In dem vorangegangenen Beitrag wurde hervorgehoben, dass es in keiner Kultur eine derart zentrale Stellung von Individuum, Subjekt, Person und den daraus resultierenden Menschenrechten gibt wie in Europa. Dies kann als das unterscheidende Merkmal Europas angesehen werden. Dieses resultiert aus der abendländischen Christentumsgeschichte. Zum einen ist der Monotheismus die Voraussetzung für die Vorstellung von einer letzten Gültigkeit des Personalen, die nur im Gegenüber zur als absolute Person gedachten Gott entwickelt werden konnte. Das allein aber genügt nicht, wie die Geschichte zeigt. Es kommen weitere spezifisch europäische Besonderheiten dazu: Dazu gehören die lateinische Prägung sowie die Ausbildung des Personbegriffs, der sich in Christologie und Trinitätslehre ausgebildet hat, aber zunächst noch mehr die Bedeutung von „Rolle“ besaß.
Das wurde erst anders durch Boethius (gest. 524), dem wir den modernen Personbegriff verdanken. Boethius stammte aus altem römischem Adel und war Konsul unter Theoderich II. (Dietrich von Bern), der ihn später zum Tod verurteilte. Nebenher nahm er zu östlichen christologischen Streitigkeiten Stellung. Als Lateiner liebte er präzise Definitionen und legte Begriffe fest: Persona bezeichnet das Individuelle geistiger Seiender, im Gegensatz zu ihrer allgemeinen und gemeinsamen Realität (Natur und Akzidentien). Petrus, Paulus und andere sind alle Menschen, also von gleicher Natur, aber jeder ist auch eine unverwechselbare Person. So definierte er: „Person ist die individuelle Substanz einer geistigen (oder: geistfähigen) Natur“ (persona est individua substantia rationalis [rationabilis] naturae)[2].
Diese Definition war verhängnisvoll für die abendländische Theologie: In Gott werden fortan – trotz aller Betonung der Einheit – drei Subjekte („Iche“) gedacht, also ein verdeckter Tritheismus, beim Menschen Jesus ersetzte schon gemäß Boethius die ewige Person des Wortes die des Menschen, so dass ihm das Wichtigste am Menschsein, eine menschliche Personalität, fehlte. Aber für die übrige Geistesgeschichte Europas bedeutete die Definition eine Revolution und einen Gewinn: Bisher war in der antiken Tradition der Geist immer als etwas Allgemeines gedacht, der sich in den einzelnen Menschen erst individuiert durch die Verbindung mit der Materie, mit einem Leib, und die dadurch begründeten akzidentellen Unterschiede. So war Individualität also eine Folge akzidenteller materieller Bedingtheiten, die nur das allgemeine Geistsein des Menschen, seine eigentliche Würde, konkretisierten. Jetzt aber wurde erstmals der Gedanke formuliert, dass Geist substantiell und grundsätzlich individuell, subjektiv ist oder, wie man im Mittelalter spezifizierte: per se discernens se (Hugo von St. Viktor, gest. 1141)[3] , also immer reflexiv und mit Bewusstsein seiner selbst.
Weil der Mensch primär als denkfähiges Geistwesen, wenn auch mit einem Leib ausgestattet, gedacht wurde, ist er ganz wesentlich personal, d.h. Aktzentrum, Subjekt, Selbstbewusstsein. Die Definition des Boethius wurde auf einem Konzil in Frankfurt im Jahr 794 im Kampf gegen den spanischen Adoptianismus übernommen und von da an Gemeingut der mittelalterlichen und neuzeitlichen Tradition.
Damit war Europa ein Begriff in die Wiege gelegt, mit dem das Subjektsein als zentrale anthropologische Wirklichkeit umschrieben werden konnte – Basis des europäischen Personalismus, den schon Roger Bacon (gest. 1292) radikal formulierte: Er kritisierte Theologen und Philosophen, die immer von dem Allgemeinen und den Universalia redeten: „Ein einziges Individuum übertrifft alle Universalien der Welt“ (Unum individuum excellit omnia universalia de mundo)[4]. Dieser Satz hat zwar allgemeinere erkenntnistheoretische Implikationen, gilt aber auch für den Menschen.
