Karl-Heinz Ohlig
Die Mittelpunktstellung von Subjekt und kritischer Vernunft als europäisches Spezifikum III[1]

Ein Spezifikum der europäischen Kultur ist die zentrale Stellung von Individuum, Person, Subjekt und die daraus resultierenden Menschenrechte. In den beiden vorangegangen Beiträgen wurde dies auf die monotheistische Tradition als Basis zurückgeführt, die aber erst durch weitere spezifisch abendländische Motive diese Entwicklung brachte. Genannt wurden die Eigenart des ererbten lateinischen Denkens, die Ausbildung der Personvorstellung und die fortscheitende Geschichte einer Emanzipation von subjektivem und kritischem Denken. In der Folge werden weitere Gesichtspunkte kurz erwähnt.

(3) Papsttum und Kaisertum

Schon seit den frühen Kulturen waren Stammeshäuptlinge oder später Könige sakrale Figuren. Nachdem sich, schon früh, ein spezialisiertes „Priestertum“ entwickelt hatte und auf Grund seines Ansehens auch „politische Macht“ beanspruchte, waren Konflikte zwangsläufig. Nirgendwo aber führten diese Auseinandersetzungen, wie in Europa, zu einer Trennung der beiden Bereiche.

Der Grund hierfür ist ein „historischer Zufall“ aus den Anfängen der abendländischen Geschichte. Mit der Schwächung und bald dem Untergang des (west-)römischen Kaisertums war dessen imperiale und zugleich sakrale Funktion, die sich vor allem an Konstantin, Kaiser und in eins damit pontifex,maximus orientierte, nicht zu Ende. Im byzantinischen Reich gab es weiterhin Kaiser, die wie bisher neben ihrer weltlichen Macht zugleich auch Oberhaupt der Kirche waren, so dass Patriarchen, Bischöfe und Priester ihm nachgeordnet waren (Cäsaropapismus); die großen altkirchlichen Konzilien wurden von den Kaisern einberufen und geleitet, ihre Beschlüsse erhielten durch die kaiserliche Approbation Geltung.

Im Westen traten schon um die Wende zum 5. Jahrhundert die römischen Bischöfe das imperiale Erbe an und beanspruchten geistliche Macht. Papst Leo I. (gest. 461) preist in einer Predigt zu Ehren des Petrus und Paulus die Stadt Rom: „Diese (Petrus und Paulus) sind es, die dich zu solchem Ruhm geführt haben ... Durch die göttliche Religion solltest du deine Herrschaft weiter ausbreiten als früher durch weltliche Macht.“[2] Dieser Anspruch auf das geistliche Erbe der imperialen Tradition konnte sich im lateinischen Westen, wenn auch erst allmählich im Lauf der folgenden Jahrhunderte, Gehör verschaffen.

Weltliche Machthaber, die das Kaisertum weiterführen konnten, gab es zunächst nicht. Erst mit dem Anspruch Karls des Großen wurde die römische Kaiseridee auch im politischen und zugleich religiösen Bereich aufgegriffen; im Jahr 800 ließ er sich in Rom zum (römischen) Kaiser krönen.

Da sowohl Karl der Große wie auch die folgenden Kaiser politische Macht besaßen und zugleich sakrale Figuren waren, daneben aber die Päpste in Rom zunehmend geistliche Führer des lateinischen Christentums wurden und ebenso politische Macht für sich beanspruchten, hat diese Bipolarität viele Spannungen hervorgerufen. Der dann im Wormser Konkordat von 1122 gefundene Kompromiss beendete zwar nicht die Streitigkeiten; noch im Jahre 1302 beanspruchte Papst Bonifaz VIII., dass ihm jegliche Kreatur untertan sein müsse (der französische König reagiert darauf mit dem erzwungenen Umzug der Päpste nach Avignon, also unter seinen Herrschaftsbereich [Exil von Avignon, 1309–1377]). Und auch die weitere Geschichte kennt viele Konflikte.

Aber schon der Wormser Kompromiss brachte einen entscheidenden Fortschritt: die Unterscheidung zwischen weltlichem und geistlichem Bereich und, trotz notwendiger Kooperation, die prinzipielle Selbständigkeit der jeweiligen Vollmachten. Hieraus resultierte im späteren Verlauf der Geschichte die Trennung von Kirche und Staat, Politik und Religion, die in den europäischen Staaten in unterschiedlichen Formen verwirklicht wurde und wird.

