Josef Imbach: Ist Gott käuflich? |
Hans Maier. Böse Jahre, gute Jahre“ |
Imbach überschreibt sein Vorwort folgendermaßen: „Kein Lob des Opfers und kein Preis dem Tod!“ Es beginnt mit einem Zitat: „Seit er meinen Bruder (Jesus) kreuzigen ließ, um sich mit mir zu versöhnen, weiß ich, was ich von seinem Vater zu halten habe“. Dann geht es um die Frage von Schuld und Opfer und um das Gottesbild, das sich dahinter verbirgt. Kann man einen Gott, der immer nur fordert, wirklich lieben oder bloß fürchten? Es gab und gibt immer noch eine Straf- und Opfertheologie, in deren Kontext die Menschen sich ausschließlich und immer unter den strafenden Augen sehen und außer Stande sind, sich selbst anzunehmen. Immer noch sind viele Christen der Ansicht, man könne sich den Himmel verdienen, ja man muss es sogar. Die Furcht vor Gott führt zu Opfern und asketischen Übungen, Gebet, Leiden und Entbehrungen aller Art, die das Wohlverhalten Gottes provozieren sollen. Büßen und Sühnen, Leistungen des Menschen also, sind die Schlüssel zu Erlösung und Heil. Und schließlich wird auch der Tod, das Kreuzesopfer Jesu, mit Hilfe dieser Schlüsselbegriffe theologisch ausgelegt.
Aber Imbach weist in aller Deutlichkeit darauf hin, dass Deutungsversuche wie Kreuzesopfer, Sühnetod oder Rechtfertigung, dem Tod Jesu keineswegs gerecht werden können. Zudem sind diese Deutungen für viele Zeitgenossen kaum noch verständlich. In diesem Zusammenhang zitiert er aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre eine tieffromme Dame:„Es war mir eine Bibelwahrheit, dass das Blut Jesu Christi uns von allen Sünden reinige“. Sie gibt zu, dass sie „diesen so oft wiederholten Spruch noch nie verstanden“ hat. (12)
Nach diesen noch sehr allgemeinen Hinweisen widmet sich der Autor den „Opfervorstellungen in den Religionen“ anhand exemplarischer Beispiele, wobei sich zeigt, dass die Götter nichts umsonst tun. U.a. greift Imbach eine Stelle aus dem Buch der Richter heraus (11,29-40): Jifta legt ein Gelübde ab, in dem er Gott verspricht, wenn er im Kampf gegen die Ammoniter siegen wird, werde das Erste, was ihm nach dem Sieg aus dem Hause entgegenkommt, „dem Herrn gehören“; er wird es ihm dann auch als Brandopfer darbringen. Der Herr gab die Ammoniter „in seine Gewalt“. Als Erstes kam seine eigene Tochter ihm aus dem Haus entgegen und Jifta zögerte nicht, sie dem Herrn zu opfern. Die Tatsache, dass Gott Opfer fordert, steht für Jifta außer Zweifel; sie funktionieren nach dem bekannten Schema des „do ut des“ - ich gebe etwas in der Erwartung einer Gegenleistung - ein Prinzip der spätjüdischen Jurisprudenz. Wenn man den Segen Gottes haben will, muss man ihm etwas versprechen und das Versprechen halten, auch wenn es um das Leben der eigenen Tochter geht. Der Autor zitiert den griechischen Satiriker des zweiten Jahrhunderts Lukianos von Samosata: „Umsonst tun die Götter nichts. Die Güter, die sie den Menschen gewähren, sind gegen Barzahlung erhältliche Waren. Alles ist ihnen feil und hat seinen festen Preis: Gesundheit ist für ein Stierkalb, Reichtum für vier Ochsen…zu haben. (50) Die Vorstellung, dass man für Glück zahlen muss, lässt sich in fast allen Religionen nachweisen. In diesem Zusammenhang entwickeln sich auch im alten Israel Opfer aller Art wie Bitt- und Sühneopfer, Dank- und Lobopfer, Sünd-, Schuld- und Blutopfer, die im Verlauf der Geschichte Israels ritualisierte Formen erhalten. Das Gottesbild der Furcht verbirgt sich in all diesen Opferformen. Auch Jesus wächst mit diesen Opferritualen auf, setzt sich aber in seinem „öffentlichen Leben“ mit ihnen auseinander; das Gottesbild der Furcht ist nicht sein Bild von dem Gott, in dessen Namen er seine Botschaft des Erbarmens verkündigt und exemplarisch lebt. Josef Imbach wehrt sich mit aller Intensität vor allem an Hand klassischer neutestamentlicher Gleichnisse gegen dieses Gottesbild, das in der theologischen Entwicklung der kirchlichen Opfertheologie so viele Spuren der Angst und des Leistungsdrucks hinterlassen hat. Er hält dagegen: „Gott kennt keine käufliche Liebe“. (79 ff).
