Heribert Franz Köck
Menschenrechte als Korrektiv des kirchlichen Rechts

Professor Dr. Heribert Franz Köck hat auf der 29. öffentlichen Bundesversammlung der KirchenVolksBewegung „Wir sind Kirche“ vom 25. - 27. März 2011 einen Vortrag zu diesem Thema gehalten, den wir in gekürzter Form wiedergeben. Prof. Dr. Köck ist emeritierter Professor der Johannes Kepler Universität Linz und lehrt zudem an den Universitäten Wien und Krems. Seine Schwerpunktthemen sind Völkerrecht, Europarecht und Rechtsphilosophie. Er wirkte lange Zeit als Rechtsberater und Mitglied der Ständigen Vertretung des Heiligen Stuhls bei den internationalen Organisationen in Wien und als Mitglied von Delegationen des Heiligen Stuhls bei zahlreichen internationalen Konferenzen. Seit der Gründung der Laieninitiative, Österreich 2009, ist er in dieser engagiert.

Einleitende Voraussetzungen

Das Thema „Menschenrechte als Korrektiv des kirchlichen Rechts“ setzt bereits ein bestimmtes Vorverständnis voraus: Die von den Alten auf die Formel „ubi societas ibi ius“ gebrachte Einsicht, dass eine Mehrheit von Menschen eine Ordnung erfordert, deren Grundsätze sich schon aus dem Wesen des Menschen und der Gesellschaft ergeben, zeigt, dass auch die Kirche kein rechtsfreier Raum sein kann. Das Thema anerkennt zudem, dass es Rechte des Menschen gibt, die das positive Recht nicht verletzen, also weder gänzlich vorenthalten noch in ihrem Kern beschneiden darf. Und schließlich, wenn der Vortrag das Thema nicht verfehlen soll, muss er zeigen, ob und in welcher Weise bzw. in welchen Punkten das kirchliche Recht mit den Menschenrechten auf Kriegsfuß steht und was daher geändert werden muss. Wegen seiner Rückbindung an Menschenrechte muss das kirchliche Recht ein Recht der Freiheit sein. Es hat daher die Freiheit des Einzelnen bei der Ausübung seiner Charismen zu fördern und so für die Wohlfahrt („Leben in Fülle“) des Einzelnen und der Gemeinschaft zu sorgen.

Will man aber von der kirchlichen Autorität, kurz Amtskirche genannt, „Menschenrechte in der Kirche“ einfordern, so muss dies „von innen“ geschehen, weil sie sich „nach außen“ nicht gebunden hat. Das trifft jedoch auf die Schwierigkeit, dass die Amtskirche davon ausgeht, dass das kirchliche Recht, wie es geschrieben und praktiziert wird, ohnedies den höchsten Menschenrechtsstandard verkörpert, weswegen es gar keinen Anlass gäbe, über „Menschenrechte in der Kirche“ zu diskutieren. Und schließlich liegt dem Thema die Auffassung zugrunde, dass das konkrete kirchliche Recht mit den Menschenrechten derzeit nicht (oder doch nicht völlig) vereinbar ist; andernfalls bestünde ja kein Bedarf, nach den Menschenrechten als Korrektiv des kirchlichen Rechts zu rufen.

