Norbert Reck
Neuer Mut zu „gefährlichen Erinnerungen“
Theologische Aufbrüche in Ex-Jugoslawien

Veränderungen beginnen oft klein und unscheinbar – etwa mit einer Tagung. Manchmal ist bereits beim Zusammentreffen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer spürbar, dass der Wind sich gedreht hat und etwas Neues anfängt.

Drei Organisationen hatten im Juni 2011 nach Belgrad eingeladen: das „Zentrum für offenen Dialog – Interdisziplinäres Zentrum für Religiöse Studien und Politische Theologie“ aus Novi Sad (Serbien), der Buchverlag Ex-Libris aus Rijeka (Kroatien) und Traduki, das „europäische Netzwerk für Literatur und Bücher“, das sich der Förderung des Austauschs zwischen Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Deutschland, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Österreich, Rumänien, der Schweiz, Serbien und Slowenien verschrieben hat. Zwei Tage lang sollten Theologen und Philosophen, Sozial- und Literaturwissenschaftler gemeinsam über „Gefährliche Erinnerungen und Versöhnung“ nachdenken, insbesondere über die Rolle der Religion in den post-konfliktiven Gesellschaften Serbiens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas.

Dass Erinnerungen an die Kriege der 1990er Jahre in diesen Gesellschaften in der Tat brandgefährlich und intensiv gegenwärtig sind, konnte man zur selben Zeit vor Ort miterleben: Wenige Tage vor der Tagung wurde der als Kriegsverbrecher gesuchte serbische General Ratko Mladic verhaftet und an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgeliefert; wenige Wochen zuvor war der kroatische General Ante Gotovina in Den Haag wegen Kriegsverbrechen zu 24 Jahren Haft verurteilt worden. Beide Männer gelten bis heute vielen ihrer Landsleute als Kriegshelden; aggressive Proteste und Demonstrationen folgten auf die Nachrichten von ihrer Verurteilung bzw. Verhaftung; Massenmedien schüren weiter die Empörung, stellen die Erinnerungen und Leiden der jeweils eigenen Seite heraus, und der Gerichtshof in Den Haag hat bei vielen kein besseres Ansehen als das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal bei den postfaschistischen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg.

In dieser angespannten Situation waren es Theologen der jungen Generation, die die Initiative zur Belgrader Tagung ergriffen, um nach Auswegen aus den über viele Jahre eingespielten Ritualen gegenseitiger Anschuldigungen und angstvoller Selbstbehauptung zu suchen. Unterstützt wurden sie von renommierten und verehrten Wissenschaftlern der älteren Generation, etwa von dem Sarajevoer Philosophen Ugo Vlaisavljevic und der Zagreber Literaturwissenschaftlerin Jadranka Brncic, die immer schon die Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien intellektuell unbestechlich und kritisch begleitet haben. Und von Anfang an war es den Initiatoren wichtig, dass auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus anderen Disziplinen ihre Erkenntnisse zur Tagung beitrugen, um die realen gesellschaftlichen Problemlagen in den Blick zu bekommen.

Angesichts der stark empfundenen Defizite der offiziellen kirchlich-theologischen Positionen sollten in Fachgesprächen neue Perspektiven entwickelt werden, die aus den Schützengräben der Selbstrechtfertigung und der Beschuldigung der jeweiligen Feinde entschlossen herausführen könnten. Um Schritte der Versöhnung zu finden, müsse man genauer hinsehen, die Tatsachen anerkennen, nicht Schuld, aber doch Verantwortung übernehmen für die Untaten der eigenen Leute. So vermisst Nikola Kneževic, einer der Initiatoren der Tagung und Dozent an der Protestantischen Fakultät von Novi Sad, eine theologisch reflektierte Haltung der Kirchen gegenüber den Kriegen der jüngsten Vergangenheit: „Natürlich sprechen sie sich gegen Krieg aus“, sagt er, „aber in der Theologie heute in Serbien gibt es keinerlei Reflexion darüber. Es gibt keine Nachkriegstheologie; Diskurse solcher Art fehlen völlig. Aber das ist genau das, worauf wir hinarbeiten wollen.“