5 Die strukturelle Besonderheit der abendländischen Geschichte
Dass der einzelne Mensch in seiner Personalität, zu der auch sein Denken, Verstehen und Handeln gehören, auch faktisch zum Movens der abendländischen Geschichte wurde, hat allerdings kulturgeschichtliche Ursachen, die noch tiefer reichen und die im Folgenden kurz angedeutet werden. Deswegen wird ein Blick in die kultur- und religionsgeschichtlichen Besonderheiten des Mittelalters unverzichtbar, aus denen das neuzeitliche und moderne Europa entstanden ist.
Für unsere Frage wird meist lediglich auf die Antike und ihr Wiederaufleben in Renaissance und Humanismus hingewiesen, um die spätere emanzipatorische Entwicklung, z.B. in Aufklärung und in modernen Naturwissenschaften, zu erklären. Hierbei wird übersehen, dass durch das gesamte Mittelalter die antiken Traditionen, in Philosophie, Theologie und Wissen über die Natur, eine große Rolle spielten. Das war keineswegs neu und kann keineswegs die tief reichende Geschichte der Emanzipation von Vernunft und Subjekt plausibel machen, die der europäischen Kultur eigentümlich ist. Erst der Blick auf die gesamte mittelalterliche Geschichte lässt verstehen, wie und warum sich diese europäischen Entwicklungen ergeben haben. Das kann im Rahmen eines kurzen Beitrags natürlich nur kursorisch und mit Erwähnung einige weniger zentraler Motive geschehen.
5.1 Die übermächtige Herausforderung der abendländischen Kultur
(1) Die neue Situation nach der Antike
Im Mittelalter verlagerte sich das Zentrum der westlichen Kirche zunehmend aus dem Mittelmeerraum nach Norden. Dieser Raum war nur dünn besiedelt und vorwiegend agrarisch geprägt; kleine Städte gab es nur wenige – im westlichen Europa meist dort, wo sie auch schon zu römischer Zeit bestanden, im übrigen Europa bildeten sie sich viel später um Klöster oder befestigte Herrschersitze. Die Bevölkerung bestand aus Germanen sowie – bis auf wenige Sprachinseln – romanisierten Kelten und Slawen. Diese Völker und Stämme besaßen durchaus differenzierte, wenn auch so gut wie schriftlose Hochkulturen, die aber der antiken Kultur weit unterlegen waren.
Der Szenenwechsel war gewaltig. War das Christentum der Antike vor allem eine Stadtreligion und waren die Christen urbane Menschen, die auch an den theologischen Diskussionen teilnahmen, blieb dagegen das mittelalterliche Christentum lange Zeit agrarisch geprägt, und die Christen waren Objekte einer seelsorgerlichen Betreuung. Theologie wurde eine Angelegenheit der Schulen (Scholastik). Die Missionierung Europas ging vor allem von Irland und Schottland aus, dessen Clanklosterchristentum seinerseits wohl auf Einflüsse griechischen Mönchtums zurückzuführen ist. Seit dem 8. Jahrhundert aber verstärkt sich der Einfluss des lateinischen Christentums durch die angelsächsische Mission und die Pippinsche und karolingische Politik. Mehr und mehr wird das Abendland vom spätantiken lateinischen Christentum geprägt, das bald zur Grundlage der universalen mittelalterlichen Kultur wird[5].
(2) Die Spannung zwischen objektiver fides und subjektivem Denken
Das Mittelalter stand von Anfang an vor einer gewaltigen Herausforderung; es musste sich das komplexe und überlegene Erbe der christlichen Antike zueigen machen. Mit der Christianisierung wurde ja nicht nur die Annahme des Glaubens an Jesus Christus erforderlich, sondern auch der Resultate der antiken theologischen Entfaltung bzw. Inkulturation des Christentums. Die Trinitätslehre und die Zwei-Naturen-Christologie, die Erbsünden-, Gnaden- und Prädestinationslehre, die Kirche mit ihren mittlerweile schon recht geformten Strukturen und Vollzügen, alles das war für den mittelalterlichen Menschen vorgegebener Inhalt des Glaubens, der fides. Zur fides zählten also die früheren Beschlüsse von Konzilien, die Schriften antiker Theologen, soweit sie bekannt waren, vor allem des Augustinus. fides war also nicht einfachhin der Glaube an Jesus Christus und die dadurch begründete Nachfolge, sondern das Gesamt der antiken theologischen und ekklesiologischen Entwicklungen, die gehorsam anzunehmen waren.
