Je relativer, desto besser
(Befreiungs-)Theologische Kritik der Beschwörung des Absoluten (II)

Aber damit nicht genug. Mit dem platonisch-augustinischen Menschen- und Weltbild der alten Kirche einher geht bei Ratzinger eine damit kompatible Lesart des Mittelalters. Er, der nach eigenem Eingeständnis immer etwas Mühe hatte mit dem rationalen Denken des Thomas von Aquin, wendet sich in seiner Habilitation der Geschichtstheologie Bonaventuras zu. An dieser eher mystisch-weisheitlichen Geschichtstheologie fasziniert Ratzinger, dass sie, etwas salopp gesagt, ins Jenseits führt. Die Zielrichtung seiner Habilitationsschrift umschreibt er selbst mit dem Hinweis darauf, dass es dem Menschen eben schwer falle, nur auf das Jenseits zu hoffen, dass aber Bonaventura helfe zu sehen, dass die rein diesseitige Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft trügerisch sei. Und wörtlich:

Bonaventura hat sich gegen die Utopie gewandt, die den Menschen betrügt… Und: Der Heilige will der geistigen Verwirrung der Zeit (Ratzinger bezieht sich hier auf Joachim von Fiore und seine Gefolgsleute) das Bild der christlichen Weisheit entgegenhalten.[1]

Und bedenkt man, dass dieselbe Skepsis in Bezug auf die Gestaltung der Gesellschaft auch schon bei Augustinus in „De civitate Dei“ zu finden ist, dann wird klar, weshalb Ratzinger weder den modernen Demokratiebewegungen und noch viel weniger der politischen Theologie oder der Theologie der Befreiung etwas abgewinnen kann. Im Gegenteil: Im Lichte von 1968 wird ihm nur noch einmal endgültig bestätigt, wie Recht doch Augustinus hat mit seinem pessimistischen Menschenbild, und Plato mit seiner Zwei-Weltenlehre und erst recht Bonaventura mit seiner geschichtstheologischen Skepsis gegenüber der innergeschichtlichen Utopie. Abhilfe schafft da allein, exklusiv, die Heilslehre jener Kirche, die als der mystisch fortlebende Leib Christi, das Christusgeheimnis verwaltet und so Anteil hat an der transzendenten Idee des Guten, was für den Theologen heißt: am Göttlichen selbst.

Was hier in wenigen Strichen nur summarisch angedeutet werden kann, ist hinreichend bekannt und wurde verschiedentlich näher analysiert. Einer der besten Kenner der Materie ist Hermann Häring. Sein Buch „Theologie und Ideologie bei Joseph Ratzinger“ erschien bereits 2001. Und als Ratzinger Papst wurde, war es vergriffen, und der Patmos-Verlag wagte es nicht wieder aufzulegen. Häring wiederholte seine Kritik und schärfte sie an im Blick auf den inzwischen zum Papst gekrönten. 2009 erscheint bei Gütersloh (!) sein neues Buch „Im Namen des Herrn. Wohin der Papst die Kirche führt“.

Nach Häring beginnt Ratzinger bereits in Tübingen damit, Schutzmauern aufzubauen, um ein System zu stabilisieren, das ihm Sicherheit gibt. Häring nennt drei solcher Schutzmauern, „die er später nie mehr verrücken oder durchlöchern wird“[2] , und er bemerkt, dass diese drei Mauern zugleich Einblick geben in die Welt der gegenreformatorischen Kirchenlehre. Die erste Schutzmauer errichtete Ratzinger bereits bei seiner Antrittsvorlesung in Tübingen: die hellenistische Theologie der Väter habe für die Kirche eine bleibende Bedeutung, weil in dieser Zeit der Kanon der Schrift, die Glaubensbekenntnisse und die Grundform des christlichen Gottesdienstes sich etabliert hätten. Die hellenistische Theologie der alten Kirche sei deshalb unhintergehbarer Referenzpunkt für einen adäquaten Umgang mit der Schrift heute, für die verbindliche Lehre der Kirche und die heutige Liturgiereform.

Die zweite Mauer baut Ratzinger nach Häring im Umfeld der Würzburger Synode, wo Laien Mitbestimmung fordern; gegenüber dem Ruf nach Demokratisierung der Kirche versteht er Kirche nicht als Volk Gottes – dies sei nämlich ein alttestamentlicher, in der Kirche überholter Begriff –, sondern als ecclesia sei Kirche die um den Bischof zentrierte Versammlung, und diese Konzeption gehe auf die Apostel selbst zurück, wie die Apostelgeschichte zeige (sämtliche exegetischen Erkenntnisse übergeht Ratzinger dabei nonchalant). Und so bindet er die alleinige Entscheidungskompetenz und Lehrautorität an das Bischofsamt.

