein? Sollte man nicht gewusst haben, was man mit der Aufhebung der Exkommunikation tat? – Vielleicht ist es ja so: Man merkte im Vatikan deshalb nicht, was man tat, weil man ähnlich wie die Piusbrüder dachte resp. denkt.

19. Dezember 2009: Papst Pius XII. – Zuerkennung des heroischen Tugendgrades

Am 19. Dezember 2009 nimmt das Seligsprechungsverfahren für Papst Pius XII. und für Johannes Paul II. eine wichtige Hürde: Papst Benedikt XVI. erkennt seinen beiden Vorgängern den heroischen Tugendgrad zu und gibt sie damit zur Verehrung durch die Gläubigen frei. Für die definitive Seligsprechung braucht es nach dem kirchlichen Recht jetzt ‘nur’ noch des Nachweises einer Wunderheilung.

Die Zuerkennung des heroischen Tugendgrades kam für viele Beobachter überraschend, zu früh, bevor die Rolle des umstrittenen Papstes während des Zweiten Weltkriegs und der Judenverfolgung historisch genau geklärt ist. Viele sehen in Pius XII. nach wie vor jenen Papst, der zur Schoah schwieg. Hubert Wolf, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Archivs der Glaubenskongregation und ausgewiesener Kenner der neuesten Kirchengeschichte, kommt 2009 in einem instruktiven und detailgenauen Vortrag vor der Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum der Deutschen Bischofskonferenz zu einem höchst zwiespältigen Urteil über den Pacelli-Papst: „Im Zentrum stand für diesen Papst die von ihm vertretene Theologie und Ekklesiologie, in die sich auch sein Bild vom Judentum einordnete. Dass Pacelli [...] auch als Papst noch einige Theologumena des traditionellen katholisch-religiösen Antijudaismus vertrat, beweist seine Ansprache an die Kardinäle und Bischöfe der Kurie vom 24. Dezember 1942. [...] Wörtlich sprach er von Jerusalem zur Zeit Jesu, das ‘seine Einladung und seine Gnade mit jener starren Verblendung und jenem hartnäckigen Undank beantwortet hat, die es auf den Weg der Schuld entlang bis hin zum Gottesmord (‘deicidio’) geführt haben.’ [...] – [S]eine Theologie des Judentums [kann] seit ‘Nostra aetate’ nicht mehr die unsrige sein. [...] Pacelli brachte damit nicht unbedingt das optimale Rüstzeug mit, um in der Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten als entschiedener Anwalt aller Menschen, v. a. auch der Juden, aufzutreten. [...] Der Heilige Stuhl schwieg, wohl […] aus Angst, die Katholiken würden sonst in dieselbe Schusslinie wie die Juden geraten. Statt eines völligen Bruchs mit dem Regime versuchte man im Rahmen der Möglichkeiten, karitative Hilfe zu leisten. 1938 und 1939 forderte Papst Pius XII. seine Nuntien in der freien Welt auf, bei den jeweiligen Regierungen auf eine Aufnahme von deutschen Juden hinzuwirken.“

Die Kritik an der Entscheidung Benedikts war heftig – sowohl in der christlichen als auch in der jüdischen Welt. Da hilft es wenig, wenn sich Vatikansprecher Pater Federico Lombardi am 23. Dezember 2009 beeilte zu erklären, dass die Verleihung des heroischen Tugendgrades für Papst Pius XII. kein historisches Urteil über seine Person und seine Entscheidungen bedeute, sondern vielmehr aussage, dass er die christlichen Tugenden in vorbildlicher Weise gelebt habe: ein hilfloser Versuch in meinen Augen, denn ich verstehe die Unterscheidung zwischen „historischem Urteil“ und „christlicher Tugend“ einfach nicht.

17. Januar 2010: Besuch der Großen Synagoge und der Jüdischen Gemeinde Roms

Fast ein Viertel Jahrhundert nach dem historischen Besuch Johannes Paul II. in der Großen Synagoge Roms am 13. April 1986 (s. o.) besucht Papst Benedikt XVI. die Gemeinde. Der Besuch steht unter keinem günstigen Stern. Die – wie dargestellt – vom Papst und der römischen Kurie ausgehende Verschlechterung der katholisch-jüdischen Beziehungen machte den Besuch zu einer heiklen Angelegenheit. Und dass Benedikt keinen Monat zuvor Pius XII. den heroischen Tugendgrad zuerkannt und ihn damit für die Verehrung durch die Gläubigen freigegeben hatte, wird auf jüdischer wie auf christlicher Seite als weiteres Zeichen fehlender Sensibilität wahrgenommen und als eine gewisse Unfähigkeit zum Dialog gewertet. All dies stellte den Besuch kurzfristig noch in Frage. Die jüdische Gemeinde verhielt sich nobel und höflich und lud den Eingeladenen nicht aus; die kurze Visite bei der ältesten jüdischen Gemeinde Europas fand wie geplant statt. Aber nicht nur Giuseppe Laras, Vorsitzender der italienischen Rabbinerkonferenz, blieb dem Papstbesuch in der römischen Synagoge fern. Er sieht „zahlreiche ‘Betriebsunfälle’: etwa die Frage der Karfreitagsfürbitte, die Aufhebung der Exkommunikation des Schoah-Leugners Bischof Williamson und die Lobeshymnen auf Pius XII. [...] Das brüderliche Verhältnis ist im gegenwärtigen Pontifikat immer kraftloser geworden.“