„Das christlich-europäische Mittelalter unterscheidet sich von der Ungebrochenheit anderer ,Mittelalter‘ durch eine schon von Anfang an angelegte Gespaltenheit seiner Kultur, welche darin begründet ist, daß jene Gemeinschaft, welche dem Mittelalter seine Religion brachte, die Kirche, nicht mit dieser Zeit geboren, sondern das Ergebnis und Erbe der Endstufe der vorangegangenen, der antiken Kultur war[6].” Die Gespaltenheit des Abendlandes war von besonders tiefer Art dadurch, dass die überlegene antike christliche Theologie und Kirche zugleich mit dem Anspruch auftraten, göttliche Offenbarung und selbst Inhalt der objektiven fides zu sein; nach den ebenfalls vermittelten lateinischen Rastern war diese fides Ausdruck des göttlichen (Heils-)Willlens und erforderte eine gehorsame Annahme.
Diese Herausforderung war gewaltig und beinahe gewaltsam. Ihr standen gegenüber germanische, romanische, slawische Menschen, die sich erst einmal mühsam in die lateinische Fremdsprache und die antike Theologie einarbeiten mussten. Sie brachten von ihren ethnischen kulturellen Traditionen und Mentalitäten her zunächst nur wenige Voraussetzungen mit und empfanden sich im Gegenüber zur objektiven fides zunächst einmal auf sich selbst zurückgeworfen; sie sahen sich als Einzelne, die mit den Mitteln ihres Verstandes auf die gehorsame Aneignung des „Glaubens” verpflichtet waren. Die Diastase von objektiver göttlicher fides und subjektivem menschlichem Denken war diesem Vermittlungsprozess des Christentums ins Abendland von Anfang an mitgegeben.
Anselm von Canterbury formuliert programmatisch die Aufgabe der mittelalterlichen Theologie: fides quaerens intellectum, der Glaube ist mit den Mitteln des Verstandes vom „Subjekt” zu ergründen und zu begründen. Weil viele Prozesse des Synkretismus von Hellenismus und Latinität auf der einen und biblischem Kerygma auf der anderen Seite zu aporetischen Ergebnissen geführt hatten (z.B. die Trinitätslehre, Christologie usf.), erschienen sie den mittelalterlichen Theologen als Geheimnisse, die die Möglichkeit des bloßen Denkens übersteigen, eben weil sie göttliche Offenbarungen sind. Seit Dionysios Ps-Areopagites bürgerte sich der Begriff hyperfyés, supernaturalis, ein. Der Glaube war also übernatürlicher Herkunft und deswegen dem Verstand nicht zugänglich.
Die Prägung des Mittelalters durch den christlichen (Neu-) Platonismus der lateinischen Spätantike tat ein Übriges, diesen Denkansatz zu verstärken: Wie im Platonismus die eigentliche, wahre Erkenntnis nicht über die Sinneswahrnehmung gewonnen werden konnte – diese blieb schattenhaft und unvollkommen –, sondern in der unmittelbaren Schau der idealen Wirklichkeit, im vorchristlichen Platonismus durch Anámnesis, memoria (des Geistes an seine Präexistenz in der idealen Welt) gründete, so war die tiefste Erkenntnis der Glaubenswahrheiten im christlich gewendeten Platonismus (eine Präexistenz wurde abgelehnt) nur durch illuminatio, Erleuchtung durch Gott (so schon Augustinus[7] ), möglich. Erleuchtung durch Gott aber ist ein Akt seiner Gnade; wer also mit seinem Denken die Glaubenswahrheiten falsch interpretierte, musste ein Sünder sein, der sich gegen die Gnade Gottes sperrte. Dieser Raster wurde dann auch zur Rechtfertigung des harten kirchlichen Vorgehens gegen die „Ketzer” benutzt.
Die Anfänge dieser tief reichenden Spaltung zwischen objektiver göttlicher Offenbarung und dem „bloß” denkenden Subjekt reichen in die lateinische Spätantike zurück, in der die Kluft zwischen fides und intellectus, z.B. bei Augustinus, schon eine große Rolle spielte. Im letzten Kapitel seines Trinitätsbuchs schreibt er: „Auf diese Glaubensregel (regula fidei) richtete ich mich aus, so gut ich konnte und soweit du (Gott, Verf.) mir die Fähigkeit dazu gegeben hast; ich suchte dich und verlangte, mit meinem Verstand zu sehen, was ich glaubte (desideravi intellectu videre quod credidi)”[8] .