Mit anderen Worten: Diese begriffliche und dann reale Unterscheidung und Trennung hat ihre Ursache in einem Zufall der abendländischen Geschichte, die zwei Erben der konstantinischen, der römisch-imperialen Reichsidee hatte: zuerst die römischen Bischöfe und einige Zeit später die Kaiser. So wurde zugleich ein Cäsaropapismus und ebenso ein „Gottesstaat“ verhindert, und Politik wie auch Religion gewannen ihre je spezifische Autonomie. Europa kennt auch in diesem Feld eine Kultur der Unterscheidung, die es nicht aufgeben darf, ohne seine Identität zu verlieren.

(4) Die Sehnsucht nach individueller Selbstvergewisserung
Alternative Formen von Praxis, Theologie und Frömmigkeit

Offizielle Theologie blieb bis zum Ausgang des Mittelalters die Scholastik; betrieben wurde sie von den an der lateinischsprachigen Tradition geschulten Klerikern und Mönchen, „Laien” waren ausgeschlossen. Ihnen stand zur Wahrnehmung ihrer religiösen Bedürfnisse – sofern sie nicht einfach einen halbchristlichen magischen Volksglauben praktizierten – das sakramentale und rituelle Angebot der Kirche zur Verfügung, das vom Klerus verwaltet wurde.

Diese autoritativ vorgegebenen Formen christlicher Praxis wurden als ungenügend empfunden, sobald die sog. Laien mündiger wurden, ihre Rolle nicht mehr rein rezeptiv empfanden und ihr Leben auf eine persönliche und von ihnen selbst gewählte Weise gestalten und begründen wollten. Diese Zeit war – nach einigen weiter zurückreichenden Anfängen – im Übergang zum Hochmittelalter, mit aller Macht seit dem 13. Jahrhundert, gekommen.

Natürlich waren die damaligen Menschen noch nicht in der Lage, eine höchstpersönliche Autonomie zu erreichen. Sie bedurften eines Rückgriffs auf allseits anerkannte Autorität, auf Jesus Christus bzw. auf Gott. Diesen Rückgriff aber versuchten sie auf eine neue Weise, nämlich durch eigene Erfahrung, also unvermittelt durch die Kirche, zu erreichen. Das heißt nicht, dass sie in jedem Fall die Legitimität der Kirche, ihrer Amtsträger oder Heilsangebote bestritten; aber sie „transzendierten” sie, indem sie sich in individueller Erfahrung auf Jesus bzw. Gott stützten, und gewannen so ein Selbstbewusstsein, das sie unabhängig machte und sie nicht selten auch in einen Konflikt mit der Kirche und ihrer Lehre trieb. Diese neue Orientierung ist vor allem in zwei Bewegungen zu finden, in der Armutsbewegung, d.h. einer radikalen Nachfolge Jesu – in einer vita apostolica –, und in der Mystik.

Wer die Jesusnachfolge auf eine ganz ernsthafte Weise, meist im Sinne eines Lebens in Armut und Wanderschaft verstanden, praktizierte, konnte die subjektive Gewissheit gewinnen, „richtig” zu handeln, auch wenn diese Lebensformen und neu gewonnenen Erkenntnisse mit Gestalt und Lehre der feudalen mittelalterlichen Kirche nicht recht zusammenpassten oder sogar kollidierten. So finden sich seit Beginn des Hochmittelalters eine Reihe von Klerikern und Mönchen, bald auch Laien, die in radikaler Armut lebten, durch die Lande zogen, diese Lebensform predigten und Anhänger sammelten. Im Allgemeinen verstanden sie sich als christliche Reformer, die nicht im Gegensatz zur Kirche standen. Aber ihre Eigenart und ihr Tun mussten zum Konflikt mit der Hierarchie führen: Manche Bischöfe mögen die alternativen Lebensformen als Bereicherung verstanden haben, viele aber fassten sie auch als Bedrohung für sich selbst auf. Die eigene Schriftbenutzung führte dazu, sich seine Überzeugungen selbst zu bilden und nicht vom Lehramt vorgeben zu lassen. Vor allem aber eine Predigttätigkeit ohne Autorisierung oder Kontrolle durch die Bischöfe barg Zündstoff. Gerade die amtskirchlichen Versuche, die „Laienpredigt“ zu verbieten, trieben die Betroffenen in einen Konflikt mit den Autoritäten. Ihre Häretisierung wegen Missachtung des Predigtverbots führte dann oft auch zu tatsächlichen theologischen Abweichungen von der offiziellen Lehre und zur grundsätzlichen Ablehnung der kirchlichen Autorität.