Das Memorandum „Kirche 2011“: Ein notwendiger Aufbruch

Ich greife hierfür aus Aktualitätsgründen jene Forderungen auf, die auch im „Memorandum der deutschen Theologen und Theologinnen zur Krise der katholischen Kirche“ mit dem Titel „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“[1] enthalten sind. Diese Forderungen ergeben sich aus dem Bemühen um Behebung der gegenwärtigen Kirchenkrise; sie sind daher praktisch und nicht an irgendeinem Grundrechtskatalog ausgerichtet. Dass es dabei aber um grundlegende Freiheiten als Menschenrechte in der Kirche geht, zeigt schon der erste Teil des Memorandums, der jene Erwägungen enthält, die dann in die einzelnen Forderungspunkte münden. Arbeitet man den menschenrechtlichen Hintergrund der Forderungen des Memorandums heraus, so zeigt sich, dass sie die folgenden Grundfreiheiten betreffen: „Unbedingter Respekt vor jeder menschlichen Person, Achtung vor der Freiheit des Gewissens, Einsatz für Recht und Gerechtigkeit, Solidarität mit den Armen und Bedrängten. Das sind theologisch grundlegende Maßstäbe, die sich aus der Verpflichtung der Kirche auf das Evangelium ergeben. Darin wird die Liebe zu Gott und zum Nächsten konkret: „In der Kirche muss das Gesetz der Freiheit gelten, denn die Freiheitsbotschaft des Evangeliums bildet den Maßstab für eine glaubwürdige Kirche, für ihr Handeln und ihre Sozialgestalt. Die Kirche „hat den Auftrag, den befreienden und liebenden Gott Jesu Christi allen Menschen zu verkünden. Das kann sie nur, wenn sie selbst ein Ort und eine glaubwürdige Zeugin der Freiheitsbotschaft des Evangeliums ist. Ihr Reden und Handeln, ihre Regeln und Strukturen – ihr ganzer Umgang mit den Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche – stehen unter dem Anspruch, die Freiheit der Menschen als Geschöpfe Gottes anzuerkennen und zu fördern.“

Mit dem an sich selbstverständlichen Hinweis: „Die Kirche ist kein Selbstzweck“ legt das Memorandum den Finger auf eine schwärende Wunde, die schon so alt ist wie die kirchlichen Strukturen, die sich im Zuge des Entstehens der christlichen Großkirche herausgebildet haben, nämlich die Tendenz der Amtskirche zur Selbstidentifikation mit der Kirche schlechthin. Seit damals wurden die Freiheit der Kirche und die Freiheit in der Kirche zunehmend als Freiheit des Klerus verstanden, die keiner äußeren Kontrolle (insbesondere durch den Staat) und keiner inneren Kontrolle (insbesondere durch die Laien) unterliegen soll. Diese Tendenz hat sich durch die fortschreitende theoretische und praktische Machtkonzentration beim Papst und der römischen Kurie verstärkt, wie sie auch in den Schlagworten „ubi Petrus ibi ecclesia“ (wo Petrus, da die Kirche) und „papa omnia potest“ (der Papst kann alles) zum Ausdruck kommt. Wo aber das kirchliche Recht primär der Wahrung der Machtfülle der Kirchenleitung dient, wird die Kirche – im Papst personifiziert und so mit der Amtskirche identifiziert – tatsächlich zum Selbstzweck.

Der menschenrechtliche Hintergrund der Forderungen des Memorandums

Arbeitet man den menschenrechtlichen Hintergrund der Forderungen des Memorandums heraus, so zeigt sich, dass sie die folgenden Grundfreiheiten betreffen: Das Recht auf Respektierung der Menschenwürde als Basis aller Menschenrechte, das Recht auf einen geschwisterlichen Umgang in der Kirche, das Recht auf Mitbestimmung und das Recht auf eine würdige Teilnahme an der Feier der Eucharistie und damit jeden Versuch ausschließt, durch das Vorschreiben bestimmter Formen wie z.B. der Mundkommunion, vielleicht auch des Gebrauchs der lateinischen Sprache und überhaupt der „alten Liturgie“, neue „Gesslerhüte“ insbesondere für die Laien aufzurichten, und weiter das Recht auf Gewissensfreiheit, das Recht auf Rechtsschutz, das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung, und zwar als Recht auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften, als Recht auf Ehe und Familie auch nach einer gescheiterten Ehe, als Recht der freien geistlichen Berufswahl unabhängig von Geschlecht und Familienstand und, dazu korrespondierend, als Recht auf Ehe und Familie unabhängig vom geistlichen oder weltlichen Beruf.