Natürlich waren im Mittelalter über lange Zeiten nur Schultheologen an der theoretischen Diskussion der genannten Fragestellung beteiligt. Dennoch aber scheint letztere ebenso die einfachen Christen berührt zu haben. Auch sie wurden durch die kirchliche Verkündigung mit komplizierten Dogmen konfrontiert; sie erlebten Gottesdienste, Sakramentenspendung und sonstige kirchliche Handlungen bis hin zur Segnung der Felder als unverständliche, von einer fremden Sprache begleitete Riten, die nur Spezialisten – die Kleriker – vollziehen konnten; die offizielle Kirche begegnete ihnen als ein von Gott gestifteter Machtapparat, auf den sie für ihre Suche nach Heil angewiesen waren.
(3) Das Mittelalter als eine Geschichte der Emanzipation von Subjekt und Intellekt
Die abendländische Kultur konstituierte sich also auf der Basis der Vermittlung der überlegenen, differenzierten antik-christlichen Tradition; diese wurde zugleich als göttliche Offenbarung verstanden. Aus der Aufgabe, diese fides[9] mit der subjektiven Vernunft zu erfassen, ergeben sich die Phasen der mittelalterlichen Theologiegeschichte.
Das Abendland reagierte auf die ihm gestellte Aufgabe zunächst rezeptiv: es ging in die Schule. In der seit Martin Grabmann so genannten Vorscholastik (vom 7./8. bis zur ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts) wurden in den Klosterschulen die lateinische Sprache, Lesen und Schreiben, Logik, Grammatik, Rhetorik usf. gelernt. Die spärlich verfügbaren spätlateinischen Schriften wurden in Catenensammlungen (kettenähnlich aneinander gereihte Zitate) und Florilegien aufgeschrieben und internalisiert.
Die Frühscholastik (2. Hälfte des 11. und das 12. Jahrhundert) ist dadurch gekennzeichnet, dass jetzt – wenigstens für klerikale und mönchische Eliten – nicht nur ein breiteres Repertoire von Schriften der christlichen und „heidnischen” Antike, über die Theologie hinaus auch viele philosophische Bücher, zur Verfügung standen, sondern auch die eigene Denktätigkeit geschult und ihrer selbst sicherer geworden war; einige Kloster- und Kathedralschulen, wie die von Chartres oder von St. Viktor in Paris, brachten eine Reihe von Theologen, die zugleich auch Philosophen waren, hervor.
Am Beginn dieser Epoche stehen zwei sehr verschiedene Männer, der „kirchliche” Anselm von Canterbury und der „kritischere” Abälard. Anselm setzt die kirchliche Glaubenslehre als objektiv wahr voraus. Aber er schafft, ohne die Norm der fides in irgendeinem Punkt zu hinterfragen, dem Denken einen großen Raum: Er will die Glaubensaussagen mit den Mitteln der (bloßen) Vernunft aufzeigen (si Christus non daretur). Petrus Abälard sieht in den Glaubensüberlieferungen viel deutlicher die Dissonanzen, Widersprüche und Schwierigkeiten; in seiner Schrift Sic et Non (Ja und Nein) ordnet er widersprüchliche Aussagenreihen zusammen, deren Divergenzen ihm dann gestatten, sein eigenes Urteil dazu abzugeben. Zwar bleibt auch er seiner Zeit verhaftet, den Glauben selbst stellt er nicht in Frage. Aber er schafft dem Denken doch einen größeren Freiraum, indem er z.B. einfach feststellt, dass die Trinitätslehre oder die Aussagen des sog. Apostolischen Glaubensbekenntnisses vom descensus ad inferos (dem Abstieg ins Reich des Todes) keine biblischen Grundlagen besitzen.
Die von der Normativität der fides erzwungene Aufmerksamkeit für die Subjektivität und die Problematisierung des subjektiven Denkens hatte erkenntnistheoretische Auswirkungen, darüber hinaus aber auch „praktische”. Abälard schrieb ein Buch zur Ethik mit dem Zusatz „Erkenne dich selbst” (Ethica seu Scito te ipsum). In ihr rückt er von der mittelalterlichen Überzeugung ab, dass es ethisch nur auf das Tun ankomme; wichtiger sei die (subjektive) Gesinnung, die intentio.
