Unter der Überschrift „Krise und Wende“ hat Kardinal Reinhard Marx zur Lage der Kirche einen Diskussionsbeitrag veröffentlicht, der in der Herder-Korrespondenz erschienen ist (7/2011, 335-339). Marx bemerkt anfangs: „Die Glaubwürdigkeit der Kirche hat Schaden genommen…. Wir müssen daran arbeiten, diesen Schaden zu heilen.“ Marx stellt „zehn persönliche Anmerkungen vor, die vielleicht auch für den Gesprächsweg der Kirche in unserem Land Hinweise sein können.“ Doch diese Anmerkungen bleiben weithin im Allgemeinen. Er wimmelt Reformforderungen ab, statt sie aufzugreifen und vor allem selber konkrete Vorschläge zu machen. Der Kardinal meint, dass für die Kirche „der Weg einer geistlichen und auch lehrmäßigen ‚Verdeutlichung’ der katholischen Glaubenswahrheiten und der katholischen Lebensweise notwendig“ ist und wünscht sich „fröhliche Apologeten“. Ein Beispiel gab der Kardinal selbst, als er vor zwei Jahren in der Münchner Abendzeitung offenbarte, dass Gott ein Fußballfan sei: „Gott hat Freude am schönen Spiel; wenn gut gespielt wird und schöne Tore fallen[1].“ Oder sieht der Kardinal im Kölner Hobby-Theologen Manfred Lütz mit seinem Buch „Gott. Eine kleine Geschichte des Größten“ einen solchen „fröhlichen Apologeten“? Sicher, das Buch ist „irgendwie ganz nett, aber letztlich überzeugend ist es nicht“ (H. Löhr). Denn Lütz ignoriert darin großzügig die Erkenntnisse der historisch-kritischen Bibelexegese. Seine Auseinandersetzung mit philosophischen, naturwissenschaftlichen und theologischen Positionen ist reichlich oberflächlich und lädt nicht zu echtem Mitdenken ein. Veraltete Positionen können auch durch den fröhlichsten Apologeten nicht besser werden.
Wir brauchen keine rheinischen Frohnaturen und auch keine Gottesgelehrten, die über die göttliche Sportbegeisterung Bescheid (zu) wissen (meinen). Was der Kirche dringend nottut, sind ernsthafte, umfassend gebildete, mit den modernen Fragestellungen in der Naturwissenschaft und in der Philosophie vertraute Theologen, die das Anliegen des Kardinals aufgreifen und die „katholischen Glaubenswahrheiten“ von Grund auf für die Gegenwart neu buchstabieren. Nur so kann die kostbare Glaubenstradition für kritische Intellektuelle, für ernsthaft Fragende und für bekümmert Suchende wieder anziehend und überzeugend erscheinen. Das verlangt auch Marx selbst: „Wer sich in einer offenen, differenzierten und ständig diskutierenden Gesellschaft mit seinen Positionen behaupten, ja, sogar andere überzeugen will, muss sich hineinbegeben in die Debatte und sich mit den anderen Positionen intensiv vertraut machen.“ Allerdings: Wer das ernsthaft und kompetent tut, wird von der Kirchenleitung schnell „entsorgt“, wie unlängst der australische Bischof Morris, der nichts anderes verbrochen hatte, als sich die Frage zu erlauben, ob angesichts des immer gravierender werdenden Priestermangels in seiner Diözese nicht daran zu denken wäre, auch verheiratete Männer und Frauen zu ordinieren[2] .
Marx zitiert den von Papst Benedikt im Herbst letzten Jahres eingesetzten „Rat für die Neuevangelisierung“ mit dem Ziel einer „Neugewinnung von Menschen und eine Erneuerung derer, die in ihrem Glauben müde geworden sind.“ Leider erwähnt der Kardinal nicht, wer zu diesem Rat gehört (fast alles Bischöfe über 70) und wie sich der Papst diese „Neuevangelisierung“ vorstellt[3] : Nicht eine gründliche Besinnung auf die Heilige Schrift und insbesondere die Botschaft Jesu, sondern „Studium, Verbreitung und Anwendung des päpstlichen Lehramtes“ und „Gebrauch des Katechismus der Katholischen Kirche“. Und als Heilmittel verlangt der Papst, „die traditionelle christliche Volksfrömmigkeit und -religiosität lebendig zu erhalten.“
Der Kardinal wünscht sich für die Wiedererlangung der Glaubwürdigkeit der Kirche „Gesprächsforen, geistliche Prozesse, Pilgerwege, auch synodale Foren und Dialogbemühungen“. Aber die darin geführten Dialoge dürfen selbstverständlich „nie zu einer Kopie politischer Veranstaltungen werden, wo die eine Seite von der anderen etwas fordert und Mehrheiten sich siegreich durchsetzen.“ Zu einer Nagelprobe könnte schon die von Erzbischof Zollitsch angestoßene Dialoginitiative werden. Oder bleibt alles beim Alten: Reden dürft ihr, aber zu sagen habt ihr nichts! Geistliche Prozesse ja, aber keine theologischen Fortschritte (Prozess heißt bekanntlich Fortschritt)! Synodale Foren – wenn’s unbedingt sein muss, aber Papst und Bischöfe legen fest, worüber gesprochen werden und was nicht auf die Tagesordnung kommen darf! Wo kämen wir denn hin, wenn der vom Zweiten Vatikanum proklamierte „Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes“, der„sensus fidelium“[4] , ernst genommen würde! Wenn nicht mehr der Papst, ohne mit Klerus und Volk einer Diözese Rücksprache zu nehmen, einen Bischof bestimmen, sondern wenn alle Diözesanmitglieder wieder das Recht hätten, den Bischof zu wählen - wie das früher einmal der Fall war! Wenn „Kleriker und Laien wie zwei Brennpunkte einer Ellipse sein (würden), für die ein grundlegendes Miteinander genauso wesentlich ist wie ein spezifisches Gegenüber, die Vielfalt der Charismen ebenso notwendig ist wie der Dienst der Einheit, (wenn auch die Laien) nicht Objekte, sondern vielmehr Subjekte der kirchlichen Sendung“ sein würden[5] ? Wo würden wir landen, wenn Papst Benedikt endlich die Forderung von 80 Prozent der deutschen Katholiken nach Reformen in der Kirche zur Kenntnis nehmen und befolgen würde!