Auch in der Mystik fanden „Laien” sowie auch eine Reihe von Klerikern in den unterschiedlichen Orden eine Möglichkeit unmittelbarer Erfahrung Jesu bzw. Gottes. Wer in einer dichten mystischen Erfahrung, sei sie visionär oder meditativ, die Einheit mit Jesus oder Gott zu realisieren meinte, konnte eine Autonomie gewinnen, die das Individuum, wenigstens grundsätzlich, oft auch faktisch, von den kirchenamtlichen Vorgaben freimachte bzw. seine Lebensgestaltung in einem Punkt jenseits der kirchlichen Autorität verankerte.

Begreift man Mystik in diesem Sinne als eine Erfahrung der Unmittelbarkeit und Nähe zu Gott oder Jesus im eigenen Innern, findet sie sich erst vom 13. Jahrhundert an, mit einigen wenigen früheren Vertretern wie z.B. Bernhard von Clairvaux oder Hildegard von Bingen, die aber die späteren Konsequenzen erst erahnen lassen.

Seit dem 13. Jahrhundert aber wird Mystik zu einer verbreiteten Erscheinung, bei der auch in großer Zahl Frauen eine Rolle spielen; hier konnten sie ihren Beitrag muttersprachlich einbringen. Der Gebrauch der Muttersprache legte sich auch von daher nahe, dass in der Mystik sehr persönliche und intime Erfahrungen verbalisiert wurden, für die dieses Sprachmedium – wie z.B. die deutschen mystischen Schriften Meister Eckharts zeigen können – besser geeignet war als die lateinische Schul- und Gelehrtensprache.

Hans Bayer betont, dass der mystische Vorgang „den Menschen auf äußerste vereinzelt”[3] . Durch mystische Erfahrungen konnten Individuen einen Standpunkt gewinnen, der ihnen unabhängig oder jenseits der kirchlichen Vermittlung zur Autonomie verhalf. Dies zeigt sich darin, dass viele Mystikerinnen und Mystiker die Amtskirche einer scharfen Kritik unterzogen, einige auch mit dem Lehramt in Konflikt gerieten, wie Meister Eckhart, oder sogar verurteilt und hingerichtet wurden, wie Marguerite Porète im Jahre 1310.

So trug auch die Mystik dazu bei, das Individuum selbständiger werden zu lassen und in der persönlichen, inneren Erfahrung das Zentrum auch des Christseins zu sehen. Mystische Innerlichkeit wurzelt „in der geistigen Emanzipation des Individuums”[4] ; man müsste hinzufügen: letztere wird durch erstere verstärkt und gewinnt Sicherheit. Damit bereitete sie den Weg zu Luthers Überzeugung, dass sich das Christsein, das er im lateinischen Sinn als Rechtfertigung verstand, auf den höchstpersönlichen Glauben gründe.

Diese Versuche zu individueller Lebensgestaltung von „Laien” – wozu in diesem Fall auch die nichtgeweihten Mönche und alle Nonnen zu zählen sind – schufen sich seit dem 12. und 13. Jahrhundert mit Macht Raum, kennen aber auch eine Vorgeschichte, die sie ermöglichte und auch schon während der Frühscholastik erste Ansätze der Suche nach persönlicher Selbstvergewisserung entstehen ließ. Hierzu hatte die Gregorianische Kirchenreform im späten 11. Jahrhundert beigetragen, in der auch Laien zum Engagement aufgerufen wurden; in den Kreuzzügen seit dem Ende des 11. Jahrhunderts und in den Wallfahrtsbewegungen waren ebenfalls die Laien zur Aktivität aufgefordert; vor allem aber kam es im Gefolge der Kreuzzüge zu einem Aufblühen von Handel und Handwerk; in Oberitalien und Südfrankreich, bald auch anderswo, bildete sich eine Stadtkultur[5] mit Bürgertum und Proletariat. Aus den Reihen des Bürgertums, aber auch des niederen Adels[6] , rekrutierten sich die Wortführer der neuen Bewegungen.