In der Hochscholastik (13. und frühes 14. Jahrhundert) erreichte die Synthese von Glauben und Wissen ihren Höhepunkt, wie sie sich literarisch in den Summen der Theologie oder architektonisch in den gotischen Kathedralen, eine Synthese von Himmel und Erde, darstellt. Sowohl die Kenntnisse der kirchlichen Glaubenstradition waren jetzt umfassender als früher wie auch die Möglichkeiten des differenzierten Denkens in Philosophie und Theologie in beeindruckender Weise entwickelt. Hierbei repräsentierten die beiden Bettelorden, die die meisten Lehrstühle an den Universitäten besetzen konnten und miteinander konkurrierten, unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, eine mehr „intellektualistische” Linie der Dominikaner- und eine stärker „praktische” Orientierung der Franziskanertheologie.
Erstmals wurde in dieser Zeit die Selbständigkeit der Philosophie, also des (geschulten) Denkens, den Vorgaben des Glaubens gegenüber postuliert. In der Diskussion, ob die These des Aristoteles von der Ewigkeit der Materie philosophisch vertreten werden dürfe, schrieb Thomas von Aquin (+1274) an seinen Ordensgeneral: „Ich kann nicht sehen, inwiefern es die Glaubenslehre betrifft, wie die Worte des Philosophen (Aristoteles, Verf.) ausgelegt werden”[10] . Eine „doppelte Wahrheit“ – eine glaubensgemäße und zugleich eine (abweichende) rationale?
Die Synthese von fides und intellectus, objektiver Vorgabe und subjektiver Aneignung zerfiel schließlich in der Spätscholastik (frühes 14. und 15. Jahrhundert). Diese Trennung bewirkte, dass der – den Verstand überschreitende – Glaube, vor allem seine praktisch-ethischen Forderungen, nicht mehr systematisch-philosophisch, sondern positivistisch der Bibel entnommen (Biblizismus) und auch kritisch gegen die kirchliche Praxis benutzt wurden (Wyclif, Hus). Auf der anderen Seite aber verlor das Denken, die Philosophie, die bisherige Stütze im Glauben und war sich selbst überlassen. Menschliches Denken wurde an seinen Möglichkeiten irre, die Realität erreichen zu können. Die Dinge erschienen wieder als einzelne, die erst durch unser Denken unter Allgemeinbegriffen zusammengefasst werden. Für Wilhelm von Ockham (gest. 1347) sind nur die Einzeldinge real. Unsere Begriffe sind Produkte menschlicher Verstandestätigkeit, sie sind bloße Namen, nomina (Nominalismus). Der Nominalismus erweist sich „als gelebte Theorie, als Lebenspraxis des ,uomo singulare‘ bzw. ,uomo unico‘, der aufgrund eines gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses um die Relativität der Erkenntnisse und Werte weiß”[11] .
5.2 Ein zweiter, „thematischer“, Rückblick auf das Mittelalter
Die in den vorherigen Überlegungen skizzierte Problematik, die sich mit der Konstitution des Abendlandes ergaben, soll kurz durch weitere Gesichtspunkte vertieft werden.
(1) Die Hinwendung zur Erscheinungswelt
Das Abendland kannte die Schriften des Aristoteles lange Zeit nicht; sie wurden erst im 12. und 13. Jahrhundert durch Vermittlung der muslimischen Philosophie bekannt und dann rezipiert. Weder in der Antike – Aristoteles war Schüler Platons – noch in der islamischen Philosophie, die Aristoteles in neuplatonischer Interpretation las[12] , wurden diese Schriften als Gegensatz zu Platon wahrgenommen. Anders im Abendland; hier führte ihre Rezeption zu einer Wende des Denkens.
Mit der Annahme des aristotelischen Hylemorphismus, demzufolge jedes geschöpfliche Seiende aus Materie (hyle) und Form (morphé) zusammengesetzt ist, war für die menschliche Erkenntnis die Möglichkeit denkbar geworden, die (allgemeine) Form eines konkreten Seienden durch Abstraktion aus den Einzeldingen mittels seiner Vernunft, die dabei aktiv werden musste, herauszulösen.
