Zum frühen Islam |
Die allein gültige Vernunft |
Weithin wird innerhalb des Islam, in der Islamwissenschaft und auch in allen Materialien, die im Internet wie auch für den islamischen Religionsunterricht verwendet werden, die immer gleiche Geschichte über die Entstehung des Islam erzählt. Er wird zurückgeführt auf den arabischen Propheten Mohammed, der von 570 bis 632 in Mekka und Medina gewirkt hat. Die Rede ist von einer islamischen Expansion nach dem Tod Mohammeds, wodurch in kurzer Zeit ein weiträumiges islamisches Großreich entstand.
Dabei gibt es hierfür keinerlei historische Belege. Alle Elemente der Anfangserzählungen sind islamischer Literatur entnommen, die erst im 9. und 10. Jahrhundert, also zwei- bis dreihundert Jahre nach den behaupteten Ereignissen, niedergeschrieben wurde.
Nach einigen vereinzelten Beiträgen im 19. und 20. Jahrhundert gibt es in den letzten Jahren immer mehr kritische Stimmen, die fordern, die Frühgeschichte des Islam mittels zeitgenössischer Quellen zu untersuchen, darüber hinaus auch den Koran mit den Methoden der historisch-kritischen Exegese zu analysieren.
Der evangelische Theologe Andreas Goetze hat diese aufgegriffen und auf dieser Grundlage eine kritische Darstellung der damaligen Entwicklungen versucht unter dem Titel: „Religion fällt nicht vom Himmel. Die ersten Jahrhunderte des Islams“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2011, 491 Seiten (davon 380 Seiten Text). In sieben Kapiteln werden die damaligen Kontexte im großsyrischen Raum dargelegt und der entstehende Islam und der Koran in diese eingeordnet. Statt einer Rezension soll der Autor selbst zu seinen Absichten kurz zu Wort kommen.
Leseprobe (S. 45-47)
„Mit diesem Buch verfolge ich zwei Ziele: Ich möchte einerseits einen Überblick geben über das Denken und den Glauben der ,Kirche des Ostens’, also der Christen im Großraum Syrien, die in der westlichen Kirchengeschichte und damit in der Wahrnehmung im abendländischen Bewusstsein bis heute kaum Platz gefunden haben. Ihre Theologie und ihr Verständnis von Jesus Christus können für das innerchristliche Gespräch über die Bedeutung von Jesus Christus und seines Erlösungswerkes wichtige Impulse geben.
Andererseits möchte ich mich auf dem Hintergrund der ,Kirche des Ostens’
und damit des sozio-politischen und vor allem des religiösen Kontextes
auf Grundlage zeitgenössischer Quellen, Inschriften, Ausgrabungen und Münzfunden
der frühislamischen Geschichte des 4.-9. Jahrunderts in historisch-kritischer
Perspektive nähern.
Beide Bereiche werfen erst gemeinsam en Licht auf die Anfänge des Islams
und die christlich-muslimischen Bewegungen. ...
Die Arbeit an diesem Thema (der frühen Islamgeschichte) hat mir durch die Sichtung immer weiterer Materialien und durch die Zusammenführung verschiedener Forschungsergebnisse mehr und mehr gezeigt, dass sich eine historisch-kritische Annäherung an die Anfangszeit des Islams von der traditionellen Überlieferung und dem vorherrschenden Bild über die Entstehung des Islams unterscheidet. Durch zahlreiche Gespräche ist mir bewusst geworden, wie sehr die einzelnen ,Wissenschaftshäuser’ für sich arbeiten. Um nur einige zu nennen: Vom ,Haus der (westlichen) Theologie’ findet kaum jemand zum ,Haus der orientalischen Kirchen’, vom ,Haus der Arabistik’ findet kaum jemand zum ,Haus der Aramaistik’ und von dort aus kaum einer zum ,Haus der Islamwissenschaften’, vom ,Haus der Numismatik’ findet kaum jemand zum ,Haus der Geschichte’. ...