Auf diesem Hintergrund entstand in Teilen der Bevölkerung das Empfinden, von der Feudalkirche mit ihrem vorwiegend rituellen Angebot in ihrem subjektiven Heilsbedürfnis allein gelassen zu sein. Sie versuchten nun, eigene Wege zu gehen. die sich in harter Kritik an der Kirche, ihren Dogmen, Vollzügen und Amtsträgern äußerte und im Spätmittelalter zu größeren Bewegungen führte (Armutsbewegung; John Wyclif, gest. 1384; Jan Hus, hingerichtet 1415).

(5) Der Einfluss von Humanismus und Renaissance

Es ist eine weit verbreitete Meinung, dass seit dem Spätmittelalter Humanismus und Renaissance eine Emanzipation von der kirchlichen Glaubens- und Vorstellungswelt einleiteten, weil sie vorchristliches Gedanken- und Formengut in den Mittelpunkt stellten. Schon Jacob Burckhardt hatte die These aufgestellt, im Mittelalter habe es keine Vorstellung vom Individuum gegeben, diese sei erst durch die Renaissance eingebracht worden[7]. Diese Meinung lässt sich nicht aufrecht erhalten, sie verwechselt Ursache und Wirkung. Auch Hans Bayer ist der Meinung, dass Thesen dieser Art „die ausgeprägten individualistischen Tendenzen, die schon in der städtischen Sozialsphäre zu Beginn des Hochmittelalters in Erscheinung treten”, übersehen[8].

Im ganzen Mittelalter wurde die vor- und außerchristliche Antike, ihre Philosophie und Kunst, hochgeschätzt; das war also nichts Neues. Neu aber war, dass der Rückgriff auf und die Orientierung an der Antike jetzt einen neuen Stellenwert bzw. eine andere Funktion gewannen. Der Grund hierfür ist darin zu sehen, dass die Emanzipation des Subjekts, die Überzeugung von der Subjektivität des Denkens und seine Lösung von der Theologie weit vorangetrieben war, aber noch nicht bis zu dem Punkt, den Descartes’ Schlagwort cogito ergo sum symbolisiert. Der einzelne Mensch hatte zwar die fraglose Sicherheit an der objektiv vorgegebenen fides verloren, war aber noch nicht so selbstsicher, dass er sich ganz auf sich allein und sein Denken zu stützen wagte; er brauchte noch Autorität, einen festen Halt.[9] Diesen schien die Antike zu bieten, die ja auch bisher schon in hoher Geltung stand. Die neue „Nutzung” der Antike als eine alternative Autorität hat also ihre Ursache in einer mittelalterlichen Problematik; die Antike sollte als Anker dienen für das seiner selbst noch nicht sichere Subjekt. Dies zeigt sich auch in den seit dem Quattrocento aufkommenden und bis zum 16. Jahrhundert vermehrt auftretenden Selbstporträts. Auch in ihnen sind die individuellen Züge idealtypisch gestaltet, so dass sie in Konventionen, die sich an die Antike anlehnen, eingebunden, von ihnen also „gestützt" oder legitimiert sind[10].

Weil jetzt die antike Gedanken- und Formenwelt, bis hin zu Elementen des Lebensgefühls, teilweise an die Stelle der Glaubensorientierung trat, kam es aber auch zu inhaltlichen Veränderungen; der freie, selbstbestimmte Mensch wurde zum Leitbild, das Kreisen um Sünde und Rechtfertigung trat zurück. Manche Aspekte aber, die oft ausschließlich auf die neuen Einflüsse zurückgeführt werden, z.B. das „Zurück zu den Quellen”, das ein Postulat des sich emanzipierenden Geistes ist, kennen schon ältere Wurzeln.

(6) Die Antithese der Neuzeit

Die subjektiven Bewegungen des Mittelalters, Armutsbewegung und Mystik, gipfelten in der Neuzeit endgültig auf. Martin Luther fragt: „Wie finde ich den gnädigen Gott”, und er postuliert für den Einzelnen und seinen rechtfertigenden Glauben den unmittelbaren Zugang zu Jesus Christus und Gott, ohne die Zwischenschaltung der Heilsinstitution Kirche. Alle Raster der lateinischen Theologie seit Augustinus werden jetzt ins Subjektive gewendet und vom Einzelnen ganz persönlich internalisiert: Die Erbsünde betrifft vor allem mich, ich bin durch und durch Sünder und dem Zorn Gottes verfallen, Jesus ist für mich gestorben, Gott rechtfertigt mich in Gnade und Prädestination. Der subjektive Glaube wird zur Basis der Rechtfertigung (des Einzelnen).

