Karl-Heinz Ohlig
Die Mittelpunktstellung von Subjekt und kritischer Vernunft als europäisches Spezifikum[1]

1 Zur Fragestellung

Die Vorstellungen unterschiedlicher Kulturen sind nicht leicht zu beschreiben. Sie sind nicht etwas einfach Vorhandenes, sie sind vielmehr in einem dauernden Wandel begriffen. Sie kennen vielfältige und auch widersprüchliche Prägungen und Motive, auch weil sie oft in ihrer Geschichte Einflüssen von außen unterlagen, die zu synkretistischen Ausprägungen führten.

Auch die hier gestellte Frage hat ihren „Sitz im Leben“ in der gegenwärtigen Situation. Lange Zeit waren die Kulturen von einander abgeschottet, lebten in ihren mehr oder minder großen Binnenräumen, wussten nichts von den anderen – wie wir von den Indios Amerikas und diese von uns – oder waren an ihnen nicht interessiert – wie z.B. das „Reich der Mitte“ am Rest der Welt – bzw. grenzten sich polemisch von ihnen ab – wie die islamische Welt von Byzantinern und Abendländern und umgekehrt oder wie sich die lateinische Kultur, trotz gemeinsamer religiöser und philosophischer Wurzeln, im Jahr 1054 von den Byzantinern trennte. Natürlich ist das eine Grobzeichnung. Es gab daneben zahlreiche gegenseitige Beeinflussungen durch die Aneignung fremder kultureller und religiösen Traditionen oder durch politische Einwirkungen.

Aber eine grundsätzliche Veränderung im Verhältnis der Kulturen ergab sich erst in der Neuzeit mit der Entdeckung der Seewege nach Afrika, Asien und Amerika, dann verstärkt mit dem Zeitalter des europäischen Kolonialismus und Imperialismus. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, gehörten drei Viertel der Menschen zum europäisch-amerikanischen Machtbereich, und das vierte Viertel war zumindest abhängig von Europa. Dies führte zu einer weiten Ausbreitung europäischer kultureller und politischer Einflüsse, so dass große Teile der Welt nicht mehr oder kaum noch von ihren voreuropäischen Traditionen geprägt sind, wie z.B. Nord- und Lateinamerika, Australien oder Neuseeland. Soll man sie zur europäischen Kultur zählen? Das Verhältnis der Kulturen war damals asymmetrisch zugunsten Europas.

Das hat sich geändert. Die Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg, die heute trotz bleibender Dominanz „des Westens“ zumindest prinzipiell abgeschlossen ist, führte in vielen kulturellen Großräumen zu einer Rückbesinnung auf die eigenen kulturellen und religiösen Traditionen und
Identitäten sowie zu einem neuen Selbstbewusstsein. Trotz oder vielleicht wegen der gegenwärtigen Globalisierung durch Medien, Internet, weltweite Verflechtung der Politik und Wirtschaft entfalten die oft Jahrtausende alten Kulturen in Großräumen wie in regionalen Untergliederungen eine beeindruckende kulturelle Selbstvergewisserung und Dynamik.

Die heutige Situation der täglich im Zusammenleben mit fremdkulturellen Minoritäten oder wenigstens in den Medien erfahrenen kulturellen Vielfalt hat mehrere Folgen: Zum einen, dies gilt besonders für Europa, das Bewusstsein der Kontingenz der eigenen Tradition, zum anderen die Gefahr eines Auseinanderdriftens oder von Konflikten der Kulturen. Ob daraus eine zunehmende Profilierung wenigstens der wichtigsten Kulturräume oder sogar ein „Kampf der Kulturen“ oder, wahrscheinlicher, in the long run eine synkretistische Weltkultur resultieren, lässt sich noch nicht absehen. Insofern stehen alle Ausführungen unter einem Vorbehalt, weil lebendige Prozesse und in der Geschichte immer wieder auftretende Umbrüche nicht vorhersehbar sind.

Zentrale Spezifika der europäischen Kultur im Vergleich zu anderen kontinentalen Kulturen zu bestimmen, gerät leicht in die Gefahr zu Plattitüden oder Schlagwörtern, im Stil: die Inder verehren heilige Kühe, wir nicht; die muslimischen Frauen tragen meist Kopftuch oder sind verschleiert, unsere nicht. Die jeweiligen Phänomene sind so zahlreich und pluriform und werden oft durch gegenteilige Phänomene wieder aufgehoben. So hilft es nur, grundlegende Mentalitäten und Denkweisen mit aller Vorsicht und Vorbehalten zu erarbeiten und zu vergleichen.