Diese Einschätzung wird auch von Befunden aus anderer Perspektive untermauert. Die Zagreber Soziologin Martina Topic trug auf der Tagung Ergebnisse ihrer empirischen Studie über die Rolle des Bildungssystems in Kroatien bei der Festigung gegenseitiger Vorurteile unter den dort lebenden Kroaten, Bosniaken und Serben vor. Diese Studie zeigte überraschenderweise, dass die meisten Befragten den Kern des Problems nicht in erster Linie in den offiziellen Bildungsinhalten sehen, sondern in der engen Verbindung von Kirche und Staat. Da die überwiegende Mehrheit der Kroaten der römisch-katholischen Kirche angehört, gewährt der kroatische Staat der katholischen Kirche in allen gesellschaftlichen Bereichen großen Einfluss – in der Hoffnung, aus der katholischen Identität der Mehrheit werde sich auch eine neue kroatische Nationalidentität entwickeln. Das stempelt aber nicht nur zahlreiche nichtkatholische Kroaten zu Angehörigen von „Minderheiten“, sondern hat aus der katholischen Kirche Kroatiens eine Art Nationalkirche gemacht, die das Kroatentum religiös überhöht und so die aus dem Krieg überkommenen Frontstellungen weiter festigt. Nicht so sehr virulente Nationalismen seien das Problem Kroatiens, so Topic, sondern eher kurzschlüssige Identifizierungen. Diese aber könnten durch Aufklärung verflüssigt werden. Ähnliches dürfte auch für die orthodoxe Kirche in Serbien gelten.

Eine Anerkennung der Leiden der „anderen Seite“, gar kritisches Einklagen von Gerechtigkeit für alle Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen ist bislang jedenfalls von den Kirchen nicht zu hören, die sich so einseitig mit der jeweiligen Staatsmacht verschwistert haben. Sie vertreten oft allzu selbstgerecht die Positionen der „eigenen“ Nation; ihre Predigt erzählt zu wenig von dem Gott, der jenseits der Nationen der Schöpfer aller Menschen ist. Die uralte Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts so vieler zerstörter Leben oder gar die Thematisierung eigener Schuld gehört offenbar ebenfalls nicht zu ihrem Repertoire.

Gewiss sind diese Staatstheologien auf ihre Weise politisch, aber eben im Sinne Carl Schmitts, im Sinne einer theologischen Legitimierung staatlicher Macht, wie Zlatiborka Popov-Momcinovic, die in Ost-Sarajevo (Republika Srpska, Bosnien-Herzegowina) Soziologie unterrichtet, in Belgrad erläuterte. Demgegenüber entdecken nun die Theologen der jüngeren Generation im ehemaligen Jugoslawien das verändernde und heilende Potential der neuen Politischen Theologie im Sinne von Johann Baptist Metz und Jürgen Moltmann. Wo Gott nicht als bloßer Machtbegriff, sondern als Gerechtigkeitsbegriff verstanden wird, kommen Glaube und Gesellschaft in ein ganz anderes Verhältnis zueinander: Soziale, politische und ökonomische Kontexte müssen mitreflektiert werden, und Fragen an die zurückliegende Gewaltgeschichte und an den zukünftigen Weg zur Versöhnung werden zu genuinen Themen der Theologie. Und das war ebenfalls ein Anliegen der Tagung von Belgrad: den Anschluss zu finden an das internationale theologische und sozialwissenschaftliche Gespräch über Probleme der Konfliktbearbeitung, der Kontextualität und der Entmythologisierung ideologischer Bezugssysteme. Neben Metz und Moltmann waren hierfür in Belgrad Denker wie Stanley Hauerwas, John Milbank und Robert Schreiter, aber auch der aus dem kroatischen Osijek stammende Miroslav Volf wichtige Bezugsgrößen.