In diesem Kontext setzt Imbach sich mit den Deutungen des Todes Jesu auseinander, in deren Zentrum der Sühnegedanke und die Vorstellung der Besänftigung Gottes steht. Er fragt nach den religiösen und kulturellen Denkvoraussetzungen unterschiedlicher Deutungen des Kreuzestodes Jesu im ersten und Neuen Testament. U.a. untersucht er im Neuen Testament die sogenannten Schriftbeweise und interpretiert sie als eine Art von relecture, eine Lesung des Todes Jesu aus nachösterlicher Zeit, im Licht biblischer Texte ersttestamentlicher Vorgaben. Erkennbar liegt auch diesen „Schriftbeweisen“ das Schema zugrunde: „Ihr habt ihn getötet - Gott hat ihn aufgeweckt“. Die bekannte Frage des Anselm von Canterbury, warum Gott Mensch wurde und seine Antwort darauf interpretiert der Autor mit Gisbert Greshake so: „Nicht Gott und seine persönliche Ehre verlangen also Wiederherstellung, sondern die verunstaltete Welt“. (155) Imbach überschreitet auch in seiner persönlichen Antwort auf die Frage nach dem Wovon und Wofür des Kreuzestodes Jesu die traditionellen Muster: „Er hat uns von unserer Selbstsucht befreit zu einem Leben, das sich und sein Umfeld aus dem Geist und der Kraft der Liebe gestalten kann. Dies ist nicht erst durch den Opfertod Jesus geschehen; es ist geschehen in seinem Kommen und allen Phasen seines Wirkens, in dem er sich in Liebe hingegeben, sich uns geschenkt hat. Jede Deutung des Kreuzes muss sich daher daran messen lassen, ob sie jener bedingungslosen Liebe Gottes entspricht, die in Jesu Kommen und Wirken offenbar geworden ist“. (158) Seine Botschaft und sein Leben eröffnen „den Horizont für ein neues Menschsein und Leben“. Das gilt auch für die Feier des Messopfers. Sie ist nicht nur die Vergegenwärtigung des Kreuzopfers Jesu, so Imbach, sondern seines ganzen Lebens.
Für Imbachs Rede vom Opfertod Jesu gilt durchgehend: Sie ist der gelungene Versuch, das Mysterium des Lebens und Sterbens Jesu neu zu verstehen und dieses „Geheimnis des Glaubens“ in eine Sprache zu transponieren, die auch den heutigen Menschen aufhorchen lässt. Sein Bild von Gott strahlt ein Licht der Hoffnung jenseits aller tradierten Opfertheologien aus.
Das Buch ist zwar formal betrachtet kein einheitliches Werk, aber die Themen
der einzelnen Beiträge kreisen alle um Grundfragen der christlichen Erlösungslehre,
wobei es da oder dort zu inhaltlichen Überschneidungen kommen kann, die
aber in den meisten Fällen eine Vertiefung der grundlegenden Fragen darstellen.
