Je relativer, desto besser
(Befreiungs-)Theologische Kritik der Beschwörung des Absoluten

Ein der Redaktion bekannter Theologe hat uns den folgenden Vortrag zum Abdruck übergegeben. Während dieser Vortrag gehalten wird, nimmt Benedikt XVI. auf dem Münsterplatz in Freiburg i. Br. ein Bad in der Menge der Gläubigen und trifft sich alsdann mit Altkanzler Dr. Helmut Kohl.

1. Das Gespenst des Relativismus

Rom, 18. April 2005: Gottesdienst zum Auftakt des Konklaves. In seiner Eigenschaft als Dekan des Kardinalskollegiums hält Joseph Kardinal Ratzinger die Predigt. Er kommentiert darin u. a. Eph 4,14, wonach wir keine unmündigen Kinder sein sollen, die sich im Spiel der Wellen von jedem Widerstreit der Meinungen hin und her treiben lassen – „dem Betrug der Menschen ausgeliefert, der Verschlagenheit, die in die Irre führt“. Ratzingers Kommentar ist gezielt, programmatische Wahlempfehlung sozusagen, denn dagegen hat der zu Wählende nach Ratzinger in erster Linie zu kämpfen. Und als oberster Glaubenshüter hat sich Ratzinger in den letzten Jahrzehnten gerade darin einen Namen gemacht wie sonst keiner unter den Kardinälen. Ratzinger kommentiert die Epheser-Stelle wie folgt:

Eine sehr aktuelle Beschreibung! Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in diesen letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen… Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter. Jeden Tag entstehen neue Sekten, und dabei tritt ein, was der hl. Paulus über den Betrug unter den Menschen und über die irreführende Verschlagenheit gesagt hat (vgl. Eph 4,14). Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich »vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen«, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.

Seither geht im Vatikan das Gespenst von der „Diktatur des Relativismus“ um. Als Benedikt XVI. wiederholt es Ratzinger oft und gerne – nunmehr mit höchster Autorität ausgestattet: beim Neujahrsempfang seines diplomatischen Corps 2007 z. B. oder 2008 bei einer Begegnung mit den Bischöfen der USA in Washington, 2009 beim Besuch in der Tschechischen Republik und bei der Generalaudienz zum 150. Todestag des Pfarrers von Ars, 2010 in der Botschaft zum Weltjugendtag von 2011 und bei einer Predigt in Glasgow sowie im November 2010 erneut vor dem Kardinalskollegium anlässlich der Ernennung von 24 neuen Kardinälen. Es ist dieses Gespenst, das mich zu den folgenden Überlegungen führte.

Nun könnte man einwenden, dass die kritische Beschäftigung mit diesem Diktum und mit diesem Papst ganz allgemein schon hinlänglich geschehen ist und fast schon zu viel der Ehre sei. Warum ich es dennoch wage, hat nicht nur mit dem Thema des Relativen zu tun, sondern hat mindestens drei Gründe. Erstens sagt dies nicht irgendjemand, sondern der „Heilige Vater“, der sich nicht damit zufrieden gibt, „Patriarch des Abendlandes“ geheißen zu werden, sondern der sich in Einklang mit dem Ersten Vatikanischen Konzil zu Höherem und Universalerem berufen glaubt. Dass der Papst just in diesen Tagen Deutschland besucht, ist eine glückliche, durchaus sinnträchtige Koinzidienz. (Nur nebenbei: Ratzinger selbst würde dabei wohl das Wort „Fügung“ oder „Vorsehung“ bemühen; alles, was in seiner Biografie seine Karriere voranbringt, interpretiert er in seinen Interviews als Fügung, als göttliche Fügung oder als Vorsehung. Das verrät viel über sein Selbst- und Sendungsbewusstsein.) Zweitens geht es Ratzinger/Benedikt nicht um innerkirchliche Querelen, sondern letztlich um gesellschaftspolitische Optionen, die höchst bedenklich sind. Herausgearbeitet haben dies nicht zuletzt Alan Posener[1] sowie Hubertus Mynarek, Richard Corell und Ronald Koch[2] . Damit verbunden ist drittens die systematische Bekämpfung und Verfolgung der Theologie der Befreiung. Die beiden letzten Punkte hängen eng zusammen. Wir kommen darauf zurück.