Marx meint weiter: „Wer an der Peripherie stehen bleibt, stößt nicht vor zum ‚Glanz der Wahrheit’. Wenn Kondome und Zölibat die Schwerpunkte der Diskussion ausmachen, kann etwas nicht richtig gelaufen sein in der geistlichen Kommunikation.“ Wohl wahr. Aber der Kardinal nimmt nicht zur Kenntnis, dass die Krisen-Wahrnehmung vieler Katholiken sich keineswegs auf Kondome und Zölibat beschränkt. Eine breite Palette von Reform-Notwendigkeiten wird angemahnt. Sieht er das nicht oder will es nicht sehen? Marx scheint auch nicht wahrnehmen zu wollen, dass an der von ihm etwas abschätzig genannten „Peripherie“ durch das kirchliche Lehr und Leitungsamt derart viele Barrieren und Schranken, Verbote und Restriktionen errichtet wurden, dass der Weg zum Zentrum kaum noch zu finden ist, geschweige denn, dass er beschritten werden kann. Zu diesen bis jetzt unüberwindbaren Hindernissen gehören leider auch „Kondome und Zölibat“ als ein Ausdruck der dringend revisionsbedürftigen kirchlichen Sexualmoral und des Festhaltens an einer theologisch nicht stichhaltig begründbaren mittelalterlichen mönchischen Leistungsaskese[6] .
Dann kommt der Kardinal zum Wesentlichen: „Im Zentrum allen Lebens der Kirche steht der Glaube an den Dreifaltigen Gott. […] Den Weg zu finden in die Gemeinschaft mit diesem unbegreiflich liebenden Gott, der sich offenbart und schenkt als Vater, Sohn und Heiliger Geist, ist das größte Abenteuer des menschlichen Geistes und Lebens.“ Es sei die „zentrale Aufgabe der Kirche, Wege für alle Menschen aufzuschließen und zu eröffnen, Gott zu finden beziehungsweise noch besser, sich von ihm finden zu lassen.“ Dem kann man nur zustimmen. Doch gerade dieser zentralen Aufgabe werden Papst und Bischöfe nur unzureichend gerecht. Der Papst schreibt aus seiner sehr subjektiven Perspektive Bücher über Jesus, die keineswegs geeignet sind, „für alle Menschen“ einen heute gangbaren Weg zu der faszinierenden Gestalt des Mannes aus Nazaret aufzuzeigen. Die Bischöfe – auch Kardinal Marx selbst – reden wie selbstverständlich vom „Dreifaltigen Gott“, von „Vater, Sohn und Heiligem Geist“, von einem „liebenden Gott“, von „Erlösung“, „Sühnetod Jesu“, „Messopfer“, „Jungfrauengeburt“, „Offenbarung“ und scheinen gar nicht zu wissen, wie problematisch die hier verwendeten theologischen Begriffe geworden sind, wie sie für viele gläubige Katholiken zu nichtssagenden Leerformeln entarteten. Sie haben auch noch nicht begriffen, wie schwierig eine glaubwürdige, zeitgemäße Antwort auf die Frage nach „Gott“ angesichts der Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften geworden ist. Warum wagt es der als „theologisches Schwergewicht“ geltende Benedikt XVI. nicht, deutlich auszusprechen, dass der in der Trinitätslehre verwendete Person-Begriff längst eine völlig andere Bedeutung erhalten hat als in der Zeit der Antike? Dass mit „Sohn Gottes“ im Horizont des Judentums zurzeit Jesu etwas völlig anderes verstanden wurde als in dem vom griechischen Denken geprägten „Sohn-Gottes“-Verständnis des Konzils von Chalkedon? Dass nach Auschwitz von einem „liebenden Gott“ nur noch mit größter Vorsicht und mit vielen Einschränkungen gesprochen werden kann? Dass das gesamte Gebäude der spekulativen Theologie aufgrund der Erkenntnisse der historisch-kritischen Erforschung der Bibel und der Historie dringend einer Renovierung bedarf, die zwar von zahlreichen Theologen längst in Angriff genommen wurde, vom obersten kirchlichen Lehramt aber mit größtem Misstrauen verfolgt und nicht selten rigoros geahndet wird?