2 Die tief reichende Individualisierung in Europa

Auf einer vorherigen und auf dieser Tagung sind schon wichtige Prägungen der europäischen Kultur angesprochen worden: die griechische und römische Antike, die zentrale Rolle des Christentums sowie des europäischen Judentums. Ein Blick auf die großen Kulturräume in Indien, China, in den islamischen Ländern usf. kann aber zeigen, dass dort ein fundamentales Ergebnis der europäischen Geschichte nur schwer rezipierbar ist oder jedenfalls anders gewichtet und anderen Ordnungsideen untergeordnet wird, nämlich die Würde des Einzelnen, die sich hieraus ergebenden Rechte und die Rolle der kritischen Vernunft (Aufklärung).

Dass es in Europa gerade zu dieser Entwicklung gekommen ist, hat mit allen vorher genannten Prägungen durch Antike und Christentum zu tun, die hierzu Motive geliefert haben, kennt aber ganz besondere Motivstränge, die zu einem nur in der abendländischen Geschichte feststellbaren Ergebnis geführt haben: Die personale Sicht des Menschen und damit verbunden die absolute Priorität der subjektiven Vernunft bzw. des subjektiven kritischen Denkens (Aufklärung), in eins damit seine ethische und gesellschaftliche/politische Autonomie, also eine Trennung von Kirche und Staat, und eine von Intersubjektivität variierte Sozialauffassung.

Ein globaler Vergleich mit anderen Kulturen macht deutlich, dass nur in Europa eine so tief reichende Mittelpunktstellung des Einzelnen und die kriteriologische Funktion des Subjekts für Erkenntnis, Recht, politische und gesellschaftliche Mitwirkung anzutreffen sind. Trotz aller Übernahme europäischer Ideen auf Grund der Jahrhunderte langen Dominanz Europas zeigen die jüngeren Entwicklungen, dass diese Rezeption nicht wirklich gesichert ist und immer wieder von Vorstellungen zurückgedrängt wird, die der Gemeinschaft, dem Staat, der Religion usw. Priorität gegenüber dem Einzelnen einräumen. Ein Beispiel können die Diskussionen um den Menschenrechtskatalog sein, der oft als europäischer oder westlicher Import angesehen und in zentralen Aspekten bestritten wird.

Diesen Gesichtspunkt muss man wohl als das zentrale Spezifikum Europas betrachten. Die Vorstellung von einer nicht relativierbaren Würde des Einzelnen aber wurde Europa nicht einfach in den Schoß gelegt oder ist ihm zugefallen, sondern ist in einer langen Geschichte mühevoll und mit vielen Opfern errungen worden. Diese Geschichte soll in einigen Linien aufgezeigt werden. Hierbei können die wichtigsten Motivstränge nur, in einer Art von Metareflexion, anhand dieser Geschichte aufgezeigt werden, also einer Geschichte vor allem des Mittelalters, aus der die neuzeitlichen und modernen Entwicklungen resultieren. Dies soll im Folgenden mit Verweis auf einige zentrale Aspekte, die natürlich nur kursorisch und fragmentarisch angesprochen werden können – es geht um einen Zeitraum von rund 1.000 Jahren – versucht werden.

3 Person und Individuum. Ein kulturhistorischer Rückblick
3.1 Der Monotheismus als Grundlage

Eine Vorstellung vom Menschen, die ihn – trotz aller Einbettung und Abhängigkeit von der Naturwelt und der Gemeinschaft – vorwiegend als Einzelnen, der für sich letztverantwortlich ist, sieht, hat eine grundlegende Voraussetzung: den vom Christentum als jüdisches Erbe übernommenen Monotheismus. In der zentralen
Orientierung an dem einen Gott, der handeln kann, die Welt erschaffen hat und an ihrem Ende steht, vor dem wir uns verantworten müssen, konnte sich die Auffassung ausbilden, den Menschen als Partner Gottes primär als Subjekt zu verstehen. Am absoluten Subjekt als Gegenüber konnte sich die Auffassung von der Geltung auch des menschlichen Subjekts etablieren und festmachen.