Diese Struktur wird auch von Calvin beibehalten, aber inhaltlich anders gewichtet. Für ihn ist die ewige Prädestination Ausgangspunkt der Rechtfertigung des Erwählten; alle anderen Motive von der Erbsünde bis zum Kreuz und dem Glauben werden dieser Mitte nachgeordnet: der Einzelne steht unmittelbar vor dem prädestinierenden Gott.

Der Katholizismus der Neuzeit, wesentlich geprägt vom Konzil von Trient, versucht zwar, der Kirche, ihrer Lehre und ihrem Amt, eine starke Bedeutung zu bewahren, so dass sich faktisch der Einzelne in „objektive” Raster einfügen muss und somit Individualisierung in diesem Kontext zumindest langsamer verläuft. Andererseits aber geht es in der Lehre des Konzils von Trient, was ihm oft zum Vorwurf gemacht wurde, um den Einzelnen; weil er, wie die Christen anderer Konfessionen, sein Heil zu verwirklichen sucht, soll er sich, anders als in den anderen Konfessionen, an die Vorgaben und Heilsangebote der Kirche halten. Die „synthetische” Lösung des Katholizismus aber ist – das ist neu gegenüber dem Mittelalter – auf den Einzelnen bezogen. Und die kontroverstheologische Situation tat ein Übriges, das Katholischsein wenigstens grundsätzlich als ein Ergebnis freier Wahl des Einzelnen erscheinen zu lassen (vgl. z.B. die Bedeutung der „Wahl” in dem neuzeitlichen katholischen Orden, dem Jesuitenorden). So ist mit der frühen Neuzeit eine bis dahin unbekannte Stufe der Individualisierung zu erkennen.

Diese Linie, in der sich das subjektive Denken von „objektiven” Vorgaben zu befreien suchte, wurde allerdings durch die Reformation (und ebenso durch die Gegenreformation) zunächst zurückgedrängt bzw. sogar behindert. Zwar machten sich die Reformatoren von der kirchlichen Setzung der fides frei und ließen das Subjekt zu seinem Recht kommen. Aber sie hielten am „Kern” der fides, dem objektiv gegebenen Gott und seinem Heilswillen, an der Inspiration der Schrift und an den altkirchlichen Dogmen, fest. Dies alles blieb dem Subjekt vorgeordnet, so dass es die radikal empfundene Subjektivität des Denkens nicht auch auf diese Vorgaben beziehen und sie subjektiv herleiten konnte; Gott wurde zunächst noch nicht als Postulat des subjektiven Denkens betrachtet. So vertritt Ernst Troeltsch nicht zu Unrecht die These, die Reformation sei in manchem noch dem Mittelalter zuzurechnen und habe den Beginn der Neuzeit für längere Zeit aufgehalten[11].

(7) Die Aufklärung

So scheint erst die Aufklärung den Durchbruch zur Autonomie von Subjekt, Intellekt und Ethik und schließlich auch zur politischen, gesellschaftlichen und sozialen Selbstbestimmung gebracht zu haben. Aber schon René Descartes (gest. 1650) hat, in Weiterführung der mittelalterlichen Entwicklung, den programmatischen Satz Cogito ergo sum formuliert, wenn er selber sich vielleicht auch noch nicht der Tragweite seiner Aussage bewusst war. Nicht mehr wie im Mittelalter heißt es: Ich bin, weil Gott mich geschaffen hat, sondern der einzige Ausgangspunkt und die einzige Selbstvergewisserung ist das subjektive Denken.

Diese subjektive Wende des Denkens wurde in der Aufklärungszeit, vor allem von Immanuel Kant (gest. 1804), systematisch begründet. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit” (Immanuel Kant)[12] , womit alle Heteronomie „objektiver” Vorgaben für das Individuum überwunden ist; in seiner Kritik der reinen Vernunft begründet Kant alle Erkenntnis im „transzendentalen Subjekt”.