Amtskirchlicher Widerspruch gegen das „Memorandum“ und Diskussionsverweigerung

Nun ist es im Rahmen des Vortrags nicht möglich, hinsichtlich all dieser Punkte zu zeigen, in welcher Weise das kirchliche Recht im Argen liegt. Ich beschränke mich daher gerade auf jene Punkte, die vor allem von Seiten der Amtskirche am meisten Anstoß erregt haben. Um hier nicht im Allgemeinen zu bleiben, greife ich besonders prominente Äußerungen heraus, die zumindest den Anschein für sich in Anspruch nehmen können, der Versuch einer seriösen Auseinandersetzung mit dem hier in Rede stehenden Memorandum von Theologieprofessoren und -professorinnen zur Krise der katholischen Kirche zu sein, nämlich auf den Beitrag des früheren Vorsitzenden des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Kardinal Walter Kasper, in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mit dem Titel „Kommen wir zur Sache!“ und auf die Ausführungen des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, in der Zeitung "Die Welt" unter dem Titel „Was braucht die Kirche in Deutschland?“

Am meisten Anstoß erregt die Forderung nach Abschaffung des Pflichtzölibats. Kasper gesteht zu, dass „der Zölibat…nicht erst heute ein heißes Eisen ist.“ Der Pflichtzölibat sei aber seit vierzig Jahren „international exegetisch wie historisch mit Ergebnissen diskutiert worden, die es seriöserweise nicht mehr erlauben, die alten Argumente einfach zu wiederholen. Nicht weniger als drei Weltbischofssynoden haben sich mit dem Thema befasst und jeweils mit überwältigender Mehrheit für die Beibehaltung der priesterlichen Ehelosigkeit votiert.“ Daher fordert Kasper Schluss der Debatte: „Wenn man, wie es zu Recht geschieht, eine andere innerkirchliche Rechtskultur verlangt, dann gehört dazu auch, dass man keine lähmende Dauerdiskussion führt, sondern Entscheidungen auch dann anerkennt, wenn man selbst eine andere Lösung bevorzugt hätte.“

Diese Argumente Kaspers sind aus mehreren Gründen unzutreffend. Dass sich die Beibehaltung des Pflichtzölibats auf seriöse exegetische wie historische Argumente stützen kann, ist eine bloße Behauptung Kaspers, deren Richtigkeit erst diskutiert werden müsste. Da es (zumindest auch) seriöse Untersuchungen gibt, die zum Schluss kommen, dass der Pflichtzölibat nicht aufrecht erhalten werden darf, stützt sich Kasper hier wohl vor allem auf die exegetischen und historischen Ergebnisse aus dem Dunstkreis des Vatikans. Bedenkt man, dass Kardinal Brandmüller, der Autor des gegen die Forderung einer Reihe von CDU-Politikern auf Zulassung von viri probati (in Glauben und Leben bewährte Männer) gerichteten pamphlethaften offenen Briefes, für dessen Ton sich der langjährige Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, in einer öffentlichen Erklärung geschämt hat, früher Präsident der Historischen Kommission des Vatikans war und sogar als „Chefhistoriker“ des Vatikans gehandelt wird, kann man sich vorstellen, wie seriös die dortigen exegetischen und historischen Ergebnisse sind.

