Das Reden über die Familie ist schon immer ein sentimentalisches gewesen, da man die Familie als Hort des Glücks stets bedroht glaubt, ihren Verfall beklagt und sich nach der heilen Familie zurücksehnt. Doch hat es jemals eine heile Familie gegeben?
Bei diesem Buch besteht diese Gefahr, in einen sentimental angehauchten Ton zu verfallen, von vorneherein nicht. Als Kollektivmonographie gibt es uns einen direkten Einblick in die Forschungsarbeit vor allem junger Sozial-, Kultur- und Literaturwissenschaftler der Universität Konstanz, bei der es im Rahmen eines Graduiertenkollegs um Materialstudien zur Figur des Dritten geht. In fünf Kapiteln werden Materialstudien von fünf verschiedenen Wissenschaftlern vorgestellt, die jeweils unter einem bestimmten Aspekt das Phänomen Familie von ihren Rändern her historisch zu erschließen versuchen, nicht von ihrer Mitte her, da diese, gegen die Außenwelt abgeschirmt, weitgehend ein schwarzes Loch von Wunschprojektionen bleibt. Die historischen Analysen setzen in der Zeit der Aufklärung ein, gehen dann schwerpunktmäßig auf das 19. Jahrhundert weiter und reichen bis in die heutigen Diskussionen über Ehe und Familie. In einem einleitenden Teil wird der Leser in die einzelnen Kapitel eingeführt, zuvor jedoch mit der aktuellen Diskussion um die Ehe sowie mit der Entstehungsphase der Familie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vertraut gemacht.
Familienglück in warmen Farben
In dieser sehr lesenswerten Einleitung sprechen die Forscher ihre Verwunderung darüber aus, dass nirgendwo die bürgerlichen Familienwerte und das Familienglück in wärmeren Farben beschworen werden als in Broschüren von Reproduktionskliniken. Sogar dann, wenn Kinder durch assistierte Empfängnis bis zu fünf Eltern haben können, bleibt die alte Familiensehnsucht erhalten. Von daher hat sich die Fragestellung ergeben, wer denn nun zum Kreis der Familie zu zählen ist und wer nicht, eine Fragestellung, die übrigens den modernen Familiendiskurs seit den Anfängen im 18. Jahrhundert begleitet hat. Und am Anfang steht keineswegs der Lobpreis des Familienglücks. In der deutschen Sprache präsentiert sich die Familie seit ihrer Geburtsphase im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts literarisch als Trauerspiel mit schwachen Vätern und moralisch zwielichtigen Müttern. (Schiller, Lessing) Als geradezu amüsante Einlage in diesem Einleitungskapitel liest sich die Analyse der Familienportraits jener Zeit, die zeigen, wie bemüht man ist, ein Musterbild der Familie als Ort der Harmonie zu arrangieren selbst dann, wenn, wie im Fall der Wielandschen Familie bekannt war, wie schwer es dem galanten Liebhaber Wieland fiel, sich zum treusorgenden Familienvater zu wandeln. Dabei führte er, wie viele Familienväter gerne die Rhetorik der Entsagung im Munde.