Dieses Buch ist der Versuch, die verschiedenen Häuser miteinander in ein Gespräch zu bringen und ihre Forschungsergebnisse aufeinander zu beziehen. In sieben Schritten möchte ich diesen Weg beschreiten. Zunächst ist es (Kapitel 1) wichtig, die gesellschaftspolitischen und religiös-kulturellen Verhältnisse auf der arabischen Halbinsel sowie im Großraum Syrien zu beschreiben und die konfessionellen Entwicklungen des Christentums in dieser Region generell in den Blick zu nehmen. Dann möchte ich (Kapitel 2) einen Blick auf die Theologie und das Selbstverständnis des sich nach Osten ausbreitenden syrischen Christentums werfen, das sich anders, aber nicht weniger tiefgreifend als das westliche Denken, mit ... Jesus Christus befasst hat.
Dieses ostsyrische Christentum hat durch seine Missionsarbeit auch die arabischen Stämme erreicht. Zieht man (Kapitel 3) nicht-islamische Quellen, numismatische und archäologische Funde sowie Inschriftenfunde zurate, weist die historisch-kritische Spurensuche darauf hin, dass weniger Mekka als vielmehr al-Hira Ausgangspunkt einer arabisch(en) Bewegung gewesen sein könnte, die von diesem ostsyrischen Christentum beeinflusst war. Die unterschiedlichen christologischen Überzeugungen jener Zeit und ihre politischen Umsetzungsversuche mündeten dann in eine innerchristliche Auseinandersetzung um das rechte Christusbekenntnis (Kapitel 4). Schließlich stehen (Kapitel 5) Fragen nach den Übergängen vom Christentum zum Islam im Mittelpunkt der Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung der Entstehung des Qur’ans, dem Verständnis der Suren und ihres Deutungsrahmens sowie der Muhammad-Biographien (Kapitel 6). In einem abschließenden Ausblick (Kapitel 7) soll den unterschiedlichen Auffassungen üer den Geist Gottes und seiner Wirkung in der Geschichte nachgegangen werden ...
Wenn das gemeinsame geistige Erbe wieder stärker in den Mittelpunkt rückt, so die These des Buches, fällt auf die Zeit des 4.-9. Jahrhunderts ein anderes Licht. Die Geschichte der jüdisch-christlich-islamischen Begegnungen ist damit von Anfang an enger verwoben, als es bisher den Anschein hatte. ... Letztendlich fordert die historisch-kritische Herangehensweise zu einer offenen ,Geisteshaltung’ heraus und dazu, die ,Wahrheit’ der eigenen Religion nicht nur in Dogmen oder durch politische Macht zu ,beweisen’, sondern anhand ihrer ,Bewährung’ im alltäglichen Vollzug. Oder, um es mit den Worten des Juden Jesus, den die Christen als Messias bekennen und die Muslime als Propheten achten, zu sagen: ,An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen’ (Mt. 7,26).“
Zurück zur Auswahl Karl-Heinz Ohlig
Die allein gültige Vernunft
Zu: Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth.
Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg, Basel,
Wien o.J. (2011), 366 Seiten, davon 318 Seiten Text, 48 Seiten Literaturhinweise
und „Anhang des Verlags“
Der erste Teil von „Jesus von Nazareth“ ist 2007 erschienen und behandelte den Komplex „Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung“ (vgl. dazu die Rezension in: imprimatur 40, 147-149; (II) ebd. 193-195); folgen soll noch ein dritter, faszikelartiger Teil, der auf die Kindheitsgeschichten eingeht.
In diesem zweiten Buch werden nach einem Vorwort die letzten Tage Jesu in neun Kapiteln verhandelt: 1. Einzug in Jerusalem und Tempelreinigung, 2. Die eschatologische Rede Jesu, 3. Die Fuss(ß)waschung, 4. Das Hohepriesterliche Gebet Jesu, 5. Das letzte Abendmahl, 6. Gethsemani, 7. Der Prozess Jesu, 8. Kreuzigung und Grablegung Jesu, 9. Die Auferstehung Jesu aus dem Tod. Abgeschlossen wird das Buch durch einen „Ausblick“ zur Himmelfahrt, zum Sitzen zur Rechten des Vaters und zur Wiederkunft.
Dieses Buch ist nicht leicht zu rezensieren. Warum? Es ist ein Dokument einer tiefen persönlichen Frömmigkeit des Verfassers, die ganz in der im Katholizismus ererbten theologischen Tradition steht. Es ist das Ergebnis von lebenslangen theologischen Reflexionen und Meditationen auf der Basis von Altem und Neuem Testament sowie der späteren kirchlichen Tradition. Es ist sehr gut formuliert, manche Bezüge und Überlegungen, die in ihm vorgestellt werden, sind durchaus bedenkenswert.