Zudem stellt jedes Kapitel eine Einheit dar, die es erlaubt, nach eigenem Gusto
in das Gesamtthema des Buches einzusteigen. Insbesondere müssen die zahlreichen,
das Thema weiterführenden Zitate, aus Literatur, Bibel und Theologie erwähnt
werden. Gerade sie stellen die Frage der Erlösung und des Kreuzestodes
Jesu in einen weiten Kontext. So gelingt es Josef Imbach, die Merkmale der hergebrachten
Erlösungslehre neu zu deuten und in eine Sprache zu kleiden, die ihre existenzielle
Bedeutung für das Leben der Welt erkennen lässt. Ein Buch, das nicht
zuletzt wertvolle Anregungen für die christliche Predigt bereit hält:
Erlösung ist nicht Drohung, sondern Befreiung zu einer Hoffnung ohne Ende.
Erhard Bertel
Hans Maier. Böse Jahre, gute Jahre“
Ein Leben 1931 ff. 2011. 422 Seiten mit 68 Abbildungen,
Verlag: C.H. Beck, München
80 Jahre wird Hans Maier in diesem Jahr alt. Zu diesem Anlass erscheint seine Autobiographie.
In zwei große Teile ist das Buch gegliedert. Ein erster Teil handelt über „Die Freiburger Welt“ ein zweiter über „In München: Stadt, Universität, Politik.“ Der dritte Teil hat das Thema: „Die Zeit – und das ganz gewöhnliche Leben“.
In Freiburg wächst Maier auf, besuchte dort das Gymnasium, erlebte die Kriegswirren und das Naziregime.
Als Student besuchte er die Universität Freiburg und hatte als Berufsziel Gymnasiallehrer. Seine spätere Entwicklung zeigt ihn als begabt und vielseitig. Er wurde bekannt als Kultusminister, war Politikwissenschaftler und Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Seine Begabung zeigte er auch als Organist.
Lesenswert ist sein Konflikt, den er als junger Professor auf dem Hintergrund der Studentenrevolte austrägt. Er gründete als Gegenbewegung den „Bund Freiheit der Wissenschaft“.
In seiner Tätigkeit als Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken suchte er den Ausgleich. Er schreibt: „Ich habe vorkonziliar nie einem Bischof den Ring geküsst. Ich weigere mich aber auch, die Bischöfe nachkonziliar ins Bein zu beißen.“
Auf diesem Hintergrund ist erstaunlich, dass er bei der Gründung der Schwangerenkonfliktberatung den Verein deutscher Katholiken „Donum Vitae“ gegen die römischen Anweisungen unterstützte und damit auch den Konflikt mit den deutschen Bischöfen riskierte. Wir zitieren den Abschnitt des Buches, der sich mit diesem Vorgang befasst, im Anschluss an diese Besprechung.
Es ist ein unterhaltsames und anregendes Buch, auch für diejenigen, die dem „Konservativen“ Hans Maier nicht so nahe stehen.
Unter dem Abschnitt „Alter“ überliefert er eine Anekdote: „In den achtziger Jahren sagte eine Tochter einmal: >Es ist ganz einfach: Der Papa möchte in die Geschichte eingehen – die Mama in den Himmel!< Er fügt hinzu: „Könnte man nicht vielleicht doch beides verbinden – ein klein wenig Geschichte und am Ende viel Himmel?“
Auszug aus: Hans Maier „Böse Jahre, gute Jahre“, Seiten 368 – 372
„Nur fünf Jahre blieb Ratzinger (seit Juni 1977 Kardinal) Erzbischof von München und Freising. Schon früh versuchte Papst Johannes Paul II. ihn an die Kurie zu ziehen - zunächst als Präfekten für das katholische Erziehungswesen. Ratzinger lehnte unter Hinweis auf den erheblichen Reformbedarf in seinem Bistum ab. 1981 bot der Papst ihm den Vorsitz der Glaubenskongregation (Nachfolge Seper) an. Diesmal sagte Ratzinger zu, ließ sich aber die Zusicherung geben, dass er neben diesem Amt weiterhin persönliche theologische Texte publizieren dürfe. So begann 1982 die enge Zusammenarbeit Ratzingers mit Johannes Paul II., die bis zu dessen Tod andauern sollte - das Bündnis des Theologen mit dem Philosophen auf dem Papstthron, die Kooperation des polnischen Pontifex und des deutschen Kardinals, die freundschaftliche Beziehung zwischen einem charismatischen Verkünder und einem eher bedächtigen introvertierten Gelehrten.