Ehedebatten der Aufklärer
Und gerade um diese versittlichende Kraft der Ehe und Familie im Staat geht es in den Ehedebatten der Aufklärer. Das erste Kapitel des Hauptteils, in dem die in der Berlinische(n) Monatsschrift öffentlich gemachten essayistischen Zeugnisse von Debatten einer auf Verschwiegenheit eingeschworenen „Gesellschaft von Freunden der Aufklärung“ durchforscht werden, ist trotz seiner wissenschaftlichen Fachsprache spannend, besonders für Ethiker und Theologen. Wir bekommen genauere Einblicke in die für unsere Kultur wichtigste Zeit der Ausbildung einer kritischen Geistigkeit. Wir erfahren, dass die berühmt gewordene Frage: „Was heißt Aufklärung“ von einem Pastor Johann Friedrich Zöllner gestellt wurde, und zwar als Fußnote in seinem Essay: „Ist es rathsam, das Ehebündnis nicht ferner durch die Religion zu sanciren?“ Mit seiner Fußnote reagiert Zöllner auf die Schrift des Sekretärs der Mittwochsgesellschaft, Joh. Erich Biester, der anonym mit seinem Vorschlag an die Öffentlichkeit getreten war, den staatlichen Ehevertrag von der kirchlichen Kontrolle zu befreien, wobei er sich auf die Heiligkeit aller staatlichen Verträge in der Zivilgesellschaft beruft. Zöllner reagierte empört, er sah darin den Versuch, den Werth der Religion herabzusetzen und unter dem Namen der Aufklärung die Köpfe und Herzen der Menschen zu verwirren. (54) Für ihn den Seelsorger bietet diese Heiligkeit einer Zivilreligion nicht hinreichenden Schutz bei einem Vertrag, der die Unterwerfung und die Rechtlosigkeit der Frau unter die Herrschaft des Mannes fordert, aber eine Rechtskontrolle des Staates als Eingriff in den intimen Bereich der Ehe ausschließt. In seinem realistischen Menschenbild sieht er bei aller Vernunftbegabtheit des Menschen nicht nur den großen Haufen in seiner Tugend gefährdet, wenn eine staatliche Ahndung ausgeschlossen ist, auch der Aufgeklärteste bedarf der Überzeugung, dass ein Allwissender und Allmächtiger einen ewigen Unterschied zwischen Recht und Unrecht festgesetzt hat. (87)
Das Opfer der Frauen in der Liebe
Mit der Frage, was Aufklärung eigentlich sei, formuliert ein evangelischer Pastor sein Unbehagen an der wahrgenommenen Differenz zwischen Freiheit und Unterwerfung, worin sich die Differenz zwischen Mann und Frau in der neuen politischen Ordnung eines aufgeklärten Absolutismus zeigt. In dem Kapitel Ehe unter Männern wird deutlich gemacht, dass nur die Männer in einer brüderlichen Ordnung von Gleichgestellten leben, die gegenüber ihren Frauen dieselben Rechte haben. Den Frauen wird zwar mit dem staatlichen Ehevertrag die Befähigung zu einer Vertragspartnerschaft als ein Element des Naturzustandes zugesprochen, mit dem Vollzug der Ehe sind sie jedoch aus der bürgerlichen Rechtssphäre ausgeschlossen. So leitet sich die bürgerliche Freiheit der Männer in einem neuen Patriarchat aus der Unterwerfung von Frauen ab. Indem Zöllner die Ehe auch weiterhin durch die Religion sancirt sehen möchte, sieht er dadurch die ethische Verpflichtung gestärkt, Abhängigkeit zu einem Aspekt der Liebe und Fürsorge zu machen. Erschreckend für uns Heutige ist, dass aufgeklärte und Aufklärung verbreiten wollende Diskutanten die Familienbindung als Grundmotiv für die Bereitschaft der Männer werten, für das Vaterland in den Tod zu gehen. Der Kulturwissenschaftler Michael Thomas Tayler formuliert daher bündig: So ist es letztlich das Opfer der Frauen in der Liebe, die das körperliche Opfer der Soldaten als Märtyrer für den Staat rechtfertigen. (87)
Ehe und Liebe zunehmend gleichgesetzt
In der zweiten Materialstudie von Sebastian Susteck wird die Weiterentwicklung
des aufklärerischen Vertragsmodell im 19. Jahrhundert aufgezeigt, indem
Inhalt und Zweck der Ehe mehr und mehr individuell verhandelbar werden, da Ehe
und Liebe zunehmend gleichgesetzt werden. Dabei wird auch die in christlicher
Tradition stehende Naturrechtlehre mit der Überbetonung der Fortpflanzung
als erstem Ehezweck langsam aufgelöst. Interessant zu erfahren ist, wie
die Gesellschaft beginnt,
über die Beschäftigung mit dem Pathologischen eine moderne Konzeption
der Sexualität zu entwickeln, wobei der Begriff der Homosexualität,
1869 geprägt, dem der Heterosexualität vorausgeht. Erstaunlich ist,
wie hoch in einer Psychopathia sexualis von 1886 die christliche Ehe
gewertet und als Kulturfortschritt gefeiert wird. Das Christentum habe die monogame
Ehe durchgesetzt, wobei die Stellung der Frau aufgewertet und dem Mann gleichgestellt
worden sei. So erst sei die Grundlage für stabile Familien- und Staatenverbände
geschaffen worden. Man reibt sich die Augen, liest man die Jahreszahl, da man
doch weiß, wie lang die kirchliche Ehelehre bis weit ins nächste
Jahrhundert gebraucht hat, um ihre patriarchale Verkündigung aufzugeben,
der Mann sei das Oberhaupt des Weibes und dieses habe dem Mann zu folgen ( so
in einer biblischen Geschichte von 1890).