Fromme Literatur zu diesem Thema gibt es in nicht unbeträchtlicher Zahl, und man könnte das Buch in diese Reihe einordnen und auf sich beruhen lassen. Aber zum einen ist der Autor zugleich noch Papst, und somit ist eine weltweite autoritative Verbreitung des Buchs garantiert, zum anderen erhebt der Verfasser den Anspruch, „einen methodisch neuen Schritt (zu) tun“, der über die „historisch-kritische Auslegung in 200 Jahren exegetischer Arbeit“ hinausführt; letztere sei in Gefahr, nur „immer neue Hypothesen“ hervorzubringen und „theologisch belanglos“ zu werden, weil sie halt nur eine „historisch bedingte Art von Vernünftigkeit“, „nicht Ausdruck der allein gültigen und endgültig zu sich gekommenen Vernunft“ sei (11).
In Bezug auf die Diskussion um Jesus ergibt sich von daher sein Programm: „Ein wenig übertreibend könnte man sagen, ich wollte den realen Jesus finden ... Der ‚historische Jesus’, wie er im Hauptstrom der kritischen Exegese aufgrund ihrer hermeneutischen Voraussetzungen erscheint, ist inhaltlich zu dürftig, als dass von ihm große geschichtliche Wirkungen hätten ausgehen können ...“ (13)
Ja, das ist ein Problem: Die historisch-kritische Forschung führt uns zu dem jüdischen Wanderprediger Jesus, der nach einer kurzen Phase des öffentlichen Auftretens in jungen Jahren hingerichtet wurde. Dies ist natürlich, gemessen an der Schönheit und der Wucht der späteren, vor allem hellenistischen, aber auch der darauf aufbauenden lateinischen Christologie, ein wenig „dürftig“. Und es macht alle, die sich damit auseinandersetzen, nicht nur Theologen, sondern mittlerweile auch vielen „Laien“ Schwierigkeiten, die Armutsgestalt Jesu mit dem späteren Mythos zu vereinbaren.
Nun besteht das Christentum darin, an Jesus zu glauben und ihm nachzufolgen. Deswegen ist es schon notwendig, Wege aufzuzeigen, wie und aus welchen Gründen Jesus als zentrale Orientierungsgestalt behauptet werden kann, und zugleich nachvollziehbar zu machen, wie er im Bekenntnis zum Christus und „Gottessohn“ werden konnte. Das zu versuchen, wäre für viele eine Hilfe gewesen. Und dabei hätte durchaus auch eine Reihe von Aspekten, die durch die historisch-kritische Exegese für die Gestalt Jesu einigermaßen gesichert sind, weiter führen können.
Hilfe aber kann es nur geben, wenn die „Vernünftigkeit“ dieser Forschung nicht beiseite geschoben wird, anders kann die Volte zum „realen Jesus“ nicht gelingen. Das Programm des päpstlichen Jesusbuchs ist aber, wie auch schon der erste Teil, gänzlich anders. Das Buch zeichnet die letzten Tage Jesu nach, wie er, wissend um seinen Tod als Sühneopfer für die vielen (oder alle) und seine Auferstehung, alles für uns auf sich nahm, er, „der fleischgewordene Gott“. Das Johannesevangelium und (somit?) „Jesus selbst“ zeigt uns den Weg: „Er, der Gott ist und Mensch zugleich“ (77).
Nur unter diesen Voraussetzungen scheint das spätere dogmatische Gebäude gesichert zu sein. Weil z.B. die Erlösung bzw. Rechtfertigung oder Satisfaktion am Kreuz anders nicht denkbar zu sein scheint, werden die historischen Probleme zum Aufkommen des neutestamentlichen Opfergedankens oder zur Deutung seines Todes bei Jesus selbst weggeredet, ebenso die späteren theologischen Problematisierungen.
Der Verfasser will „die vielen, durchaus berechtigten Einzelprobleme den Fachgelehrten“ überlassen. „Freilich – von der Frage der wirklichen Historizität der wesentlichen Ereignisse können wir uns nicht dispensieren. – Die neutestamentliche Botschaft ist nicht nur Idee; für sie ist gerade das Geschehensein in der realen Geschichte dieser Welt wesentlich.“ Also z.B.: „Wenn Jesus seinen Jüngern nicht Brot und Wein als seinen Leib und sein Blut gereicht hat, dann ist die Eucharistiefeier der Kirche leer – eine fromme Fiktion und nicht Realität“ (122).