Doch zunächst zum Generalthema „Das Relative“: Nach Ratzinger kommt das Relative nur im despektierlichen Gewand des Relativismus daher. Ihm ist es um die Relativierung zu tun. Und diese hat mit dem Guten nichts gemein, aber auch gar nichts, sondern ist per se schlecht. Je relativer, desto schlechter also. Und dies ist Ratzinger so sehr ein Anliegen, dass er in seiner Wahlempfehlungspredigt den Ephesertext in seinem Sinne zurecht biegt. Denn in Eph 4,14 geht es mitnichten um Relativierung und schon gar nicht um Relativismus. Vielmehr geht es um den Widerstreit unterschiedlicher Meinungen. Ein Widerstreit entsteht dort, wo diese Meinungen allesamt als Standpunkt der Wahrheit behauptet werden. Also gerade nicht um Relativismus geht es dem Epheserbrief, sondern um den Streit von mehreren Meinungen, die allesamt Wahrheit, absolute Wahrheit vielleicht gar, beanspruchen. Und in diesem Widerstreit braucht es nach dem paulinischen Verfasser des Epheserbriefs die Standfestigkeit mündiger Gläubiger, die in ihrem Glauben an Jesus Christus erwachsen sind, die sich nicht hin und her treiben oder in die Irre führen lassen. Demgegenüber ist es Joseph Kardinal Ratzinger um die Relativierung des einen christlichen Glaubens zu tun. Diese gilt es nach ihm zu bekämpfen, und zwar durchaus nicht nur innerhalb der Kirche, sondern noch fast mehr in der Gesellschaft. Gemeint ist die Relativierung der Werte in der modernen Gesellschaft, der christlichen Werte, versteht sich. Und diese Relativierung sieht Ratzinger unlöslich mit den modernen Demokratien verbunden, weshalb er, insofern ist er konsequent, auch diese Demokratien selbst beargwöhnt – wenn auch nur verklausuliert, denn durch allzu direkte Benennung würde er sich im öffentlichen Diskurs zu offensichtlich diskreditieren. Wenige Tage vor dem Konklave erschien Ratzingers Büchlein „Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen“. Darin lesen wir:

"Der moderne Begriff von Demokratie scheint mit dem Relativismus unauflöslich verbunden zu sein; der Relativismus aber erscheint als die eigentliche Garantie der Freiheit, gerade auch ihrer wesentlichen Mitte – der Religions- und Gewissensfreiheit." (S. 51)