Zwar findet sich auch in Indien und China seit der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends die Vorstellung von einem „Selbst“ des Menschen. Dieses aber war konfrontiert mit der Gottheit als einem sachhaften, un- bzw. überpersönlichen Weltprinzip, als das All-Eine, ohne Bewusstsein seiner selbst und ohne die Fähigkeit zu handeln; aus diesem Urgrund sind wir entstanden und kehren dorthin zurück – unsere konkrete, auch individuelle Existenz in der pluralen Welt ist nicht von bleibender Bedeutung bzw. wird in den indischen Upanishaden sogar als nicht-sein-sollend oder im Buddhismus als Scheinrealität (Anatta-Lehre) angesehen. Das Selbst des Menschen hat also keinen Bestand; die soteriologische Perspektive für den Menschen ist am Ende die Selbstaufhebung in das All-Eine hinein, so dass dann alle Pluralität („Zweiheit“) in der Identität des einen Göttlichen (Brahman bzw. Nirvana oder Tao) aufgehoben ist.

3.2 Unterschiedliche Auswirkungen des Monotheismus auf die Etablierung des Individuums

Die im Monotheismus angelegte Chance führte aber nicht in allen monotheistischen Kulturen zu einer Stabilisierung oder gar Emanzipation des Individuums an Hand des göttlichen Du. Trotz seiner großartigen Gottesidee – der Monotheismus ist originär im exilischen Judentum seit dem 6. Jahrhundert v.Chr. ausgebildet worden – verstärkte sich im antiken Judentum gleichzeitig die ethnische Rückbindung an und in das Volk Israel, dem eine vorrangige Bedeutung zukam. So konnte sich der Monotheismus in seinen anthropologischen Auswirkungen gewissermaßen nur im Binnenraum des Jüdischen – und dort in der Einpassung in „das Volk“ – entfalten. In der Neuzeit allerdings beförderten gerade Juden die zeitgenössischen Individualisierungsprozesse in Europa.

Eine der zentralen „Leistungen“ des Christentums und zugleich auch Grundlage seines weltweiten „Erfolgs“ ist die Lösung dieser Rückbindung des jüdischen Monotheismus an seine jüdisch-ethnische Grundlage im Gefolge der Christologie (Stichwort: Taufe von „Heiden“ ohne vorherige Beschneidung). Darüber hinaus hat die in der Christologie formulierte eschatologische Geltung eines einzelnen Menschen, Jesu, den Blick auf die Würde jedes Einzelnen verstärkt. Dennoch gab es auch im Christentum weitere kulturelle Einflüsse, die den Durchbruch zur Mittelpunktstellung des Subjekts verzögerten.

In der hellenistisch-christlichen und bald byzantinischen Mentalität, die sehr stark von platonischen und neuplatonischen Ideenwelten geprägt war (und ist), wurde die personale Gottesvorstellung immer wieder überlagert von der Idee des Einen, Guten, Schönen, Wahren und Seienden; das Göttliche faszinierte mehr als der Gott. Dem entsprechend tritt als zentrale Perspektive des Menschen die Sehnsucht nach Vergöttlichung, nach dem Einswerden mit dem Göttlichen, nach dem Versinken im Meer der Gottheit in den Vordergrund, das durch den inkarnierten Logos Gottes, den Gottmenschen Jesus Christus vermittelt wird. Das „Prinzip des Tausches“ durchzieht wie ein Grundmotiv die hellenistisch-christliche Literatur: „Gott wurde Mensch, damit wir Gott [oder göttlich] werden“. Die soteriologische Perspektive des Menschen ist somit tendenziell wiederum unpersönlich bzw. „über-individuell“.

Im Islam gab es in den ersten Jahrhunderten ebenfalls, wenigsten in der Philosophie, eine stark neuplatonische Prägung, die aber als heterodox empfunden und bald, endgültig im 12. und 13. Jahrhundert, ausgesondert wurde. Obwohl auch im dann siegreichen orthodoxen Islam der Einzelne Gott und seinem Gericht gegenüber steht, wird er nivelliert in die umma, die Gemeinschaft und ihr vor allem rechtliches Regelwerk, das penibel zu befolgen ist, so dass eine Entwicklung zur Autonomie des Individuums behindert ist. Unter diesen Bedingungen kam es zu einer Entpersönlichung des Individuums[2] und zu dem Versuch, das Individuum zu reformieren, „bis es typengerecht ... wird[3].“

Ohne den Monotheismus hätte sich die Vorstellung von einer letzten Geltung und Würde des Subjekts zwar nicht bilden können. Aber die Geschichte zeigt, dass dies allein nicht genügte. Weitere Faktoren mussten hinzutreten, um diese Vorstellung zu etablieren.