Kann analog zur Situationsbestimmung „nach Auschwitz“, wie sie für Metz zentral wurde, für den ex-jugoslawischen Kontext von einer Zeit „nach Srebrenica“ gesprochen werden? An dieser Frage bricht umgehend die ganze Komplexität der Situation auf: Zwar ist Srebrenica als Ort eines Massakers an mehr als achttausend muslimischen Bosniern im Juli 1995 tatsächlich längst zu einem Symbolwort geworden, aber es kann kaum die Erinnerungen der anderen Völker widerspiegeln, die mit den Kriegen der 1990er Jahre ganz andere Leidenserfahrungen verbinden (von denen manche noch an tiefliegende Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg rühren). Genau dies aber, die Wahrnehmung aller Leidenserfahrungen, auch in ihrer Gegensätzlichkeit, ist eine Grundvoraussetzung für einen Prozess, der sich auf Versöhnung und Heilung ausrichten will – „wenn die Konstruktion der Vergangenheit nicht zu einem Kerker für die Zukunft werden soll“, wie der orthodoxe Theologe Davor Džalto aus Niš (Serbien) formulierte. Metz wandte sich im Nach-Schoa-Deutschland explizit an die Christen, deren Bewusstsein für das Leben und den Glauben „nach Auschwitz“ er wecken wollte. Im ehemaligen Jugoslawien hingegen geht es um Opfer- und Tätererfahrungen dreier Völker, die auf traumatische Weise miteinander verknüpft sind. Deshalb könne es, so argumentierte der orthodoxe Theologe Darko Ðogo aus Foca (Bosnien-Herzegowina), nicht um ein bloßes Übernehmen der Politischen Theologie von Metz oder Moltmann gehen; die Aufgabe sei vielmehr, eine eigenständige, dem eigenen Kontext angemessene Politische Theologie zu entwickeln.

Ganz konkret gehört dazu die Anerkennung der Leiden der Anderen. Berislav Župaric, Vertreter von Traduki und selbst römisch-katholischer Theologe aus Bosnien-Herzegowina, verband diesen Gedanken am Rande der Tagung mit persönlichen Erinnerungen an Kriegserlebnisse in seiner Heimat. Auf den Krieg sei niemand vorbereitet gewesen, erzählt er, und man habe die Erfahrung machen müssen, „dass die Nachbarn von gestern plötzlich in der Lage waren, einen zu überfallen und die schlimmsten Verbrechen zu begehen. Das ist zum einen eine Erfahrung des Opferseins, aber später hat sich dazu noch die Erfahrung gesellt, dass das eigene Volk auch Täter wurde in manchen Situationen. Von daher kann ich von mir nicht nur aus dieser Opferrolle sprechen, sondern auch als jemand, der vor keinem Verbrechen die Augen zumachen möchte.“

Dabei geht es um weit mehr als um eine Feststellung einer „objektiven Wahrheit“. Heilung und Versöhnung können nur geschehen, so erläuterte es Jadranka Brncic, wenn die Beteiligten in einem Geist der Wahrhaftigkeit über die Wahrheit des Geschehenen sprechen. Dazu gehört der ehrliche Wille, „diejenigen zu verstehen, die die Geschichte zu unseren Feinden gemacht hat. Wir sind nicht fähig zu vergeben, solange wir uns nicht bemühen zu verstehen; und das beginnt damit, dass wir uns selbst als ‚die Anderen‘ sehen.“

Vergebung heißt für Brncic nicht, dass Kriegsverbrecher straffrei davonkommen sollen. Wer die Traumata der Kriege verursacht habe, müsse sich vor Gericht verantworten, und die Gewaltakte sollten keineswegs vergessen, sondern von der Geschichtsschreibung festgehalten werden. Weder seien Vergebung und Justiz frei wählbare Alternativen, noch sei Vergebung etwas, das politisch dekretiert werden könne. Vergebung sei vielmehr ein langer Prozess der Heilung der Erinnerung; er habe einen eschatologischen Horizont, den nur die Opfer eröffnen könnten. Wo es zu solchen Akten der Vergebung komme, handele es sich nicht um einen Schlusstrich unter das Geschehene, sondern im Gegenteil um eine gegenseitige Verpflichtung und Bindung, die endlich wieder wahrgenommen und realisiert werde.