Die dritte Schutzmauer nach Häring errichtet Ratzinger 1975 im Büchlein „Prinzipien christlicher Moral“. In den aufkommenden Strömungen von autonomer Moral, politischer Theologie und Theologie der Befreiung sieht er die kirchliche Lehrautorität in Glaubens- und Sittenfragen untergraben. Den Grund dafür sieht er nicht zuletzt in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes, die auf einen echten, wechselseitig-partnerschaftlichen Dialog mit der Welt von heute setzt, und nicht mehr einfachhin die Kirche von der Offenbarung her als absolute moralische Instanz anerkennt. Und so eröffnet Ratzinger nach Häring „einen Kreuzzug gegen den epochalen Konzilstext Gaudium et spes[3] . Und in der Tat: Bereits in seinem Kommentar zum 1. Kapitel von GS unmittelbar nach dem Konzil urteilt Ratzinger in Bezug auf GS 17, wo es um die Freiheit und Würde des Menschen geht, „der Versuch, an die christliche Anthropologie von außen heranzuführen…, hat hier zur falschen Konsequenz verleitet, das Eigentliche des christlichen Glaubens als das vermeintlich weniger Dialogfähige vorderhand beiseite zu lassen“[4] . Relativierung also wittert er schon früh in diesem wichtigsten aller Konzilstexte. Und Mitte der 70er Jahre wird sein Ton bedeutend schärfer. Jetzt spricht er unverblümt Klartext in einem Artikel, der als Schlusskapitel Eingang findet in sein gewichtiges, fundamentaltheologisches Werk „Theologische Prinzipienlehre“: Der Text von GS spiele „die Rolle eines Gegensyllabus“[5] , mit „Welt“ sei im Grunde der Geist der Neuzeit gemeint, der dann in der Zeitschrift Concilium gefeiert worden sei und in einer Theologie der Revolution rund um 68 gegipfelt habe und in der Theologie der Befreiung seine problematische Verengung auf sozialpolitische Veränderung zeitigte.

Mit diesen drei Schutzmauern nun – der hellenistisch-platonisierenden Theologie der Väter als Referenzpunkt von Theologie und Kirche, der hierarchischen Zementierung der Autorität des Bischofsamtes innerkirchlich und der letztinstanzlichen Zuständigkeit der katholischen Kirche in Glaubens- und Sittenfragen gegen innen und außen – will Ratzinger dem Relativismus die Stirn bieten. So empfiehlt er sich am Vorabend des Konklaves als Fels in der Brandung der Moderne. Sieht er sich selbst vielleicht gar als jener Philosoph, der in Platos Höhle, von Ketten befreit, den beschwerlichen Aufstieg in drei Stufen aus der Höhle geschafft und die Idee des Guten geschaut hat und sich nunmehr bereit erklärt, zurück in die Höhle zu steigen, um den dumpf dahindämmernden Zeitgenossen davon zu berichten, die absolute, unverrückbare Wahrheit zu künden und ihnen den einzigen Weg zu weisen, wie sie zum Heile kommen, will heißen, hinaus gelangen an die Sonne, zum Guten an sich, zum höchsten Guten – die Höhle sich selbst überlassend, will heißen: die Welt und Gesellschaft mit ihrer alles vernebelnden und knechtenden „Diktatur des Relativismus“?

4. Je relativer, desto besser – eine Gegenthese mit Begriffsklärungen

Es ist an der Zeit, endlich näher zu erläutern, worauf ich hinaus will, wenn ich mich hier mit dem derzeitigen Papst so ausführlich beschäftige. Denn nicht um den Papst ist es mir zu tun. Er ist nur das prominenteste Aushängeschild dieser verheerenden Denkungsart und hat damit enormen Einfluss auf das heutige katholische Kirchenbild und auf das, was wir tun und lassen an der Basis der katholischen Kirche.

Der Standpunkt des Papstes ist klar. Seine diffamierende Rede von der „Diktatur des Relativismus“ spricht Bände und deren theologische Wurzeln sind verräterisch. Je relativer, desto schlimmer oder schlechter – dies ist, wie wir gesehen haben, Ratzingers Position.