4 Person und Individuum in Europa

Nur in der abendländischen Kultur konnte sich – diese These soll im Folgenden erläutert werden – auf der Basis und in Auseinandersetzung mit dem Monotheismus eine singuläre Geschichte der Emanzipation des Individuums entwickeln. Und tatsächlich zeigt ein Vergleich mit außereuropäischen Kulturen, dass ihnen diese Vorstellung von der Letztgeltung des einzelnen Menschen und seiner Würde fremd ist.

Zu den Voraussetzungen

Diese Geschichte hatte zwei Voraussetzungen: eine kultur- und eine begriffsgeschichtliche.

Zur ersteren: Die lateinische Theologie[4] ist – trotz der Einflüsse des Hellenismus – von ihren Anfängen an – gemäß den römischen Denkrastern – sehr stark ethisch und juridisch ausgerichtet; es gilt, den von Gott, der vor allem als rechtsetzender Wille wahrgenommen wird, auferlegten Ordo zu befolgen. Die östliche Vergöttlichungssehnsucht spielt im lateinischen Westen dem zufolge keine Rolle, es geht vielmehr um das rechte (gute) oder rechtswidrige (sündige) Handeln, um Schuld und Vergebung: „Wer sündigt, der befindet sich nicht im Lichte, sondern in der Finsternis”, schreibt der nordafrikanische Theologe Tertullian (gest. nach 220)[5] .

Die menschliche Schuld kann nur durch eine positive Gegenleistung, den Kreuzestod Jesu Christi, getilgt werden. Die griechische Zwei-Naturen-Christologie wird so gewendet, dass sie begründen kann, wieso nur der Tod Jesu alle Schuld sühnen konnte: Als Mensch erbringt er ein Opfer, das wegen seines Menschseins uns Menschen gerechterweise zugerechnet werden kann; weil er zugleich Gott ist, besitzt dieses Opfer einen unendlichen Wert[6]. Gott wird zur Sünde, damit wir gerechtfertigt werden (Augustinus[7] , Luther schreibt, „dass die Gnade oder die Gabe Gottes zur Sünde geworden [eingesündet] ist, und die Sünde zur Gnade geworden [eingegnadet]“[8] ). Dahinter steht die Vorstellung, dass Gott – anders als in der Verkündigung Jesu – nur vergeben kann, wenn zuvor eine adäquate Sühne, der Tod des Gottessohnes Jesus, erbracht wurde. Die als Störung des vom göttlichen Willen auferlegten Ordo verstandene Sünde erfordert auch zu ihrer Aufhebung gemäß lateinischem Denken eine rechtlich einwandfreie Sühne, eine Satisfaktion.

Diese Raster werden in der Folgezeit weiter entfaltet und in der Erbsündenlehre, die erstmals von Augustinus (gest. 430) gedacht wurde[9] , fest etabliert; denn erst durch sie – sündige wie gute Taten sind ja „zufällig“ und variabel (Menschen können heute böse und morgen gut sein) – war ein Begründungszusammenhang gegeben, die Schuld des Menschen in Adam, von dem sie auf uns überging, gewissermaßen grundsätzlich zu verankern: Wir alle sind seit Adam vor Gott verloren und können nichts daran ändern; wir stehen unter der Herrschaft Satans und sind unfähig zum Guten. Nur das Kreuz Christi schafft die Möglichkeit für Gott, auf rechtlich ordentliche Weise zu vergeben (das ethisch begründete solus Christus). Damit hat Gott im Kreuz Jesu Christi den von seinem Willen ursprünglich auferlegten ordo wiederhergestellt (Leo I., gest. 461)[10]. Später wird Anselm von Canterbury (gest. 1109), neben Abälard (gest. 1142) einer der „Väter” der Scholastik, diese Ansätze zu seiner Satisfaktionstheorie ausbauen[11] , deren wichtigsten Thesen auch in die konfessionellen Theologien der frühen Neuzeit[12] eingegangen sind.