Für die Aufklärer, wie z.B. für G.E. Lessing (gest. 1781), erschien der Glaube jetzt als bloß historische Vorgabe. Aber erst mit dem Beginn der Moderne, im 19. Jahrhundert, wurde die Kritik auf die fides selbst, vor allem auf den bisher thetisch vorausgesetzten Gottesglauben, angewandt, der jetzt ebenfalls als Produkt subjektiver Reflexionsprozesse wahrgenommen wurde.

Das aufgeklärte Denken war noch längere Zeit eine Sache kleiner Eliten, und auch nicht alle Aufklärer besaßen die gleiche Radikalität. Aber schon in dieser Epoche wird deutlich, dass die subjektive Begründung des Denkens mit den damaligen christlich-neuzeitlichen Auffassungen kollidierte, von der Feststellung G.E. Lessings, dass Erziehung die Offenbarung ist, „die dem einzelnen Menschen geschieht”, und dem Menschen nichts gibt, „was er nicht aus sich selbst haben könnte”[13] , sowie dass es einen ,garstig breiten Graben‘ zwischen der „historischen Wahrheit” des Christentums und den „notwendigen Vernunftwahrheiten” gebe[14] , bis hin zur Christentumskritik Voltaires (gest. 1778).

(8) Resümee

Die gewaltige Herausforderung, die für das Abendland die Vermittlung der objektiven Offenbarung bedeutete, hatte jetzt – nach langen Jahrhunderten des rezeptiven Aneignens, des Wachsens der Fähigkeiten zu eigenem Denken, der Synthese und ihres Zerfalls – eine ebenso gewaltige Antithese gefunden. Ein übermächtiger Vater kann die Entwicklung seiner Kinder behindern, so dass sie niemals selbständig werden; sie können aber auch im Gegenzug durch diese Herausforderung umso mehr Autonomie erringen. Dieser Vergleich trifft wohl für das Abendland zu. Es ist an dem Übervater Kirche und Glaube gewachsen, befreite sich von allen (scheinbar) „objektiven” Vorgaben und hat die Autonomie des subjektiven Denkens in einer Weise formuliert, wie es in keiner anderen Kultur geglückt ist: Alles hat nur Bestand, wenn es vor dem Forum der Vernunft bestehen kann. Damit verbunden ist die Vorstellung von der Autonomie des Menschen gegenüber allen Heteronomien ethischer Art.

Eine solche oder auch nur vergleichbare Geschichte hat es in keiner anderen kulturellen Tradition gegeben. Sie ist gewissermaßen das zentrale Erbe Europas, das es in den interkulturellen Dialog einzubringen gilt. Europa ist geprägt von Aufklärung, Autonomie des Einzelnen, Menschenrechten, Einsatz für die daraus resultierenden Folgerungen, wie Religions- und Pressefreiheit usf.

Zwar hat es in Europa auch in der Neuzeit und Moderne immer wieder – oft verheerende – Rückfälle gegeben, die den Einzelnen durch dogmatische Vorgaben, Nationalismen oder sonstige Ideologien zu nivellieren suchten. Aber man kann doch festhalten, dass sich dieser Status des autonomen Subjekts immer wieder durchzusetzen scheint.

Eine Gefahr allerdings scheint es in dieser Hinsicht für die europäische Identität zu geben: Der Sieg des Subjekts über alles Vorgegebene lässt ihm seine Bezugs- und Reibepunkte, bis hin zu Gott, entschwinden. Was geschieht, wenn sich die antithetisch errungene Freiheit nicht mehr halten kann, weil ihr keine These mehr gegenübersteht? „Ohne transzendentalen Rückbezugspol sind wir dem Ungeheuer Welt eingefügt ... Wenn kein verfassungsgebender, transzendenter, mit Menschen solidarischer Gott mit uns etwas Besonderes vorhat, so ist die Welt, in der wir und von der wir sind, ein Hyperungeheuer", aus dessen evolutiven Prozessen wir als „Monstren", „bis hin zu Tyrannosaurus Rex, Homo sapiens und Ebola-Virus", hervorgegangen sind.[15]

Der Sieg der Individualisierung kann sich also in sein Gegenteil verkehren, und der Konformismus individueller Selbstverwirklichung sowie die fehlende Distanz zu modischen Zwängen und irrationalen Angeboten scheinen diese Annahme zu bestätigen. Die Gefahr der postmodernen Beliebigkeit kann zu einer Dekonstruktion des Subjekts und seiner Verantwortung – scheinbar gestützt durch naturwissenschaftiche Erkenntnisse – führen. Wie aber sieht die globale Zukunft aus, wenn die Stimme Europas ihr zentrales Spezifikum nicht mehr wirksam einbringen kann, weil es hinter seine eigene Geschichte zurückfällt?