In seiner Ansprache setzte Benedikt XVI. ein deutliches Signal, wie er die Beziehungen des Christentum zum Judentum sieht. Was wir bereits zur Ansprache in der Kölner Synagoge am 19. August 2005 feststellten, gilt auch hier: Die Ansprache lässt jene theologischen essentials, mit denen Johannes Paul II. „Nostra aetate“, Kap. 4, so theologisch-innovativ weiterentwickelt hatte und die er immer neu einprägte, vermissen. Um die Besonderheit der Beziehungen auszusagen, findet der Papst keine eigenen Worte, sondern zitiert den Katechismus der Katholischen Kirche (einschließlich des dortigen Zitates von Röm 9,4-5 und 11,29).

Die Auslegung des Dekalogs steht im Zentrum seiner Ansprache in der Synagoge. Nach vielen Irritationen und Störungen durch beabsichtigte oder unbeabsichtigte Provokationen hat der Papst jetzt endlich sein Thema für den katholisch-jüdischen Dialog gefunden: nicht wie sein Vorgänger die Theologie der besonderen Beziehung des Christentums zum Judentum: ‘at eye level’, sondern die aufgrund der gemeinsamen Traditionen Christen und Juden verbindende Ethik und der daraus erwachsende gemeinsame Auftrag für die Welt:

„Mit der Ausübung der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit sind Juden und Christen dazu gerufen, das kommende Reich des Höchsten zu verkünden und von ihm Zeugnis zu geben, dafür zu beten und jeden Tag voller Hoffnung zu wirken. In diese Richtung können wir gemeinsam Schritte unternehmen im Bewusstsein der zwischen uns bestehenden Unterschiede, aber ebenso der Tatsache, dass, wenn es uns gelingt, unsere Herzen und unsere Hände zu vereinen, um auf den Ruf des Herrn zu antworten, sein Licht näher kommen wird, um alle Völker der Erde zu erleuchten.“

Auf welch bescheidenem Tiefpunkt die Beziehungen heute sind, lässt sich aus einer Äußerung des römischen Oberrabbiners Riccardo di Segni herauslesen. Di Segni, der sehr gute wechselseitige Beziehungen zu Johannes Paul II. pflegte und auch an seiner Beisetzung teilnahm, sagte auf der jüdischen US-Website „Vos Iz Neias?“ (jiddisch für: Was gibt es Neues?) am 29. Januar 2010, also kurz nach dem Papstbesuch in der Großen Synagoge von Rom:

„What we want to accomplish in each step of the process is to strongly reaffirm our principles without losing our dignity in any way. Just to say that there must be respect between one and the other; that’s it. [...] What is important in our relationship with them is that they leave us in peace and not persecute us. That’s the point.“

30. September 2010: Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Verbum Domini“

Im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Verbum Domini“ von Benedikt XVI. heißt es in Kap. 43, das die „besondere Verbindung zwischen Christen und Juden“ (ebd.) behandelt:

„Papst Johannes Paul II. hat zu den Juden gesagt: Ihr seid »unsere ‘bevorzugten Brüder’ im Glauben Abrahams, unseres Patriarchen«. Natürlich bedeuten diese Worte keine Absage an den Bruch [discidium; im lateinischen Original im Plural], von dem das Neue Testament in Bezug auf die Institutionen des Alten Testaments spricht, und erst recht nicht an die Erfüllung der Schriften im Geheimnis Jesu Christi, der als Messias und Sohn Gottes erkannt wird. Dieser tiefe und radikale Unterschied beinhaltet jedoch keineswegs eine gegenseitige Feindschaft.“

Der aufmerksame Leser erschrickt, liest er doch in Bezug auf die „Verbindung zwischen Christen und Juden“ (ebd.) die Stichworte „Bruch“ und „gegenseitige Feindschaft“. Benedikt XVI. bricht offenkundig in der Israeltheologie theologisch die Kontinuität mit seinem Vorgänger; er konterkariert regelrecht die Intention seines Vorgängers und des Konzils, wenn er vom „Bruch“ zwischen Altem und Neuem Testament spricht! Als Johannes Paul II. während seines ersten Deutschlandbesuchs am 17. November 1980 in Mainz mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der deutschen Rabbinerkonferenz zusammentraf, sagt er:

„Die erste Dimension dieses Dialogs, nämlich die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten [vgl. Röm. 11,29] Alten Bundes und dem des Neuen Bundes, ist zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel.“

Benedikts Theologie grenzt gefährlich nahe an das alte Ablösungs und Verwerfungsmodell. Welchen Grund hat Benedikt XVI., nach „Nostra aetate“ und der substantiellen Weiterentwicklung des Verhältnisses zwischen Kirche und Judentum durch seinen Vorgänger, einen solchen Bruch zu inszenieren? Eine religionswissenschaftliche These sei hier angeboten: Der Abgrenzungsbedarf zwischen Religionsgemeinschaften steigt, je näher sich diese sind, in diesem Falle: nach einer langen Zeit der Feindschaft und „Vergegnung“ (Martin Buber). Die Ecclesia hat, entsetzt über die Schoah und ihr Schweigen, in den vergangenen vierzig Jahren das Judentum als ‘Geschwister’ wiederentdeckt, und je tiefer die Begegnung geht, desto tiefer begegnet die Ecclesia dem Judentum in ihrer eigenen theologischen Suche, indem sie die gemeinsame Wurzel erkennt und dass sie bis heute – wie wäre es ohne dies überhaupt möglich?! – Kraft aus dieser gemeinsamen Wurzel empfängt (vgl. Röm 11,13-24). Man kann also über die Intensität der Abgrenzung auf die Nähe der beiden Religionen – Christentum und Judentum – schließen.

Damit haben wir die bis jetzt letzten Stationen der fortschreitenden theologischen Distanzierung vom Judentum unter dem gegenwärtigen Pontifikat erreicht und sind auf einem Tiefpunkt angelangt.

Resümee

Dass Nostra aetate, Kap. 4, einen grundstürzenden Wendepunkt im Verhältnis der Katholischen Kirche zum Judentum darstellt und dieser Neubeginn theologisch weiterentwickelt werden muss, hat die französische Bischofskonferenz schon 1973 deutlich betont:

„Man muss in der Konzilserklärung eher einen Beginn als eine Endphase sehen. Sie ist ein Wendepunkt in der christlichen Haltung zum Judentum. Sie eröffnet einen Weg [...]. Sie stellt einen Bruch zur Haltung in der Vergangenheit dar. Sie ruft die Christen zu einer neuen Einstellung zum jüdischen Volk, nicht nur auf der menschlichen Ebene, sondern auch auf der Ebene des Glaubens.“

Papst Johannes Paul II. hat diesen Neubeginn des Konzils theologisch konsequent weitergeführt und in der Praxis der Kirche verankert. Unter seinem Nachfolger dagegen sind Irritationen festzustellen und theologische Vorbehalte auszumachen. Joseph Ratzinger hat diese Weiterentwicklung der Theologie des Judentums bei Johannes Paul II. offenbar in innerer Emigration nicht mitvollzogen. Nach Ratzingers / Benedikts Theologie haben die Juden ein Heilsdefizit. Denn der Sinai-Bund ist, im Unterschied zum Abrahams-Bund, nur temporär, allein für das Volk Israel gültig. Erst im Christus-Bund ist das „Vorläufige“ des Sinai-Bundes „abgestreift“. Das Christentum dagegen ist die „Erfüllungsreligion“ des Judentums. Mit der Lehrüberlieferung „der Kirche“ hält Ratzinger / Benedikt daran fest, dass die Juden Heil nur im Bekenntnis zu Christus, dem „größeren Mose“ und einzigen Messias, erlangen können. Jesus von Nazaret habe den Anspruch erhoben, der wahre Erbe der Bibel Israels, des „Alten Testaments“, zu sein und ihm die gültige Auslegung zu geben. Juden seien also, wenn sie ihre Heiligen Schriften lesen wollen, im Grunde genommen „blind“: das alte, verhängnisvolle und letztlich überhebliche Bild der geblendeten Synagoga.

Benedikt XVI. definiert katholisches Selbstverständnis gegen die Juden. ‘Identity against’ aber ist ein Zeichen eigener Schwäche, über die brillante Inszenierungen, pontifikale Hofhaltung und gelehrte Rhetorik nicht hinwegtäuschen können. Das sind die engen Grenzen der Theologie von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI., in denen er be- und gefangen ist.

Ist das Verhältnis der Kirche zum Judentum aber nicht recht bestimmt, ist dieses Verhältnis – wie dargelegt – nachhaltig gestört, dann hat dies, weil es nach „Nostra aetate“, Kap. 4,1, dabei um die Identität der Kirche selbst geht, theologische und geistliche Folgen, die zu einer Selbstentfremdung der Kirche führen. Unter dieser Selbstentfremdung der Kirche leiden wir gerade in diesen Tagen.


© imprimatur November 2011
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