Leider verschlechterten sich in dieser Zeit die Beziehungen des Kardinals zu den deutschen Katholiken. Reibungen und Konflikte häuften sich. Das reichte von der «eisernen» Haltung Roms in Sachen Sexualethik, Laien- und Frauenrechte bis zum kritischen Echo auf Katholikentage und Ökumenische Kirchentage. Die früher sehr enge Kommunikation der deutschen Laien mit Rom in der Zeit Pauls VI. ließ in der zweiten Hälfte des Pontifikats Johannes Pauls II. deutlich nach. Mancher Kontakt- und Gesprächswunsch wurde brüsk abgewiesen. Katholische Laien - aber auch Bischöfe und Priester - hatten von Kardinal Ratzinger ein besonderes Verständnis für ihre Probleme, eine bessere Vermittlung zwischen der Ortskirche und dem römischen Zentrum erwartet - doch leider vergebens.
Zu einer offenen Konfrontation kam es Ende der neunziger Jahre in der Frage der Schwangerschaftskonfliktberatung. Seit 1974 war in der Bundesrepublik Deutschland die gesamte Materie der §§ 218 ff. in mehreren Anläufen neugeordnet worden - in spannungsvoller Auseinandersetzung zwischen dem parlamentarischen Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgericht. Gegenüber der vom Bundestag 1974 beschlossenen reinen Fristenlösung stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass der Lebensschutz des Ungeborenen grundsätzlich für die ganze Dauer der Schwangerschaft galt und dass er Vorrang hatte vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren (1975). Der Gesetzgeber versuchte dieser Forderung durch eine weitgefasste Indikationenlösung, kombiniert mit Beratung, gerecht zu werden (1976). Nach dem Einigungsvertrag (1990) musste das Parlament erneut tätig werden, um eine Neuregelung für das wiedervereinigte Deutschland zu treffen. Auch hier wurde das 1992 verabschiedete Gesetz wegen der fristen-regelungsgleichen Ausgestaltung der Notlagenklausel vom Bundesverfassungsgericht verworfen (1993). Die vom Bundestag am 29. Juni 1995 beschlossene Neufassung sah vor, dass der - grundsätzlich strafbare - Schwangerschaftsabbruch dann straflos blieb, wenn 1. die Schwangere den Abbruch verlangte und dem Arzt nachwies, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hatte beraten lassen, 2. der Abbruch von einem Arzt vorgenommen wurde und 3. seit der Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen vergangen waren.
Eine zentrale Rolle in diesem System spielte die Beratung. Sie machte die Eigenart der deutschen Regelung aus - im Unterschied zu der reinen Fristenlösung, die in den meisten Ländern der Welt galt (wo auch mit wenigen Ausnahmen das Lebensrecht des Ungeborenen in den Verfassungen nicht garantiert war). Nach §219 diente die Beratung dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie sollte durch Rat und Hilfe dazu beitragen, die Konfliktlage im Zusammenhang der Schwangerschaft zu meistern - im Bewusstsein, dass der wirksamste Schutz für das Kind nur gemeinsam mit der Mutter erreicht werden konnte, und in der begründeten Hoffnung, dass sich die Mehrheit der Frauen nach eingehender Beratung für das Kind entscheiden würden.