Was sagt hier der Anwärter auf den Papstthron? Die moderne Demokratie – eine Frucht des Relativismus? Nicht des Relativen wohlverstanden, nicht einmal der Relativierung! Sondern Ratzinger bemüht bewusst den „-ismus“, spricht gezielt abwertend von „Relativismus“. Und so verwundert es nicht, dass er im gleichen Atemzug die Religions- und Gewissensfreiheit madig macht. Sie ist nach ihm die „wesentliche Mitte“ der Freiheit moderner, demokratischer Gesellschaften, und ihre eigentliche Garantie ist nach Ratzinger eben der Relativismus – dieses Gespenst, das irrlichtert im Kopf des Pontifex maximus und noch in einigen anderen vatikanischen Köpfen mehr. Und man sage nun nicht beschwichtigend, ich überinterpretiere hier einen aus dem Zusammenhang gerissenen Satz des Papstes. Der Satz nämlich steht im Buch unter dem ohne Fragezeichen gesetzten Zwischentitel „Der Relativismus als Voraussetzung der Demokratie.“ Wir ahnen spätestens hier, dass es dem Ratzinger-Papst nicht einfach um ein innerkirchliches Problem oder um eine Frage der Glaubensgewissheit geht. Völlig zu Recht merkt Alan Posener an, dass er sich nicht sicher sei, ob Ratzinger wirklich in erster Linie Theologe sei. Jedenfalls sei er ein „eminent politischer Mensch, der bei theologischen Fragen immer die politischen Folgen bedenkt“[3] . Die Demokratie also stellt dieser Pontifex, dieser Brückenbauer, zur Disposition, indem er sie des Relativismus zeiht. Und etwas Schlimmeres als „Relativismus“ lässt sich nach Joseph Ratzinger kaum diagnostizieren. Um dies deutlich zu machen, möchte ich mit einem kurzen Blitzlicht einige Jahrzehnte zurückblenden. Dieses Blitzlicht wird zugleich zeigen, dass es entgegen vielfacher Behauptung keinen wirklichen Bruch gibt im Denken Ratzingers. Der junge Konzilstheologe fühlte sich vielleicht gebauchpinselt, mit den Großen von damals Seite an Seite für Reformen einzustehen, lehnte sich aber auch da im Rom des Konzils nirgends aus dem Fenster. Seine reaktionäre Gesellschaftssicht war da längst zementiert. Von seinem Vater und seinem Großonkel Georg und von Kardinal Faulhaber, seinem ersten Idol, aber auch von Augustinus und Bonaventura.

2. Blitzlicht in die Vergangenheit

Sommer 1968. Hans Küng, der vor zwei Jahren Ratzinger nach Tübingen gelockt hat, setzt sich nach wie vor wöchentlich einmal zum Essen zusammen mit seinem Kollegen. Ratzinger schreibt in diesem Sommer das Vorwort zu seinem neuen Buch, das aus den Tübinger Vorlesungen vom Sommersemester 1967 hervorgegangen ist. Es trägt den Titel „Einführung in das Christentum“ und wird ein Bestseller werden und in 17 Sprachen übersetzt. Nur am Rande sei erwähnt, dass Ratzinger sich in diesem Vorwort explizit in die Tradition seines 1966 verstorbenen Tübinger Vorgängers, des prominenten und überzeugten Nazi-Theologen Karl Adam stellt und sein eigenes Buch als einen ähnlichen Versuch sieht, wie ihn „Das Wesen des Katholizismus“ 1924 nach Ratzinger „meisterhaft“ leistete. Das Vorwort beginnt mit einer erstaunlichen Parabel:

Die Frage, was eigentlich Inhalt und Sinn christlichen Glaubens sei, ist heute von einem Nebel der Ungewissheit umgeben wie kaum irgendwann zuvor in der Geschichte. Wer die theologische Bewegung des letzten Jahrzehnts beobachtet hat und nicht zu jenen Gedankenlosen gehört, die das Neue unbesehen jederzeit auch schon für das Bessere halten, könnte sich wohl dabei an die alte Geschichte vom Hans im Glück erinnert fühlen: Den Goldklumpen, der ihm zu mühsam und schwer war, vertauschte er der Reihe nach, um es bequemer zu haben, für ein Pferd, für eine Kuh, für eine Gans, für einen Schleifstein, den er endlich ins Wasser warf, ohne noch viel zu verlieren – im Gegenteil: Was er nun eintauschte, war die köstliche Gabe völliger Freiheit, wie er meinte. Wie lang seine Trunkenheit währte, wie finster der Augenblick des Erwachens aus der Geschichte seiner vermeinten Befreiung war, das auszudenken überlässt jene Geschichte, wie man weiß, der Phantasie ihrer Leser. Dem besorgten Christen von heute aber drängen sich nicht selten Fragen wie diese auf: Hat unsere Theologie in den letzten Jahren sich nicht vielfach auf einen ähnlichen Weg begeben? Hat sie nicht den Anspruch des Glaubens, den man allzu drückend empfand, stufenweise herunterinterpretiert, immer nur so wenig, daß nichts Wichtiges verloren schien, und doch immer so viel, daß man bald darauf den nächsten Schritt wagen konnte? Und wird der arme Hans, der Christ, der vertrauensvoll sich von Tausch zu Tausch, von Interpretation zu Interpretation führen ließ, nicht wirklich bald statt des Goldes, mit dem er begann, nur noch einen Schleifstein in Händen halten, den wegzuwerfen man ihm getrost zuraten darf?