Auch kann der von Kasper angeführte Umstand, dass „nicht weniger als drei Weltbischofssynoden…sich mit dem Thema befasst und jeweils mit überwältigender Mehrheit für die Beibehaltung der priesterlichen Ehelosigkeit votiert haben“, nicht als Ausdruck der wirklichen Auffassung der Weltkirche angesehen werden, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen sind Bischöfe – bei der gegenwärtigen Art und Weise der Bischofsbestellung, bei der die Ortskirche nicht nur kein entscheidendes, sondern in der Regel überhaupt kein Mitspracherecht hat – zwar legale, aber keine legitimen Vertreter ihrer Ortskirchen. Sie können nur als verlängerter Arm des Papstes bzw. der römischen Kurie angesehen werden („römische Vögte“). Es fehlt ihnen daher die formale Legitimation, für ihre Ortskirchen zu sprechen, und ihre gemeinsame Meinung kann daher nicht als legitimer Ausdruck der Meinung der Gesamtkirche angesehen werden. Zum anderen geben – aus demselben Grund – die Bischöfe nicht die Meinung ihrer Ortkirchen wieder, sondern wiederholen zumindest offiziell bloß das, was ihnen von Rom vorgegeben wird. Meist sind sie aber durch ein Studium in Rom auch entsprechend indoktriniert; und ein Studium in Rom ist heute schon fast Voraussetzung für die Ernennung zum Bischof. Ihre Meinung ist daher für die Gesamtkirche nicht repräsentativ, denn sie repräsentieren nicht den Glauben der Gesamtkirche, sondern geben nur die quasi-amtliche („kuriale“) römische Theologie wieder. Damit fehlt es auch an der materiellen Legitimation. Und schließlich sind die Bischöfe, die von Rom jederzeit abgesetzt werden können und im Ernstfall auch werden, im Falle mangelnder Linientreue jedenfalls mit der päpstlichen „Ungnade“ (welche, wie jeder, der das gegenwärtige System kennt, weiß, die verschiedensten Formen annehmen kann) rechnen müssen, in ihren Entscheidungen nicht frei. Der Umstand, dass „nicht weniger als drei Weltbischofssynoden…sich mit dem Thema und jeweils mit überwältigender Mehrheit für die Beibehaltung der priesterlichen Ehelosigkeit votiert haben“, ist daher weder formell noch inhaltlich geeignet, die Diskussion über den Pflichtzölibat zu beenden.

Die Auffassung Kaspers ist aber auch grundsätzlich verfehlt. In Fragen der Menschenrechte ist nämlich weder eine gesetzliche noch eine administrative Entscheidung geeignet, die Diskussion (den Dialog) zu beenden. So hat die Kirche die Sklaverei bis in die Neuzeit hinein theoretisch gerechtfertigt und bis ins 19. Jh. hinein praktisch toleriert sowie fast 2000 Jahre lang die Todesstrafe verteidigt, letztere im Kirchenstaat selbst ganz selbstverständlich geübt, selbst im „Katechismus der Katholischen Kirche“…in einer ersten Ausgabe das Recht des Staates auf die Vollstreckung der Todesstrafe nicht prinzipiell hinterfragt, und selbst in der zweiten Ausgabe diese Passage nur einschränkend revidiert. Kasper würde sich nicht unterfangen, im Zusammenhang mit den ebenso langen innerkirchlichen Forderungen nach Abschaffung der Sklaverei oder der Todesstrafe von einer „lähmenden Dauerdiskussion“ zu sprechen und die Behauptung aufzustellen, in Fragen der Sklaverei oder der Todesstrafe wären deren Gegner verpflichtet gewesen, Entscheidungen zur Aufrechterhaltung dieser Rechtsinstitute auch dann anzuerkennen, wenn sie selbst eine andere Lösung bevorzugt hätten. In Fragen der Menschenrechte kann also der Grundsatz „Roma locuta, causa finita“ (Rom hat gesprochen, die Sache ist entschieden) nicht gelten; der Umstand, dass die Amtskirche mehrfach entschieden hat, dass es beim Pflichtzölibat bleibt, ist insoweit irrelevant.

Die Zölibatskrise sei eine Folge der Gotteskrise, so wie auch die Gläubigen- und Gemeindekrise: „Der Zölibat lasst sich nur begründen, wenn ich als Priester alles auf eine Karte setze. In jedem anderen Fall muss man die priesterliche Ehelosigkeit für verrückt erklären“. Die Gotteskrise sei der wirkliche Grund dessen, „was man den Priestermangel nennt. Radikal kann ich nur die Lösung nennen, die an dieser radix, an dieser Wurzel, ansetzt, und sich, statt oberflächlich an der Stellschraube Zölibat zu drehen, für eine radikale Erneuerung des Glaubens einsetzt.“ Hier zeigt sich das eigentliche Missverständnis, dem Kasper und die gesamte Amtskirche erliegen. Sie betrachtet die Wahl des Familienstandes und des priesterlichen Berufes als eine Frage des Willens. Danach muss man nur alles auf die Karte Gott und sein Reich setzen, und der zölibatäre Priesterstand wird einem dann hinzugegeben werden. Diese voluntaristische Auffassung ist verfehlt. Tatsächlich ist nämlich die Wahl des Familienstandes und des priesterlichen Berufes eine Frage der entsprechenden Berufung: nicht wir berufen uns, Gott ruft uns.