In dieser Hoffnung trug auch die Kirche in Deutschland das staatliche Beratungskonzept mit und sorgte für katholische Beratungsstellen, die im weltanschaulich pluralen Beratungsangebot nicht fehlen durften. Doch von Anfang an gab es Gegner, die gegen die Mitarbeit der Kirche - übrigens beider Kirchen! - bei der Beratung protestierten. Diese Gruppe - unzweifelhaft eine Minderheit - fand bald auch in Rom Gehör. Sie argumentierte, der Nachweis der Konfliktberatung - ein entscheidender Bestandteil der deutschen Regelung - sei, da er die notwendige Bedingung für die straffreie Durchführung der Abtreibung bleibe, mitverantwortlich für die mögliche Tötung der Kinder; er sei eine «Tötungslizenz». In der folgenden Zeit verengte sich die Diskussion immer mehr auf die Ausstellung der Beratungsbescheinigung, des «Scheins» - obwohl dieser Schein in kirchlichen Beratungsstellen gewiss «nicht ausgestellt (wurde), um Straffreiheit fürs Töten sicherzustellen, sondern um die lebensorientierte Beratung zuverlässig zu dokumentieren» (Walter Bayerlein).
Im Frühjahr 1997 hörte ich, dass eine römische Weisung bevorstehe, die den deutschen Bischöfen den Ausstieg aus dem gesetzlichen System der Schwangerschaftskonfliktberatung vorschrieb. In einem Brief vom 28. April warnte ich Kardinal Ratzinger eindringlich vor einem solchen Schritt. Eine solche Weisung, schrieb ich, würde «Bischöfe und Kirchenvolk in tiefe Gewissenskonflikte stürzen ... Die katholischen Frauen, die sich in den Beratungsstellen mit Eifer für das Leben der Ungeborenen engagiert haben, würden ohne Grund vor den Kopf gestoßen. Katholische Laien, Richter, Parlamentarier, Publizisten, die sich - gegen eine massive Mehrheit der öffentlichen Meinung - für präzise Schutzbestimmungen eingesetzt haben (z. B. in Bayern), würden von ihrer Kirche öffentlich desavouiert...» Ich schloss mit den Sätzen: «Sie wissen, dass ich weder zum Dramatisieren neige noch unter dem leide, was unser gemeinsamer Freund Hans Urs von Balthasar den <antirömischen Affekt> nannte. Aber ich kenne den deutschen Katholizismus gründlich, und ich versichere Ihnen: mit einer römischen Weisung im angedeuteten Sinn wäre eine Schmerzgrenze überschritten. Daher diese dringliche und freimütige Warnung - aus Sorge um das Schicksal unserer Kirche, das uns gemeinsam am Herzen liegt.»
Eine Antwort erhielt ich nicht. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Zwar scheint es auch im Vatikan in dieser Sache verschiedene Meinungen gegeben zu haben: Angelo Sodano, der Kardinalstaatssekretär, hörte man, habe Verständnis für den deutschen Standpunkt geäußert, Joseph Ratzinger, der Präfekt der Glaubenskongregation, sei allerdings von Anfang an ein Gegner der deutschen Regelung gewesen. Am 11. Januar 1998 - sieben Monate, nachdem es angekündigt war! - erging das Schreiben des Papstes an die deutschen Bischöfe, in dem die Ausstellung eines Beratungsscheins durch katholische Dienststellen für die Zukunft unterbunden wurde. Das bedeutete den Ausstieg der Kirche aus dem Beratungssystem überhaupt. Die überwiegende Mehrzahl der deutschen Bischöfe, an der Spitze der Vorsitzende, Bischof Karl Lehmann, der bis zuletzt für eine Fortführung der Konfliktberatung gekämpft hatte, geriet dadurch in eine schwierige Lage. Die katholischen Beraterinnen - eben noch für ihr Tun von zahlreichen Bischöfen belobigt - sollten ihre Tätigkeit beenden, ohne dass ein Ersatz für die katholische Beratung bereitstand.
Die Würfel waren längst gefallen, als ich im November 1999 endlich mit Kardinal Ratzinger über den Vorgang sprechen konnte. Das war bei einer Tagung der Pariser Universität «2000 ans apres quoi?», bei der wir beide sprachen - neben Rémi Brague, Kurt Flasch, René Girard, Julia Kristeva, George Steiner und anderen. Wir trafen uns in der Pariser Nuntiatur. Ich schilderte dem Kardinal die Lage in Deutschland, die Enttäuschung und Erbitterung, die das Schreiben des Papstes unter den meisten Katholiken ausgelöst hatte. Ich warf ihm vor, dass er den Papst einseitig beraten habe - was er heftig bestritt: Niemand habe Johannes Paul II. von seiner «integralen Auffassung» des Lebensschutzes abbringen können.