Haben wir richtig gelesen? Wir staunen jedenfalls nicht schlecht. 1968, nur kurz nach dem Konzil, schreibt Ratzinger, das Neue dürfe nicht einfach als das Bessere gesehen werden. Und er bezeichnet jene, die dies tun, als die Gedankenlosen, zu denen er nicht gehört, keinesfalls gehören will. Aha! Und weiter: Noch nie sei der „Nebel der Ungewissheit“ in Bezug auf den Inhalt des christlichen Glaubens so groß gewesen wie heute. Man höre und staune. Naiv jedenfalls kann ein Autor in der unmittelbaren Nachkonzilszeit solche Sätze nicht schreiben. Doch es kommt noch dicker. Ratzinger erzählt das Märchen vom Hans im Glück und nimmt es als Parabel für die moderne Theologie im unmittelbaren Umfeld des Konzils. Es sei dahin gestellt, ob Ratzinger hier bereits eine versteckte Attacke auf Hans Küng als dieser Hans im Glück reitet – im Interview „Salz der Erde“[4] verwahrt er sich vehement gegen diese Mutmaßung. Klar aber ist, worauf der spätere Glaubenshüter schon damals, 1968, also kurz nach dem Konzil, hinaus will: Das Neue, also das Aggiornamento des Konzils, ist keinesfalls einfachhin das Bessere. Vielmehr hat sich darin und in dessen Umfeld eine moderne Theologie zu Wort gemeldet und etabliert, die den Anspruch des Glaubens stufenweise, in kleinen, aber wirksamen Schritten „herunterinterpretiert“, und bald wird der arme, bedauernswerte Christ, der solchen modernen Theologen folgt, „statt des Goldes… nur noch einen Schleifstein in Händen halten, den wegzuwerfen man ihm getrost zuraten darf“.