Demgegenüber soll hier die Gegenthese stark gemacht werden: Je relativer, desto besser. Gerade im Relativen liegt das Gute; im Relativen ist das Gute zu suchen und zu finden, nicht im Absoluten.

Ratzinger hingegen hält dem Relativismus die absolute Wahrheit entgegen. In immer neuen Anläufen beschwört er das Absolute geradezu, die Absolutheit der Wahrheit und vermeint, einen absoluten Standpunkt in der Wahrheitsfrage einnehmen zu können. Nur drei Texte seien exemplarisch erwähnt. 1. In der berüchtigten Erklärung „Dominus Iesus“ von 2000 wendet sich Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation gegen „theologische Vorschläge …, in denen die christliche Offenbarung und das Mysterium Jesu Christi und der Kirche ihren Charakter als absolute und universale Heilswahrheit verlieren“ (Nr. 4), das Göttliche nennt er ohne Umschweife das „Absolute“ (Nr. 7), den Begriff „absolut“ hält er darin theologisch für unvermeidlich (Nr. 15), und Jesus Christus hat für ihn „eine herausragende und einmalige, nur ihm eigene, ausschließliche, universale und absolute Bedeutung und Wichtigkeit“ (ebd.). 2. In seiner dritten und bisher jüngsten Enzyklika „Caritas in veritate“ definiert Benedikt 2009 gleich zu Beginn Gott programmatisch als „die ewige Liebe und die absolute Wahrheit“ (Nr. 1). Und in der Botschaft zum Weltjugendtag schließlich richtet er an die Jugendlichen folgenden Satz:

Der weitverbreitete Relativismus, demzufolge alles gleich gültig und es weder eine Wahrheit noch einen absoluten Bezugspunkt gibt, bringt keine wahre Freiheit hervor, sondern Instabilität, Verwirrung, Anpassung an die Modeströmungen des jeweiligen Augenblicks.

Es muss also nach dem Papst eine einzige Wahrheit und einen absoluten Bezugspunkt geben, sonst nehmen Instabilität und Verwirrung überhand.

Ist dies so klar und eindeutig? Und haben wir es beim sog. „absoluten Bezugspunkt“ nicht wiederum mit einem begrifflichen Paradox zu tun? Absolut heißt ja wörtlich „losgelöst“. Das Absolute ist also das Losgelöste, das frei ist von allen Bedingungen, Beziehungen und Beschränkungen. Was also ist ein „absoluter Bezugspunkt“? Wird er nicht gerade durch den Bezug, die Beziehung, eben relativ? Im Wort „relativ“ steckt nämlich das Substantiv „Relation“. Das Relative ist von daher das Bezügliche, das Relationale. Relativ und relational gehören begrifflich eng zusammen.

Dabei darf das Relative keinesfalls mit dem Beliebigen verwechselt werden. Zu Recht hält der Artikel „Relativität“ in Wikipedia fest:

Vor allem in journalistischen Texten wird nicht selten Relativität als gleichbedeutend mit Beliebigkeit verwendet. Dies ist jedoch irreführend, weil die Relativität von Aussagen immer die Abhängigkeit dieser Aussagen von Bedingungen bedeutet, während die Beliebigkeit von Aussagen so zu verstehen ist, dass diese ohne irgendwelche Bedingungen gewählt worden sind. Relativität und Beliebigkeit sind darum Gegensätze und dürfen nicht miteinander verwechselt werden.[6]

Und überdies bleibt zu bedenken: Wäre Gott so, wie der Platoniker Ratzinger ihn sieht und aus seiner Warte wohl nicht anders sehen kann, wäre Gott absolut, also völlig losgelöst, dann würde er für uns Menschen gerade beliebig, vernachlässigbar, uninteressant. Erst dadurch, dass Gott in einer unauflösbaren Relation zur Schöpfung und zu den Menschen steht, erst dadurch, dass Gott relativ ist zu Welt und Menschen, wird er interessant und verbindlich.

Von daher ist die Relation, die Beziehung, mehr als die absolute Monade. Und es wäre eine Verarmung Gottes, wenn er absolut, also völlig losgelöst, wäre – statt relativ, relativ nämlich zur Welt, zu den Menschen. Durch diese Relation aber wird Gott der Absolutheit entzogen. Mystische Traditionen haben das begriffen und Wege gesucht, mit deren Hilfe Menschen ihrerseits in die Relation mit Gott eintauchen können.