Die lateinische Konzentration der christlichen Sache auf Schuld und Rechtfertigung lenkt den Blick zwangsläufig auf das Individuum, das ja die Schuld höchstpersönlich und – seit Augustinus – auch durch die Erbsünde auf sich geladen hat; letztere ist, wie die Synode von Orange im Jahr 529 kirchenamtlich ausführt, auf jeden Menschen übergegangen. So fühlt sich der Einzelne in seinem Heil bedroht; seine einzige Hoffnung ist die Genugtuung, die Christus am Kreuz erbracht hat. Schon Tertullian formuliert: Die Schande des Kreuzestodes, die Gott auf sich genommen hat, „hilft mir”[13] . Für Augustinus wird es notwendig, in den Confessiones die erste Autobiographie der Weltliteratur zu schreiben, die ein gewaltiges, in vielen Punkten auch neurotisches Bekenntnis seiner persönlichen Sündigkeit und ein Lob der Gnade Gottes ist: “Wer gibt mir, dass ich Ruhe finde in Dir? Wer gibt mir, dass Du kommest in mein Herz und es trunken machst; dass ich mein Schlechtes vergesse und mein einziges Gut umfange – Dich?”[14]

Diese lateinisch-christlichen Raster, die dem neutestamentlichen und östlich-antiken Christentum fremd waren, wurden die Basis dafür, dass – nach weiteren Entwicklungen, die im Folgenden dargelegt werden – die subjektive Heilsangst im Spätmittelalter vorherrschend wurde und zur „subjektiven Wende”[15] in der frühen Neuzeit führte. Als exemplarisch für diese Entwicklung mag die Frage Martin Luthers gelten: „Wie finde ich den gnädigen Gott?”, was zu einem Rückbezug aller soteriologischen und christologischen Aussagen auf je mich persönlich führte[16].

Zum Zweiten: Für diesen Blick auf das Individuum ergab sich, aus ganz anderen Zusammenhängen, eine glückliche terminologische Vorgabe: die Ausbildung des heutigen Personbegriffs im 6. Jahrhundert. So wurde es möglich, das grundlegend Singuläre eines jeden Menschen sprachlich zu benennen. Wie Sie wissen, bildete sich in der hellenistischen Theologie die Vorstellung aus, dass Gott irgendwie dreifach sei, parallel dazu wurde Jesus, endgültig seit dem Konzil von Nizäa im Jahre 325, als Mensch und zugleich Gott angesehen. Für die Dreiheit in Gott wie auch für den christologischen Einheitspunkt schälte sich mit der Zeit in der hellenistischen Theologie der Begriff hypóstasis (alexandrinische Theologie), in der westsyrischen Tradition der Begriff prósopon (Gesicht, Außenansicht [antiochenische Theologie]) heraus. Tertullian in Nordafrika, dem wir viele Begriffe der lateinischen Theologie verdanken, umschrieb sowohl die Dreiheit in Gott wie den Einheitspunkt in Jesus Christus erstmals mit dem Begriff persona[71].

Persona kommt wahrscheinlich aus dem Etruskischen und bezeichnete die Maske, die ein Schauspieler trug, also seine Rolle. Was Tertullian meint, kann man ungefähr so übertragen: Der eine (laut Tertullian von Ewigkeit her unitarische) Gott übernimmt uns gegenüber mit Beginn der Geschichte („im Anfang“, Gen 1,1) drei Rollen (als Vater, Sohn und Geist), ebenso spielen Gottheit und Menschheit in Jesus eine, nämlich gemeinsame Rolle. Der Begriff hatte also noch nichts mit unserem Personbegriff zu tun.

In der Folgezeit wurde dieser Begriff nicht beachtet, bis ihn Augustinus wieder in die Theologie einbrachte, weil er nicht wusste, wie er die griechischen Begriffe übersetzen sollte: hypostasis heißt auf Latein substantia, und das schien ihm sowohl in der Trinitätslehre (drei Substanzen in einem Gott) wie in der Christologie (Gott und Mensch in einer Substanz) häretisch zu sein. Er liebte erklärtermaßen auch den persona-Begriff nicht, hatte aber keinen besseren Vorschlag. So formuliert er also: In Gott gibt es drei Personen, in Jesus Christus eine Person, welcher Sprachgebrauch zur Basis der abendländischen Theologie wurde. Auch bei Augustinus hatte die Vokabel persona noch nicht die heutige Bedeutung von Aktzentrum, Subjektivität usf., weil er Gott als ein einziges und einfaches Subjekt, mit einem Denken und Wollen und einer Handlung nach außen auffasste (also als eine Person im modernen Sinn), und in der Christologie bezeichnete er mit diesem Begriff das Resultat der Inkarnation; der Mensch Jesus bleibt Subjekt: homo ille, und die eine Person ist erst ein Resultat der Einigung von Gott und Mensch, nicht dessen ewige Voraussetzung in der Person des göttlichen Wortes.