Es ist augenfällig: Ohne das Wort vom „Relativismus“ zu nennen, beschreibt Ratzinger hier genau den Prozess der radikalen Relativierung. Aber er beschreibt ihn nicht phänomenologisch und gibt keinerlei Belege für seine Unterstellung. Vielmehr malt er beschwörend ein Schreckgespenst an die Wand – bewusst im Ungefähren bleibend, ohne Beleg und ohne Fakten. Von diesem Gespenst lässt er sich später als Bischof, als oberster Glaubenshüter, als Papst in seinem gesamten Handeln leiten. Wehret dem Relativismus! Er grassiert allüberall. Er wird total und weltumspannend, umfasst alle Lebensbereiche. Eine regelrechte Diktatur ist das, die da den Menschen, die Gesellschaft, das Christentum, das Abendland bedroht und knechtet. Was Joseph Kardinal Ratzinger 2005 vor dem Konklave predigt, das verfolgt ihn schon 1968 bis in seine Träume hinein. Deshalb muss er alles tun, um wirkungsvoll gegen diese relativistische Bedrohung in der Moderne anzukämpfen. Deshalb: Wer nicht gedankenlos ist, der geht zurück zur alten Tradition. Und seien wir ehrlich: Wer 1968, unmittelbar nach dem Konzil, eine Einführung in das Christentum mit solchen Worten beginnt, der wollte schon damals das Konzil rückgängig machen. Spätestens unter Wojtyla erhielt er 1981 die Gelegenheit dazu und nutzte sie extensiv: als Grossinquisitor, der bis 2005 über 150 sog. gedankenlose Erneuerer unter den Theologen maßregelt und der in „Dominus Iesus“ gegenüber den andern christlichen Kirchen (Entschuldigung: es sind ja nach ihm nur kirchliche Gemeinschaften!) und gegenüber einem partnerschaftlichen Dialog der Religionen jegliche Relativierung des römisch-katholischen Vormachts- und Wahrheitsanspruchs ausschließt. Nur die römisch-katholische Kirche ist nach diesem Dokument die wahre Kirche Jesu Christi, als ob es das Konzil und seine Neuinterpretation nie gegeben hätte. Ratzinger weiß sehr wohl (er gehört ja nicht zu den gedankenlosen Neuerern), dass das Konzil mit dem „subsistit in“ etwas Neues sagen wollte, aber er lässt es um der „gesunden“ Tradition willen nicht gelten und interpretiert es wie das frühere „est“. Und jetzt als Papst hat er noch freiere Hand. Jetzt verbrüdert er sich Schritt für Schritt mit jenen Kräften, die schon immer im Konzil und in der neuen Theologie sowie in der modernen Gesellschaft Unheil und Relativismus am Werk sahen, mit Opus Dei z. B. und mit den Piusbrüdern des Marcel Lefèbvre selig, aber auch mit den Resten des Adels, besonders den letzten Erben der Habsburg-Dynastie, die aus anderen Motiven als Lefèbvre ebenfalls die moderne demokratische Gesellschaft beargwöhnen und ablehnen. Sukzessive und beharrlich greift Ratzinger zurück hinter das Konzil und restauriert, wie wir hinlänglich vor Augen geführt bekommen, weit mehr als nur die alte Messe. Grundgelegt ist dies alles schon früh, wie das programmatische und verräterische Vorwort zu seiner „Einführung in das Christentum“ belegt, für deren Neuausgabe im Jahr 2000 er übrigens keinerlei Korrekturbedarf sieht und sich offensichtlich auch seines damaligen Vorwortes nicht schämt.

Soweit ein Blitzlicht in die Vergangenheit, das zeigt, wie konstant – oder sollen wir sagen: wie lernunfähig? – Ratzinger auf seiner Weltsicht und seinem einmal bezogenen Standpunkt beharrt.

3. Diktatur des Relativismus – Unsinn und Wurzeln einer Metapher

Diktatur des Relativismus? Die Metapher ist schief. „Diktatur des Relativismus“ – das ist eine contradictio in adiecto oder wie Alan Posener sagt: ein Oxymoron. Man kann dem Relativismus gewiss vieles anlasten, aber ganz bestimmt nicht diktatorische Züge oder diktatorisches Gebaren. Wo alles relativ ist, hinterfragbar, kritisierbar, überholbar, da sind wir zumindest von dieser Gefahr verschont. Man ist versucht Ratzinger zuzurufen: Ja was denn nun? Relativismus oder Diktatur? – Bitte entscheiden Sie sich.

Aber was steckt denn wohl dahinter, dass Ratzinger die beiden weit auseinanderliegenden Begriffe zusammenbringt? Bewusst zusammenbringt, wie mir scheint? Sehen wir einmal ab von seiner Biografie, die lebensgeschichtlich und psychologisch gewiss auch einigen Aufschluss gäbe. 1968 zum Beispiel war ja für ihn nicht nur das Jahr, in dem er sein problematisches Vorwort schrieb zur „Einführung in das Christentum“. 1968 wurden seine Vorlesungen von den revoltierenden Studenten zu Tübingen mit Trillerpfeifen sabotiert. Das 68er-Trauma sitzt bis heute tief, wie nicht nur die Tübinger Weggefährten Hans Küng und Hermann Häring bestätigen. Und man gewinnt nicht den Eindruck, dass Ratzinger je begriffen hat, was damals hauptsächlich in der Studentenbewegung sich eruptiv Bahn brach und nachhaltig gesellschaftlich artikulierte. Er sieht noch nach zwei Jahrzehnten (1988) im Rückblick Gespenster, wenn er sich damals umringt sah von Theologen-Kollegen, die er für die 68er-Revolte verantwortlich macht, und wenn er bereits darin eine bestimmte Auslegung des Konzils am Werk sah:

Ich entsinne mich, dass wir (gemeint sind er und der Kölner Kardinal Frings) voller Hoffnung auf eine Verjüngung der Kirche (vom Konzil) zurückkehrten. Als ich 1967/68 Professor in Tübingen war, sah ich, wie sie so anders das Konzil interpretiert hatten. Es begann die vor allem von Theologen der Theologischen Fakultäten geführte 68er Revolution. [5]

Noch expliziter konstruiert Ratzinger diesen prekären Zusammenhang von moderner Theologie und Zweitem Vatikanum einerseits und der 68er-Revolte und deren Folgen in der Zivilgesellschaft andererseits in einem Artikel von 1991 und offenbart damit unübersehbar seine reaktionäre politische Position, an der ihm weit mehr zu liegen scheint als an seriöser Theologie- und Konzilsgeschichtsschreibung:

Das Erlöschen der Kirchen (würde) einen geistigen Erdrutsch bedeuten, dessen Ausmaß wir uns noch nicht vorzustellen vermögen. In welche Richtung das gehen könnte, ist nach meinem Dafürhalten in den Ereignissen von 1968 und in der daran anschließenden Entwicklung deutlich geworden. Denn die Pariser Studentenrevolution, die das 68er-Phänomen ins Rollen brachte, ist nicht von außen auf die Kirche geprallt, sondern aus den nachkonziliaren Gärungen des Katholizismus und aus vorausgehenden Strömungen revolutionärer amerikanischer protestantischer Theologie hervorgebrochen … Diese theologische Implikation ist auch im deutschen und italienischen Terrorismus der siebziger Jahre unverkennbar. Die Gestaltwerdung des italienischen Terrorismus der siebziger Jahre ist ohne die inneren Krisen und Gärungen des nachkonziliaren Katholizismus nicht zu verstehen. [6]

Die Revolte von 1968, den linken Terror der 1970er-Jahre – Ratzinger sieht das alles letztlich als Folgen des Konzils und deren Theologie. Das Trauma dieses Mannes sitzt tief. Da muss man sich nicht wundern, dass er auch mit der Theologie der Befreiung nicht nur nichts anfangen kann, sondern sich verpflichtet sieht, ihr als Glaubenshüter energisch Einhalt zu gebieten. 1968 war nämlich auch so etwas wie der Beginn der Theologie der Befreiung auf breiterer und offiziell-kirchlicher Ebene. 1968 fand die Vollversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Medellín statt. 1968 machte sich die Kirchenleitung eines ganzen Kontinentes die „Option für die Armen“ zu Eigen und unterstützte den Aufbruch der Kirche an der Basis, in den kirchlichen Basisgemeinden.

Ratzinger aber hält es im Umfeld dieser Aufbruchsstimmung nicht mehr aus; er sieht sich außerstande, seinen Flirt mit den Progressiven noch länger aufrecht zu erhalten. Er flieht schon 1969 nach Regensburg, wo ihm der rechtskatholische und gesellschaftspolitisch rechtsradikale Bischof Rudolf Graber Zuflucht und Ruhe für seine wissenschaftliche Arbeit verspricht. Damit hat das Lavieren ein Ende. Die kirchliche und gesellschaftliche Positionierung Ratzingers ist nun endgültig klar, der weitere Weg vorgezeichnet. Ratzinger ist erst 42 Jahre alt.

Zusammen mit Bischof Graber beteiligt er sich in der Folge an der Wiederbelebung des Kults um Therese von Konnersreuth mit ihrer überhöhten Wundergläubigkeit. Und er festigt seine Kontakte zum Adelsgeschlecht, wird bald schon in enger Verbindung mit der Baronesse Alma von Stockhausen und mit dem Hause Habsburg zum Mitbegründer der Gustav-Siewerth-Akademie, deren erklärtes Ziel nicht zuletzt die Bekämpfung des Marxismus ist. Zusammen mit Hans Urs von Balthasar und Henri de Lubac gründet er 1972 – als Gegengewicht zu Concilium – die Zeitschrift Communio.