Wenn aber Gott dem einen die Berufung zum Priestertum mit der Berufung zum Zölibat, dem anderen aber die Berufung zum Priestertum mit der Berufung zu Ehe und Familie verleiht, dann tut der erste recht daran, zölibatär zu leben, der andere aber, sich zu verheiraten. Und die Kirche hat kein Recht, die eine Berufung zu ignorieren, wenn sie nicht mit einer bestimmten anderen Hand in Hand geht. Das ist genau der Punkt, warum der Pflichtzölibat für Priester menschenrechtswidrig ist.

Auch Kasper weiß, dass man den Theologinnen und Theologen, deren Memorandum mittlerweile allgemein bekannt ist, kein Bußschweigen auferlegen kann, ohne einen öffentlichen Skandal zu erregen und die öffentliche Meinung gegen die Amtskirche aufzubringen. Er beruft sich daher auf kein kirchliches Verbot, sondern versucht, das Memorandum abzuwerten und so jene, die es verfasst oder unterstützt haben, in ein schiefes Licht und letztlich zum Schweigen zu bringen: „Ich muss aber offen sagen, dass mich das Memorandum maßlos enttäuscht hat. Es hat mich deshalb enttäuscht, weil ich mir von Theologen mehr erwartet hätte, nämlich einen substantiellen theologischen Beitrag. Den brauchen wir, aber den finde ich in dem Memorandum nicht.“

In dieselbe Kerbe schlägt Zollitsch, wenn er „dringenden Anlass für die Frage“ sieht, „ob in der notwendigen Auseinandersetzung über die künftige Gestalt der Kirche die zentralen Probleme in ihrer Tiefe begriffen werden und die Grundperspektive für eine Erneuerung der Kirche ausreichend bedacht wird. Letztlich muss es darum gehen, wie die Frage nach Gott in unserer Gesellschaft wach gehalten und die christliche Antwort überzeugend formuliert und vor allem gelebt werden kann. Reformvorschläge ebenso wie das Beharren auf einer bestimmten Praxis sind danach zu beurteilen, ob sie dieser Perspektive gerecht werden.“ Und auch Zollitsch geht davon aus, dass „der Dialog… nur gelingen kann, wenn er zu einem fundamental geistlichen Geschehen wird, in dem die Kirche sich neu ihrer Mitte vergewissert. Es geht um Gott und seine Offenbarung in dieser Welt.“ Hier handelt es sich ganz offenbar um eine von Rom erwartete Fingerübung zu einem Problem, das gar nicht existiert, aber von der Amtskirche als Popanz aufgebaut wird, um vom eigentlichen Problem – der dringend anstehenden Kirchenreform – abzulenken. Wie kann man den Verfassern eines Memorandums unterstellen, es ginge ihnen nicht „um Gott und seine Offenbarung in dieser Welt“, wenn es in eben diesem Memorandum heißt: „Sie (die Kirche) hat den Auftrag, den befreienden und liebenden Gott Jesu Christi allen Menschen zu verkünden“?

Lehren

Welche Lehren können wir für unser Thema aus dieser Debatte ziehen?

Die erste Lehre ist, dass die Amtskirche bisher nicht bereit ist, auch nur in einen Dialog über „Menschenrechte in der Kirche“ einzutreten. Das hat einen psychologischen und einen doktrinellen Grund; und beide Gründe scheinen auch heute noch nicht nur für die Amtskirche, sondern auch für viele andere Mitglieder der Kirche stichhaltig zu sein.