Wir kamen auf die generelle Haltung der Kirche gegenüber Abtreibungen zu sprechen. Ich fragte, warum Rom die Fristenregelungen in aller Welt offensichtlich ohne besonderen Widerstand hinnehme und sich kaum bemühe, auf die dortige Gesetzgebung Einfluss zu nehmen - sich aber geradezu zornig gegen ein Land wende, in dem Abtreibung ausdrücklich als Unrecht bezeichnet werde und wo man versuche, dem Schwangerschaftsabbruch durch Beratung einen Riegel vorzuschieben - einen zugegebenermaßen brüchigen Riegel, aber doch einen Riegel, der anderswo fehle. Seine Antwort, die Fristenregelungsländer betreffend, lautete (wörtlich): «Da sind wir nicht involviert.» Ich war empört und deutete an, das hielte ich für die Antwort des Pilatus. Sei das wirklich die angemessene Haltung der Kirche: sich nur ja nicht einzumischen, damit man am Ende die Hände in Unschuld waschen könne - dafür aber die Engagierten, die eine mögliche Chance nutzten, zu tadeln und sie an ihrem Tun zu hindern? Ratzinger wurde zornig. Kurzerhand führte er den Widerstand gegen die päpstlichen Regelungen auf Glaubensschwäche, ja Glaubenslosigkeit zurück. War es die «déformation professionelle» des berufsmäßigen Glaubenswächters, der überall den Glauben in Gefahr sah, auch bei Fragen, über die man verschiedener Meinung sein konnte? Wir gingen unverrichteter Dinge auseinander - in der Sache unversöhnt.
Von Anfang an hatte ich in meinen Stellungnahmen zur Konfliktberatung darauf hingewiesen, dass man schwerwiegende Entscheidungen dieser Art, die tief in die gesellschaftliche Struktur in Deutschland eingriffen, nicht ohne Gespräche mit der evangelischen Seite treffen konnte. Denn durch den Rückzug der Katholiken wurde ja das Gewicht der christlichen Stimmen in der Beratung insgesamt geschwächt. In den verbliebenen katholischen Beratungsstellen (ohne «Schein») sanken die Konfliktberatungen bald auf den Nullpunkt. Die Kirche hatte ein wichtiges Aktionsfeld in der Gesellschaft ohne Not preisgegeben. Noch mehr: Sie ließ die Ungeborenen, um deren Leben die Beraterinnen in vielen Gesprächen rangen, ohne Schutz. Das konnte man, wenn man ein Wirken der Katholiken in der Gesellschaft für wichtig und nötig hielt, nicht einfach hinnehmen. Ich schloss mich Friedrich Kronenberg, Walter Bayerlein, Rita Waschbüsch und anderen an, die mit Hilfe des Zentralkomitees der deutschen Katholiken 1999 eine eigene Beratungsorganisation nach bürgerlichem Recht, aber in katholischem Geist mit dem Namen «Donum vitae» (Geschenk des Lebens) gründeten. Angriffe unerleuchteter Eiferer ertrug ich in Geduld. Gegen die beschämende, auf römischen Druck und gegen besseres Wissen abgegebene Erklärung der deutschen Bischöfe, Donum vitae stehe «außerhalb der katholischen Kirche» (2006), habe ich mich allerdings in einem «Zwischenruf» zur Wehr gesetzt - gemeinsam mit Hanna-Renate Laurien, Annette Schavan, Walter Bayerlein, Hanspeter Heinz, Friedrich Kronenberg und Bernhard Vogel.
Kardinal Ratzingers Verhalten in der Frage der Schwangerschaftskonfliktberatung enttäuschte mich. Ich war verwundert über seine mangelnde ökumenische Sensibilität in einer Sache, über welche die katholischen und evangelischen Christen in seinem Heimatland längst einig waren.“
Zurück zur Auswahl© imprimatur Oktober 2011
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