(wird fortgesetzt)


© imprimatur Oktober 2011
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[1]Der im Folgenden abgedruckte Beitrag, ursprünglich ein in Cadenabbia gehaltener Vortrag, ist unter dem Titel „Europäische und außereuropäische Kultur- und Ordnungsideen. Die Mittelpunktstellung von Subjekt und kritischer Vernunft als europäisches Spezifikum“ im Jahre 2010 in dem im Herder-Verlag publizierten Sammelband von Günter Buchstab (Hg.), Die kulturelle Eigenart Europas, S.178-216, erschienen.
[2]G.E. von Grünebaum, Der Islam im Mittelalter (Die Bibliothek des Morgenlandes), Zürich, Stuttgart 1963, 284-300.
[3] G.E. von Grünebaum, ebd. 298.
[4] Vgl. hierzu vom Verf., Fundamentalchristologie. Im Spannungsfeld von Christentum und Kultur, München 1986, 343-362.
[5] Tertullian, De pudicitia 19 (Texte zur Theologie, Dogmatik, Bd. 4.1 und 2: Christologie, bearbeitet von Karl-Heinz Ohlig, Graz, Wien, Köln 1989 [im folgenden abgekürzt TzT 4,1 und 2], TzT 4,1, Nr. 68, S. 101).
[6] Tertullian, De anima 41,3 (CCL 2, 1954, 844): “Solus enim deus sine peccato et solus homo sine peccato Christus, quia et deus Christus.”
[7] Augustinus, Enchiridion ad Laurentium sive die fide et spe et caritate (um 423), 13,41.
[8] Martin Luther, Wider den Löwener Theologen Latomus, in: Martin Luther, Ausgewählte Werke, hg. von H.H. Borcherdt und G. Merz, Ergänzungsreihe, Bd.6 (übers. von Robert Frick), München 3. Aufl. 1961, 135. Ähnlich schon: Ders., Brief an Georg Spenlein (1516), 35.
[9] Vgl. vom Verf., Fundamentalchristologie, a.a.O. 343-355.
[10] Leo I., Tomus ad Flavianum 3.4 (aus dem Jahre 449).
[11] Anselm von Canterbury, Cur deus homo (aus dem Jahre 1098).
[12] Vgl. z.B. Martin Luther, Der große Katechismus von 1529: “auff das er für mich genut thete / und bezalete was ich verschuldet habe” (Luthers Werke in Auswahl, unter Mitwirkung von A. Leitzmann hg. von Otto Clemen), 4. Bd.: Schriften von 1529-1543, Berlin 61967, 55.
[13] Tertullian, De carne Christi 5,3 (CCL 2, 1954; 881; um 210-212).
[14] Augustinus, Confessiones, Bekenntnisse, Lateinisch und deutsch (eingel., übers. u. erläutert von Joseph Bernhart), München 1955, (I) 19.
[15] Vgl. vom Verf., Fundamentalchristologie, a.a.O. 433-512.
[16] Ein schönes Beispiel für die subjektiv gewendete Betrachtung bietet: M. Luther, Ein Sermon von der Betrachtung des heiligen Leides Christi (1519), WA 2,134.135 (auch: TzT 4,2, Nr. 198), oder: ders., Adventspostille (1522), Evangelium vom 1. Adventssonntag. Mt 21, 1-9 (WA 10, I, 2, 21-26; auch: TzT 4,2, Nr. 199): Christus ist “nit alleyn S. Petro unnd den heyligen eyn solcher man, ßondernn auch dyr selbs, ia dyr selbs mehr denn allen andernn” (WA, ebd. 25; Tzt ebd.93).
[17] Tertullian, Adversus Praxean 27,11; 29,2 und 7,2.9; 9,3.