Wie der Diskurs über das Verhältnis von Sexualität, Fortpflanzung und Familie weitergeführt wird, wie er sich in den Werken von John Locke und Jean-Jacques Rousseau, dann bei Adalbert Stifter widerspiegelt, das lässt uns teilnehmen an den Auseinandersetzungen um die geschichtliche Weiterentwicklung der Ehe- und Familienvorstellung bis hin zu einem Bild der Familie als einzigem legitimen Ort der Fortpflanzung und einer tiefen emotionalen Beziehung zwischen Eltern und Kindern am Ende des 19. Jahrhunderts. Selbst im 20. Jahrhundert bleibt trotz anwachsender Scheidungszahlen nach der Scheidung eine neue Ehe im Blick. Bei 75 Prozent der Frauen und 80 Prozent der Männer erfolgt in Amerika (Zahlen von 2001) eine Wiederverheiratung, so dass man von serieller Monogamie sprechen kann (136). Wenn auch die Ehe als Dauerverbindung immer weniger gelebt wird, bleibt doch die Tendenz bestehen, ein Paar zu bilden statt sich als polygam zu verstehen. Hier könnte die kirchliche Pastoral ansetzen und ein neues Paar nach einer gescheiterten Ehe zur Treue ermutigen und hilfreich begleiten statt zu strafen.
Wie viele neue Einsichten in das Familienleben und die Ehepraxis unserer Vorfahren
die nächsten drei Abhandlungen bereithalten, kann hier nicht ausgebreitet
werden.
Da werden die Figuren der Grimmschen Märchen zu unerwünschten Unterschichtenmigranten
im Kinderzimmer, welche die behüteten Bürgerkinder mit der Not
und den Grausamkeiten des einfachen Volkes jenseits der Familie schockieren.
(A. Koschorke) Da wird gefragt: Wie heiratet man eine Magd? (E. Esslinger)
Und da geht es zum Schluss um Onkel und Tanten im Haus und um die Verwandtenehe.
(N. Ghanbari) Der Leser wird vertraut gemacht mit den neuesten Forschungsmethoden,
etwa mit den mikrohistorischen, die zu manchen Korrekturen bisheriger Ergebnisse
führen. Dabei kann er sich testen, wieweit seine Freude an der Entschlüsselung
einer Forschungssprache geht, die per se nicht auf Leserfreundlichkeit aus ist.
Harterrungenes Familienglück
Nach dem Studium des Buches habe ich zwei Einsichten gewonnen: Die Sehnsucht nach einer glücklichen Paarbeziehung und einer harmonischen Familie wird als Wunschprojektion immer bestehen bleiben, wie sich auch das Menschenbild und das Bild der Familie historisch wandeln. Glück wird dabei in dem Maße erfahren, als Paare sowie Eltern und Kinder in der Lage sind, ihre Autonomieansprüche bewusst einzuschränken. Wenn in der katholischen Kirche die Entsagung in der Ehelosigkeit als verdienstvoll gilt und zur Heiligkeit führt, die Entsagung der Eheleute und der Mütter und Väter in der Heiligsprechung aber noch nie ausgezeichnet wurde, dann kann man das nur als klerikale Selbstherrlichkeit und Wirklichkeitsblindheit bezeichnen. Der pietistische Pfarrerssohn Christoph Martin Wieland scheut sich nicht, beim Anblick seiner Familie moralisch selbstrühmend zu werden und zugleich sein harterrungenes Glück idyllisierend zu feiern: Wenn ich mich denn nun so in meinem kleinen Garten mitten unter diesen lieben, wimmelnden, fröhlichen, hüpfenden und lärmenden Geschöpfen sehe, oder neben ihrer lieben Mutter auf einer Rasenbank . . . so vergesse ich alles andere, was man sich in dieser Welt wünschen möchte, und halte mich reichlich entschädigt für alles, was ich mir um eben dieser Geschöpfe willen versagen muss.(28)
A. Koschorke / N. Ghanbari / E. Eßlinger / S. Susteck / M. Taylor, Vor der Familie / Grenzbedingungen einer modernen Institution, Konstanz University Press 2010
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