Andererseits führt die historische Forschung „nur zu hoher Wahrscheinlichkeit,
aber nie zu einer letzten und absoluten Gewissheit über alle Einzelheiten“
(122.123). „Die letzte Gewissheit ... schenkt uns der Glaube“ (124).
Dieser aber ist in der späteren Entwicklung der Kirche vorgegeben. Von
dorther nimmt der Verfasser seine Gewissheit und seine Kriterien, und so scheint
deswegen die Vielgestaltigkeit, Unterschiedlichkeit und spezifische historische
Relevanz der biblischen Zeugnisse, die in dem Buch in reichhaltiger Weise angeführt
werden, keine Bedeutung zu haben. Sie werden alle so gelesen, als stimmten sie
– auf der gleichen Ebene – gänzlich miteinander überein
oder ergänzten sich lediglich in einigen Detailaspekten. Das Hohepriesterliche
Gebet Jesu rangiert auf der gleichen Stufe der Realität wie Aspekte der
Passion Jesu. Maßgebend für das Verständnis aller Texte, auch
der Synoptiker, sind – vor allem – das Johannesevangelium und auch
der Hebräerbrief. Ja, man muss die Linie noch weiter ziehen: Selbst diese
werden so aufgefasst, als sei in ihnen schon gänzlich die spätere
hellenistische Christologie oder Gotteslehre nachzulesen. Auch die spätere
antike Theologie liest Ratzinger von mittelalterlichen oder neuzeitlichen Positionen
her: so wird z.B. die Formel von Chalkedon von späteren Interpretationen
her verstanden, die erst seit Boethius möglich wurden und sich in Europa
seit Karl dem Großen durchsetzten: nämlich im Sinne von einer einzigen,
nämlich göttlichen Person in Jesus (180-183); in Nizäa sieht
der Autor, ebenso fälschlich, die Trinitätslehre dogmatisiert (179).
Usw.
So kann er schon zu dem von den Ölbergserzählungen überlieferten Satz Jesu, dass nicht sein Wille, sondern der seines Vaters geschehen solle (Lk 22,42), Erörterungen anschließen zum Monotheletismus des 6. und 7. Jahrhunderts und – eine schiefe Interpretation des Trullanum, des Dritten Ökumenischen Konzils von Konstantinopel im Jahre 680/681 – in Jesus zwischen einem bloß menschlichen „Naturwillen“ und einem göttlichen Willen (des Logos), der dann auch der einzige „Personwille“ sei, unterscheiden (182). Das alles ist wohl schon in dem Satz des Lukasevangeliums enthalten (183).
Da können historische Fragen nur lästig sein oder gar nicht erst aufkommen. So führt der Verfasser z.B. zutreffend aus, dass der Psalm 22 die Passionsgeschichte durchzieht. „Die öffentliche Demütigung, der Hohn und das Kopfschütteln der Spötter, die Schmerzen, der entsetzliche Durst, das Durchbohren der Hände und Füße, das Verlosen der Kleider – die ganze Passion ist in dem Psalm gleichsam vorab geschildert“ (238). So lässt er den armen Leser allein mit der sich von selbst aufdrängenden Frage, wie diese Übereinstimmung der einzelnen Motive wohl zustande gekommen ist (oder soll es realistische Weissagung sein?) und was diese Feststellungen für ein Verständnis der Passionserzählungen bedeuten könnten.
Fragen dieser Art ergeben sich im ganzen Buch mit seinen vielen erörterten Einzelheiten, erst recht natürlich auch bei den Ausführungen zur Auferstehung. Sie alle aufzulisten würde zu weit führen und im Grunde immer zu derselben Kritik führen müssen. So mag das Bisherige genügen. Jedenfalls scheint der Titel „Jesus von Nazareth“ unzutreffend zu sein. Der Sache nach handelt es sich um theologische Reflexionen der späteren Dogmen, wenn auch anhand der Passionserzählungen der Evangelien und weiterer biblischer Assoziationen. Ob auf diese Weise der „reale Jesus“, also nicht mehr der arme oder „dürftige“ Jesus von Nazareth erreicht oder ob er der ebenso der Hilfe bedürftigen katholischen Herde in tieferer Weise zugänglich wird, ist nur schwer anzunehmen.
Zurück zur Auswahl© imprimatur November 2011
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