Der psychologische Grund liegt in der Unerträglichkeit der Vorstellung, die Kirche Jesu Christi könne sich soweit vom Auftrag ihres Herrn entfernt haben, dass sie sogar in ihrem inneren Bereich die Menschenrechte verletzt. Die Vorstellung erscheint auch als undenkbar, weil die Amtskirche nicht müde wird zu betonen, dass die Menschenrechte ja eine christliche Wurzel haben. Daraus wird geschlossen, dass die Menschenrechte in der Kirche früher „entdeckt“ wurden und in ihr besser aufgehoben sind, als in der weltlichen Gesellschaft und ihren Organisationsformen, dem Staat und der internationalen Gemeinschaft. Dass die Amtskirche noch im 19. Jh. grundlegende Menschenrechte wie Glaubens- und Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit oder politische Mitbestimmung als unsinnig abgetan hat, wird von ihr heute teils verschwiegen, teils als zeitbedingt beschönigt und ist beim Kirchenvolk praktisch unbekannt.

Der doktrinelle Grund ist die vor allem früher oft vertretene Behauptung, dass das kirchliche Recht schon deswegen nicht menschenrechtswidrig sein könne, weil es Christus nicht zulassen kann, dass in der Kirche etwas geboten oder verboten ist, was gegen das Naturrecht verstößt. Damit sei das kirchliche Recht in seiner jeweiligen Form schon dadurch auch gut, weil es ist. Die daraus gezogene allgemeine Konklusion „Was ist, kann sein“ korrespondiert der Maxime, „dass nicht sein kann, was nicht sein darf“. Eine solche Behauptung ist fürs erste geeignet, selbst in theologischen und kanonistischen Kreisen Verwirrung zu stiften. Ihr liegt aber eine petitio principii zugrunde, weil sie voraussetzt, dass das kirchliche Recht auf jeden Fall verbindlich ist. Diese petitio principii ist aber bloß Ausfluss eines positivistischen Rechtsdenkens, wie es sich leider in der Kirche mehr und mehr breit gemacht hat, obwohl es theologisch auf den Nominalismus zurückgeht, jene sog. via moderna des Spätmittelalters, die zur Reformation beigetragen hat und die daher innerkirchlich spätestens mit dem Konzil von Trient (1545-63) als überwunden angesehen wurde. Die sog. Scholastik der Neuzeit, wie sie im 15. Jh. von der Schule von Salamanca auf der Grundlage der „Summa theologiae“ des Thomas von Aquin begründet wurde und im 16. Jh. auch von Coimbra und Rom aus verbreitet wurde, hat einen solchen kirchenrechtlichen Positivismus nicht gekannt. Der Gründer der Schule von Salamanca, Francisco de Vitoria, kann daher noch ganz unbefangen feststellen: „Ungerechte Gesetze – auch die des Papstes [sic!] – sind nicht verbindlich.“

Der Versuch der Amtskirche, die Diskussion über „Menschenrechte in der Kirche“ abzuwürgen, bevor sie noch richtig begonnen hat, kommt bei Kasper deutlich zum Ausdruck, wenn er den Unterstützern des Memorandums zuruft: „Kommen wir zur Sache!“ Das heißt doch nichts anderes als „Reden wir von etwas Anderem!“ Dieser Zuruf ist nicht nur unbegründet, weil die Verfasser und Unterstützer des Memorandums durchaus „zur Sache gekommen“ sind. Der Zuruf „Kommen wir zur Sache“ stellt auch eine Anmaßung dar, weil sie unterstellt, dass das, was die Verfasser und Unterstützer des Memorandums bewegt, nicht der Rede wert ist. Das erinnert mich an ein eigenes Erlebnis, das jetzt schon mehrt als dreißig Jahre zurückliegt. Als ein mir wohlbekannter vatikanischer Diplomat zum Titularerzbischof erhoben und zum Nuntius ernannt wurde, habe ich beim Abschiedsgespräch zu ihm gesagt: „Exzellenz, die Kirche muss die Menschen dort abholen, wo sie ihre Probleme haben.“ Darauf hat er geantwortet: „Herr Professor, die Leute haben die falschen Probleme.“