© imprimatur Januar 2012
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[1]Der hier abgedruckte Beitrag, ursprünglich ein in Cadenabbia gehaltener Vortrag, ist unter dem Titel „Europäische und außereuropäische Kultur- und Ordnungsideen. Die Mittelpunktstellung von Subjekt und kritischer Vernunft als europäisches Spezifikum“ im Jahre 2010 in dem im Herder-Verlag publizierten Sammelband von Günter Buchstab (Hg.), Die kulturelle Eigenart Europas, S.178-216, erschienen.
[2]Leo I., sermo 82,1.
[3]H. Bayer, Zur Soziologie des mittelalterlichen Individualisierungsprozesses, a.a.O. 132.
[4]H. Bayer, ebd. 136.
[5]Vgl. H. Bayer, Zur Soziologie des mittelalterlichen Individualisierungsprozesses, a.a.O. 119: „Aus dem freien dörflichen Handwerk entwickelte sich nun das städtische Handwerk. Daneben blühte ... der Handel auf ... Diese sozial-ökonomische Entwicklung trägt – wissenschaftlich gesehen – sowohl die frühen individualistischen bzw. voluntaristischen Tendenzen des 12. Jahrhunderts als auch den Okkhamistischen Nominalismus und spätmittelalterlichen Individualismus mit seinen Elementen kritischer Skepsis ...”.
[6]Zum „ritterlichen Individualismus des 12. Jahrhunderts” vgl. H. Bayer, ebd. 121-123.
[7]Jacob Burkhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (11860), in: W. Kaegi (Hg.), Jacob Burckhardt-Gesamtausgabe, Bd. V, Berlin, Leipzig 1930, zweiter Abschnitt: “Entwicklung des Individuums”, 95-123.
[8]H. Bayer, Zur Soziologie des mittelalterlichen Individualisierungsprozesses, a.a.O. 121.
[9]Sigrid Hunke, Glauben und Wissen. Die Einheit europäischer Religion und Naturwissenschaft, Düsseldorf, Wien 1979, stellt in ihrer Einleitung die gängige These in Frage, die Renaissance selbst sei der auslösende Faktor für die Entstehung der Neuzeit gewesen (11-14). Auch sie sieht die Wurzeln der Neuzeit tief im Mittelalter; die Berufung auf die Antike habe vielmehr dem neuzeitlichen Denken „wiederum Autoritäten” eingebracht (12). Sie gibt auch den Hinweis, dass die italienische Renaissance gänzlich anders zu werten sei, insofern hier auch schon im Mittelalter die Tradition des antiken Denkens ungebrochener war als im übrigen Europa.
[10]Vgl. Stefanie Marschke, Künstlerbildnisse und Selbstporträts. Studien zu ihren Funktionen von der Antike bis zur Renaissance, Weimar 1998, bes. “III. Öffentliche und private Funktionen in der Renaissance”, 125-311.
[11]Ernst Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (Die Kultur und Gegenwart, Ihre Entwicklung und Ziele, hrsg. von Paul Hinneberg, Teil I, Abt. IV; Die christliche Religion mit Einschluß der israelitisch-jüdischen Religion, I. Hälfte: Geschichte der christlichen Religion), Berlin und Leipzig 1906, 254-269.
[12]I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783), in: Werke, Bd. 9, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1968, 53.
[13]G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechtes, in: G.E. Lessing, Werke, hrsg. von H.G. Köpfert, 8. Bd.: Theologiekritische Schriften III, Philosophische Schriften (bearb. von H. Göbel), München 1979, 490.
[14]G.E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Werke, Bd. 8, a.a.O. 11-13.
[15]P. Sloterdijk, Chancen im Ungeheuren. Notiz zum Gestaltwandel des Religiösen in der modernen Welt im Anschluß an einige Motive bei William James, in: William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Ein Studie über die menschliche Natur (übers. von E. Herms und Ch. Stahlhut), mit einem Vorwort von P. Sloterdijk, Frankfurt a.M. 1997, 20.