Theologisch zementiert ist diese Haltung indes schon viel früher. Wissenschaftlich beschäftigt sich Ratzinger in seiner Doktorarbeit von 1953 mit der Ekklesiologie des Augustinus. Das Augustinische Welt- und Menschenbild wird ihn und sein Denken fortan zutiefst prägen und leiten. Augustins Erbsündenlehre und Heilspessimismus übernimmt Ratzinger voll und ganz. Er traut dem Menschen nichts zu. Dieser ist nun einmal im Kern verdorben durch die Erbsünde. Um der drohenden massa damnata Augustins zu entgehen, ist er völlig angewiesen auf die göttliche Erlösung. In der Auseinandersetzung mit Augustinus und überhaupt mit der alten Kirche wird Ratzinger überdies zum Platoniker. Diese Welt ist nur Abglanz, und alles in ihr ist nur relativ (und zwar relativ im abwertenden Sinne nach Ratzinger). Die eigentliche Welt ist die Welt der Ideen, und diese ist jenseits, ist außerhalb der Höhle. Dort erst, jenseits der Welt fänden wir das Gute, die Idee des Guten, wenn wir denn dorthin gelangten. Aber leider zeigt die Erfahrung, Ratzingers Erfahrung, die ganz jener von Plato entspricht und die letzteren dazu führte, den Philosophenstaat zu postulieren, dass dies den allerwenigsten gelingt. So müssen wir, nun wiederum theologisch gesehen, froh sein, dass aus dieser Welt der Ideen ein Bote kam, der uns Kunde tat von den letztgültigen Werten und von der absoluten Wahrheit, mithin von der Idee des Guten. Die deduktive Denkweise und die Christologie von oben sind damit vorgezeichnet. Jesus von Nazaret als Mensch hat darin kein Eigengewicht. Er muss vor allem als Sohn Gottes die Menschen aus den Ketten der irdischen Höhle erlösen. Als solcher wird Jesus Christus, und zwar so, wie ihn das römisch-katholische Lehramt versteht, für Ratzinger zum absoluten Referenzpunkt universaler Wahrheit für alle Menschen. „Dominus Iesus“ wird es im Jahre 2000 auf den Punkt bringen, mit allen damit verbundenen Brüskierungen der anderen Religionen und der christlichen Schwesterkirchen…

(Fortsetzung folgt)


© imprimatur Dezember 2011
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[1]Benedikts Kreuzzug. Der Angriff des Vatikans auf die moderne Gesellschaft, Berlin 2009; ders., Der gefährliche Papst. Eine Streitschrift gegen Benedikt XVI. , Berlin 2011 (erweiterte TB-Ausgabe).
[2]Papst ohne Heiligenschein? Joseph Ratzinger in seiner Zeit und Geschichte, Frankfurt 2006.
[3]Posener, Der gefährliche Papst 17.
[4]Ratzinger, Salz der Erde 83f.
[5]Interview in Chile 1988 mit der Zeitschrift „Communione e Liberazione“. Zit. nach Institut für Theologie und Politik (Hg.), Der doppelte Bruch 66. – Das Zitat fährt fort: „Und ich sah, wie einer von ihnen – von dem ich wusste, dass er vom Glauben abgefallen war, da er es mir selbst gesagt hatte – einer, der an nichts glaubte, zu lehren begann, seine Meinung sei der wahre Katholizismus.“ (Ratzinger spielt hier wohl auf Hubertus Halbfas an, sein neues Buch wurde damals von Frings und Höffner kritisiert und führte zum Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis.)
[6]Joseph Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Einsiedeln 1991, zit. nach: Posener, Der gefährliche Papst 17.