Auf diesem Weg sind nach der Beobachtung von Brncic viele Menschen der Zivilgesellschaften Ex-Jugoslawiens weiter vorangeschritten als die offiziellen Kirchen und die Politik. Aber auch innerhalb der Kirchen kommt etwas in Bewegung, ergänzt Berislav Župaric, schließlich seien „wir alle Kirche“, und man dürfe Veränderungen nicht allein von der „Kirche von oben“ erwarten. Zunehmend werde eine Sprache gefunden, Kriegserfahrungen in einem Geist der Wahrhaftigkeit zum Ausdruck zu bringen. „Ich habe“, sagt Župaric, „selber positive Beispiele erlebt in dieser ‚Kirche von unten‘, auch auf der Pfarreiebene, wo das einen Ort gefunden hat. Aber ich denke, dass da noch viel mehr Entwicklungspotential ist, dass auch die übergeordneten kirchlichen Institutionen noch mehr Feuer fangen müssen für die Idee. Die Kirchen könnten von Beschützerinnen der eigenen Wahrheit zu Multiplikatorinnen wahrer Versöhnung werden. Denn in der Befolgung dieser Idee der Politischen Theologie sind, glaube ich, die Kirchen sich selbst und dem Auftrag, den sie in der Welt haben, sehr nah und sehr treu. Deshalb sollten sie auch keine Angst haben, sich in das Leid der Opfer – aller Opfer – zu begeben und zu sagen: ‚Hier sind wir; wie wir uns jetzt artikulieren sollen, wissen wir noch nicht, aber auch wir sind von diesem Leid ergriffen.‘ Das wäre, glaube ich, eine zutiefst menschliche Geste, die vieles verändern würde, die Möglichkeiten eröffnen würde, dass da mehr wächst.“

Am Ende der zwei Tage in Belgrad zog der protestantische Theologe Srdjan Sremac, einer der Initiatoren der Tagung, erfreut Bilanz: „Es macht mich glücklich festzustellen, dass es in unserer Region, in Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina, tatsächlich ernsthafte Arbeit an einer Politischen Theologie gibt. Vor der Tagung glaubte ich noch, das gebe es bislang nur verstreut in Artikeln oder in Zeitschriften, die sich speziell der Politischen Theologie widmen. Aber nun sieht es ganz danach aus, dass wirklich etwas geschieht.“

Tatsächlich entstehen vielerorts zukunftsweisende Initiativen und Projekte, interkonfessionelle, interreligiöse und interdisziplinäre Zeitschriften wie „Diskursi“ in Sarajevo oder „Teološki casopis“ in Novi Sad, und gewiss ist auch die kroatische Ausgabe von CONCILIUM, die seit 2010 in Rijeka herausgegeben wird, zu dieser Phase des Aufbruchs zu rechnen. Vor den Tagungsräumen sammelte indessen die Initiative „Rekom“, ein Zusammenschluss aus mehreren NGOs, Unterschriften unter eine Petition zur Einrichtung einer Kommission, die die Kriegsverbrechen der 1990er Jahre seriös dokumentieren soll – analog zur Wahrheits- und Versöhnungskommission Südafrikas.

Veränderungen beginnen oft klein und unscheinbar. Der Tag aber, an dem in den Ländern im ehemaligen Jugoslawien aus kleinen, aber qualifizierten Minderheiten eine „kritische Masse“ wird, dürfte nicht mehr fern sein.

Aus „CONCILIUM, Heft 5/2011"


© imprimatur Oktober 2011
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