Das betrifft auch noch einen weiteren neuralgischen Punkt: die Eucharistie. Kardinal Marx schreibt: „In ihr wird am deutlichsten, was Kirche ist, in welcher Gestalt und Ordnung sie lebt und wie der geheimnisvolle Gott an uns handelt in der Gemeinschaft des Volkes Gottes.“ Dazu wäre zunächst zu sagen, dass nicht zuletzt auch durch die Verweigerung grundlegender Strukturreformen immer mehr Kirchenmitglieder am Sonntag gar nicht mehr an einer Eucharistiefeier teilnehmen können. Alle Versuche, Liturgie in menschgerechter und theologisch haltbarer Sprache zu präsentieren, werden von Rom abgeblockt. Man braucht nur an den quälenden Prozess einer Neugestaltung des „Gotteslobs“ von 1974 zu denken, in den Rom immer wieder restriktiv eingreift.
Darüber hinaus ist zu fragen, ob eine nach den offiziellen kirchlichen Vorschriften gefeierte Liturgie heute noch „lebendig“ und attraktiv wirkt. Selbst für die meisten (noch) daran teilnehmenden Katholiken bleibt es ein geheimnisvolles, mehr oder minder unverständliches Ritual mit nicht nachvollziehbaren Texten und Gebeten, das von einem Priester veranstaltet wird. Laien haben dabei nichts zu sagen, sie dürfen nur die Lesungen und die Fürbitten vorlesen. Und in der von Papst Benedikt favorisierten Form der Tridentinischen Messe sind Ministrantinnen wieder vom Altar verbannt, der Zelebrant dreht dem Volk den Rücken zu, und die Liturgie wird in einer Sprache zelebriert, die das Volk nicht versteht. Sieht so der von Kardinal Marx zitierte „Kern des katholischen Glaubens und Lebens“ aus?
Marx schreibt weiter: „Das Petrusamt hat hier eine besondere Bedeutung und den Auftrag, die Vielfalt in Einheit zusammenzuführen, aber auch dem Vielfältigen in einer gewissen ,Subsidiarität’ Raum zu lassen.“ Da ist ihm nur zuzustimmen. Die Realität sieht leider anders aus. Papst Benedikt tut sich schwer mit der Ökumene. Er sieht in den Kirchen der Reformation nur „kirchenähnliche Gemeinschaften“, die den „gültigen Episkopat“ und „die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben“ (Dominus Jesus). Benedikt hat die Exkommunikation der vier Bischöfe der Piusbruderschaft bedingungslos aufgehoben, obwohl ihm die antijudaistische, islamfeindliche und demokratie-distanzierte Einstellung dieser Leute bekannt sein dürfte. Er zeigt großes Entgegenkommen gegenüber eher traditionalistischen Strömungen und Bewegungen in der katholischen Kirche und sperrt sich beharrlich gegen Forderungen nach grundlegenden Reformen der Kirche, wie sie von einer großen Mehrheit unter den Katholiken gestellt werden (Memorandum von 330 Theologinnen und Theologen, Offener Brief von namhaften katholischen deutschen Politikern, ZDF-Politik-Barometer u.a.). Offenbar geht es dem Papst gerade nicht um „Vielfalt in Einheit“ und auch nicht um „Vielfältiges in einer gewissen ‚Subsidiarität’“, sondern um die Rückkehr zu einer vorkonziliaren Uniformität der römisch-katholischen Kirche.
Kardinal Marx beschließt seine Ausführungen mit den Worten: „Die Krise der Kirche kann wie jede Krise auch ein Wendepunkt sein. Es gilt, die ,Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums’ zu deuten. Dann können sich Wege öffnen für eine wirkliche Neu-Evangelisierung, und die Kirche erneuert sich, indem sie tut, wozu sie gesandt ist, mit gelassener Zuversicht und ohne Angst.“ Das könnte eintreten, wenn Papst und Bischöfe nicht die Deutungshoheit über die „Zeichen der Zeit“ weiterhin allein für sich beanspruchten, wenn sie bereit wären und dazu den Mut hätten, die Wende nicht als „Wende rückwärts“ zu verstehen, wenn sie in ihrem Suchen nach Wegen für eine „wirkliche Neu-Evangelisierung“ auch die so genannten Laien mitverantwortlich und mitbestimmend einbeziehen würden, wenn sie in „gelassener Zuversicht und ohne Angst“ nicht von vornherein Tabu-Zonen um bestimmte Themen errichteten.
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