Die Diskussion über die Kirchenreform muss daher heute vorrangig eine Diskussion um „Menschenrechte in der Kirche“ sein, weil mit der Gewährung oder Vorenthaltung dieser Menschenrechte die Kirchenreform und damit die Glaubwürdigkeit der Kirche in der Welt steht und fällt. Ich gebe ein letztes Beispiel. Im Memorandum wird die Forderung nach der Weihe von viri probati und die Zulassung von Frauen zum Priesteramt mit den Bedürfnissen der Gemeinden begründet: Die Kirche braucht auch verheiratete Priester und Frauen im kirchlichen Amt.“ Kasper nimmt das zum Anlass, um die Frage zu stellen, „wie es sein kann, dass es der deutschen katholischen Theologenschaft offenbar verborgen geblieben ist, dass Kirchen, die diese Forderungen längst erfüllt haben, gerade deswegen in einer viel tieferen Krise stecken als die katholische Kirche in Deutschland; viele stehen am Rande der Spaltung oder haben sich bereits gespalten.“ „Und bei aller Freundschaft und Hochachtung vor den evangelischen Kirchen in unserem Land, die alle diese Forderungen gleichfalls längst erfüllt haben, darf man doch fragen, ob sie denn besser dastehen, wenn es um die alles entscheidende Frage geht: die Bezeugung des Glaubens in der Welt von heute.“

Das ist natürlich erstens eine unfreundliche, zweitens vielleicht auch eine nicht gut belegte und drittens sicherlich eine irrelevante Bemerkung; irrelevant, weil auch Kasper nicht annehmen kann, dass die volle Gewährung der Menschenrechte in der Kirche für die „Bezeugung des Glaubens in der Welt von heute“ abträglich ist. Selbst wenn also Kaspers Bemerkung gut belegt wäre, würde doch der von ihm dafür ins Treffen geführte Grund der falsche sein. Aber man sieht: über die pastoralen Auswirkungen der notwendigen Reformen lässt sich trefflich streiten. Mit derartigen Argumenten kann man die amtskirchliche Position nicht aus den Angeln heben; jedenfalls dann nicht, wenn sich die Amtkirche gar nicht auf den im Memorandum geforderten seriösen Dialog[2] einlässt. Daher muss die Diskussion immer wieder auf die menschenrechtliche Ebene gezogen werden. Um beim Beispiel „Pflichtzölibat“ zu bleiben: Es muss gezeigt werden, dass der Pflichtzölibat gegen das Recht auf freie Wahl des Familienstandes und gegen das Recht auf freie Berufswahl verstößt, und dass er darum selbst dann sofort abgeschafft werden müsste, wenn wir einen Überfluss an Priesterberufungen hätten. Gleiches gilt für die Zulassung von Frauen zum Priestertum, weil mit der Diskriminierung der Frau ganz grundsätzlich Schluss gemacht werden muss.

Ich weiß aus Gesprächen mit Bischöfen und Kardinälen, dass selbst Gutwillige unter ihnen diesen menschenrechtlichen Aspekt bis heute nicht wirklich erkannt, jedenfalls noch nicht an sich herangelassen haben. Hier ist noch viel Arbeit im Bereich der Bewusstseinsbildung zu leisten.


© imprimatur November 2011
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[1]Veröffentlicht am 4. Februar 2011. Siehe den Text u.a. in: http://www.memorandum-freiheit.de/
[2]„Der begonnene kirchliche Dialogprozess kann zu Befreiung und Aufbruch führen, wenn alle Beteiligten bereit sind, die drängenden Fragen anzugehen. Es gilt, im freien und fairen Austausch von Argumenten nach Lösungen zu suchen, die die Kirche aus ihrer lähmenden Selbstbeschäftigung herausführen. Dem Sturm des letzten Jahres darf keine Ruhe folgen! In der gegenwärtigen Lage könnte das nur Grabesruhe sein. Angst war noch nie ein guter Ratgeber in Zeiten der Krise. Christinnen und Christen sind vom Evangelium dazu aufgefordert, mit Mut in die Zukunft zu blicken und – auf Jesu Wort hin – wie Petrus übers Wasser zu gehen: ‚Warum habt ihr solche Angst? Ist euer Glaube so klein?’“ Memorandum von Theologieprofessoren und -professorinnen zur Krise der katholischen Kirche, Schlussfolgerung.