Damit wurde die menschliche Erkenntnistätigkeit verwiesen auf die Erscheinungswelt, die durch die Sinne wahrnehmbar ist; Erkenntnis wurde nicht mehr „von oben“, durch Erleuchtung, sondern an den sichtbaren Dingen gewonnen. Diese conversio ad phantasmata, die Hinwendung zur Erscheinungswelt[13], war eine Art von Revolution der bisher bestimmenden platonisch-neuplatonischen oder auch augustinischen deduktiven Erkenntnistheorie.
Diese vor allem von Thomas von Aquin energisch vertretene aristotelische Erkenntnistheorie aber war induktiv. Der Verstand wandte sich im Erkennen der empirischen Welt zu, nur sie war Gegenstand der Erkenntnis. Zwar gab es auch noch die Metaphysik, aber ihre Aussagen wurden „lediglich” durch Schlussfolgerungen gewonnen, auf der schmalen Basis der Überzeugung von der Geltung der Kausalprinzipien auch über die Empirie hinaus und einer (aufgrund des Schöpfungsglaubens) angenommenen analogia entis. Allerdings beschränkte Thomas von Aquin diese induktive Methode auf den Bereich der Philosophie, also des geschulten Denkens. Für die Theologie blieb er bei den platonisch-augustinischen deduktiven Rastern.
Diese erkenntnistheoretische Wende führte zu einem neuen Interesse an der Natur, deren Abläufe man beobachtete, und schließlich zur Entstehung der Naturwissenschaften. Damit war der menschlichen, subjektiven Erkenntnistätigkeit eine neue Autonomie zugewachsen, die bald in nicht wenigen Fällen auch zu einer Kollision individueller Welterkenntnis mit der fides führte, wie dies plakativ in der „kopernikanischen Wende“ oder in dem Galileo Galilei (fälschlich) zugeschriebenen Satz „Und sie bewegt sich doch” zum Ausdruck kommt. Das neue Interesse an der Weltwirklichkeit richtete sich auch auf Gesellschaft und Staat und führte bald dazu, auch ihr Funktionieren unabhängig von der fides, z.B. in der Volkssouveränität, zu begründen (Marsilius von Padua [gest.1342/43]).
(2) Die schöpferische subjektive Vernunft
Ein zweiter Gesichtspunkt ist für den Aspekt der Individualisierung wichtig. Thomas unterschied im Anschluss an Aristoteles zwischen einem mehr rezeptiven Verstand (intellectus possibilis) und einem tätigen Verstand (intellectus agens). Letzterem fiel die Aufgabe zu, aus den durch die Sinneseindrücke vermittelten Dingen die Form herauszulösen und einen Begriff zu bilden. Auch die muslimische Philosophie hatte die aristotelische Vorstellung von einem „tätigen Verstand” aufgegriffen, diesen aber im Sinne der neuplatonischen Interpretation als eine aus Gott durch Emanation hervorgegangene Hypostase verstanden, an der die Menschen in der Erkenntnis teilhaben können. Weil der intellectus agens hierbei also eine überindividuelle und vorzeitliche Hypostase war, trug er bei zur Ent-Subjektivierung der menschlichen Erkenntnis; Erkenntnis ist Teilhabe an diesem Allgemeinen.
Thomas dagegen, und in seinem Gefolge die weitere scholastische Philosophie, verstand den intellectus agens als ein subjektives Vermögen, mittels dessen jeder einzelne die empirische Welt und durch Schlussfolgerung sogar über sie hinaus erkennen kann. Nur der intellectus agens des einzelnen Denkenden kann die Formen herauslösen und Begriffe bilden. So wird der Mensch im Erkenntnisvorgang der Abstraktion schöpferisch tätig, alle Begriffe sind – obwohl in den Formen der Dinge grundgelegt (erkenntnistheoretischer Realismus) – subjektiv produziert. Der Grundstein zur neuzeitlichen „subjektiven Wende” war gelegt, der (Einzel-) Mensch erscheint, wenigstens außerhalb der Theologie, als aktives Subjekt der Erkenntnis.
Zwar blieben die Spielräume des Denkens noch längere Zeit durch die objektive Vorgabe der fides eingeengt und die Denktätigkeit damit gewissermaßen kanalisiert; aber in the long run entfaltete sich die Sprengwirkung dieser erkenntnistheoretischen Etablierung des Individuums.
(wird fortgesetzt)
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