Der Einsiedler Abt Martin Werlen hat am 14. Mai in einer Benediktiner-Hochschule in Indiana/USA den Verlust der prophetischen Dimension in der Kirche kritisiert sowie ihre Sprachlosigkeit bezüglich mancher Herausforderung unserer Zeit. Er verteidigte die Bischofswahl mit Mitwirkungsrecht in einigen Schweizer Diözesen. Und er kritisierte die allzu enge Interpretation des Apostelkollegiums als maßgeblich für die Zulassung zu kirchlichen Ämtern.
Die prophetische Dimension des Zweiten Vatikanum sei in der Kirche heute verloren
gegangen, sagt Werlen in seinem auf englisch gehaltenen Vortrag. Es habe zwar
seither weitere wirklich prophetische Dokumente gegeben, etwa die Enzyklika
"Populorum progressio" von Paul VI. oder das apostolische Schreiben
"Novo millennio
ineunte" von Johannes Paul II. Doch man habe vergessen, dass "Lumen
gentium" schreibe, dass Christus nicht nur durch die Hierarchie, sondern
auch durch die Laien prophetisch wirke (Nr. 35).
Die westliche Kirche sei in der Gefahr einer Über-Institutionalisierung. "Es ist nicht die Berufung der Kirche, Systeme oder Machtpositionen zu verteidigen", sagte der Abt. Es sei auch nicht ihre Berufung, eine Parallelgesellschaft zu bilden. Die Berufung der Kirche sei es, Sauerteig in der Gesellschaft zu sein: "Das Ohr an Gottes Herz, die Hand am Puls der Zeit."
"Evangelium und lebendige Tradition"
Werlen verweist auf die Worte Johannes Pauls II., der in "Novo millennio ineunte" (Nr. 1) schreibt: Berufung der Kirche sei es, "dankbar der Vergangenheit zu gedenken, leidenschaftlich die Gegenwart zu leben und uns vertrauensvoll der Zukunft zu öffnen". Wo ist dieser Enthusiasmus heute?, fragt der Abt, wo das Vertrauen?
"Zumindest in Europa vermissen wir es wirklich", erklärt Werlen, ebenso in den Dokumenten aus Rom. Die prophetische Dimension sei nichts Neues, und der Abt zitiert erneut "Novo millennio ineunte" (Nr. 29): "Das Programm liegt schon vor: Seit jeher besteht es, zusammengestellt vom Evangelium und von der lebendigen Tradition." Zu dieser lebendigen Tradition gehöre das Zweite Vatikanum und seine klare Forderung nach einer Liturgiereform.
"Good news" auch für Frauen, auch für Geschiedene
"Wie ist es möglich, dass wir als Kirche sprachlos sind in so vielen Herausforderungen unserer Zeit?", fragt der Abt. Das Evangelium sei nicht bloß "Good news" für vergangene Zeiten, sondern für unsere Zeit. "Auch für Frauen, auch für Geschiedene und Wiederverheiratete, auch für Sünder - besonders für Sünder!"
Benedikt XVI. habe im August 2005, angesprochen auf den Umgang der Kirche mit Geschiedenen und Wiederverheirateten, zugegeben, dass die Antwort der Kirche darauf ungenügend sei. "Doch was geschah seither?", fragt er. "Ist es eine Überraschung, wenn die Menschen unserer Zeit uns nicht mehr für kompetent und vertrauenswürdig halten in solchen Angelegenheiten?"
Mutige Kirche der Apostelgeschichte
"Ich bin überzeugt: Die Treue zum Evangelium und zur lebendigen Tradition öffnet Wege in die Zukunft." Er bezog sich auf Matthias, dessen Tag am Tag seines Vortrags gefeiert wurde. Die junge Kirche habe mutig entschieden, die Lücke unter den Zwölf, die durch den Suizid des Judas entstanden war, mit Matthias zu schließen - obwohl die übrigen Apostel ausschließlich von Jesus selber berufen worden waren. Später habe die Kirche gewagt, mehr als zwölf Bischöfe zu haben, und zwar nicht nur Fischer.
Werlen berief sich weiter auf Johannes Chrysostomos, der betont habe, dass Petrus die Wahl nicht alleine getroffen, sondern der Gesamtheit der Jünger überlassen habe. Er fand es erstaunlich, dass das Kirchenrecht die übliche Praxis bei der Bestellung der Bischöfe nicht rechtfertige. Hingegen müssten einige Bistümer in der Schweiz ihre Praxis rechtfertigen, wenn alle getauften und gefirmten Katholiken in den Prozess der Wahl eines neuen Bischofs involviert seien. Die Schweizer Katholiken seien in dieser Hinsicht keineswegs Häretiker. Sie hätten die Bibel, Johannes Chrysostomus und die benediktinische Tradition, wonach der Abt von der Gemeinschaft gewählt wird, auf ihrer Seite.
Die Jungen anhören, Kritik sorgfältig bedenken
Der heilige Benedikt habe viel zu sagen über die vergessene prophetische Dimension: Er war überzeugt, dass Gott gerne durch die unscheinbaren Personen spricht. Deshalb sei es benediktinische Art zu leiten, indem man besonders auf jene achtet, von denen wir nichts erwarten. Gerade in den wichtigen Angelegenheiten müssten die Jungen angehört werden. Einige neu ernannte Kardinäle hingegen seien über 90 Jahre alt. "Vielleicht müssen wir uns nicht mit wichtigen Angelegenheiten beschäftigen... Oder vielleicht ist das der Grund dafür, warum die prophetische Dimension in der Kirche eine vergessene Dimension ist."
Der heilige Benedikt betone auch, der Abt solle, wenn ein Gast etwas kritisiere, die Angelegenheit sorgfältig bedenken. Denn Gott könnte ihn gerade deswegen geschickt haben. "Das ist nicht die Art, in der wir gewöhnlich mit Kritikern umgehen. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass die prophetische Dimension eine vergessene Dimension ist."
(Martin Werlen ist Abt von Einsiedeln)
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