An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Gibt es vielleicht doch jenen unüberbrückbaren Gegensatz, den schon Blaise Pascal in seinem berühmten Diktum benennt, zwischen dem Gott der Philosophen und Gelehrten einerseits und dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, dem Gott Jesu Christi, also dem biblischen Gott andererseits? Für Ratzinger kann es diesen Gegensatz selbstredend nicht geben. Schon in seiner Antrittsvorlesung 1959 an der Universität Bonn befasst er sich mit dem Thema[7]. Er sieht die Lösung und Versöhnung im Monotheismus: Während das philosophisch erreichbare Absolute nicht ansprechbar sei, bestehe das Wesen des Monotheismus darin, dass der Mensch es wage, „das Absolute selbst als den Absoluten anzusprechen, als Gott, der zugleich das Absolute an sich und des Menschen Gott ist“.[8]

Zugleich das Absolute an sich und des Menschen Gott, das Losgelöste an sich und der Gott, der sich auf die Menschen einlässt? – eine wenig überzeugende Verbindung. Der biblische Offenbarungsglaube jedenfalls denkt radikaler. Es gehört geradezu zum Wesen des biblischen Gottes, in Beziehung zu sein mit der Welt und den Menschen. Und christologisch ist Jesus von Nazaret als die Relation Gottes schlechthin zu begreifen, und das zeigt unhintergehbar, dass Gott nicht absolut, losgelöst ist, nicht absolut sein kann und nicht absolut sein will. Gott ist von vornherein „Macht in Beziehung“, wie die feministische Theologin Carter Heyward treffend sagt[9]. Die ganze Bibel legt Zeugnis davon ab und bedient sich dabei einer anthropomorphen Sprache. Gott geht völlig auf in seinem Engagement in der Geschichte und in der höchst problematischen und wechselhaften, aber dennoch stets unauflösbaren Beziehung zu den Menschen. Gott zürnt, ereifert sich, segnet und flucht, ist eifersüchtig und besitzergreifend, er schickt die Flut und ändert mehrfach seine Meinung, verändert sich und macht Lernprozesse durch. Ja, selbst mit dem Teufel steht er im Bunde, wie das Buch Ijob belegt. Aber stets ist da Dynamik und Engagement spürbar.

Demgegenüber scheint der griechische, absolute Gott merkwürdig blass, fern und für die Menschen uninteressant. Was nützen uns das Absolute und die Idee des Guten, was nützt uns das „höchste Gute“, das „summum bonum“ bei Platon und der griechischen Philosophie allgemein, wenn dieses absolut Gute so losgelöst und unbezüglich ist, dass in der Höhle der Welt die Menschen verhungern, an Krankheiten krepieren, durch Erdbeben hinweggerafft werden? Und außerhalb der Höhle kümmert dies alles niemanden einen Deut. Und wo ist da das Gute wirklich geblieben? Auf der Strecke. Das Absolute und das Gute scheinen sich nicht wirklich zu vertragen. Hier ist der Einspruch der Theologie der Befreiung tief biblisch und unverzichtbar.

5. Die Intuition der Theologie der Befreiung und die Aversion gegen sie

Man kann den erkenntnistheoretischen Bruch, den die Theologie der Befreiung vollzieht mit der europäisch-griechisch-platonischen Prägung der Theologie, nicht genug betonen[10]. Wer von den Interessen der Armen aus denkt, kommt zu ganz anderen Schlussfolgerungen, als wer die harmonisierende Kosmologie der Griechen zugrunde legt. Dies ist eine zentrale Intuition der Theologie der Befreiung: Wer Gott nicht unbeweglich und neutral als das absolut Gute über den Prozess der Geschichte stellt, sondern ihn als parteilichen Mitstreiter und Mitleidenden an der Seite der Armen und Bedrängten aller Art sieht und erfährt, der entwickelt eine gesellschaftspolitisch reflektierte und engagierte Theologie. Und er entdeckt gerade in der Relativität, der Bezüglichkeit oder Relationalität Gottes das Wertvolle. Die Bezogenheit Gottes auf die Sorgen und Nöte der Menschen, der Armen und Bedrängten aller Art zumal, welche schon das Konzil in GS 1 programmatisch festhielt, macht nun die Theologie der Befreiung in ihrer „vorrangigen Option für die Armen“ zu ihrem Dreh- und Angelpunkt. Zugleich führt diese Relation Gottes auf die Armen und Bedrängten hin zu einer Stärkung der Relationen der Armen und Geknechteten untereinander und der Verantwortlichkeit der Menschen füreinander. Die Basisgemeinden sind insofern die angemessene, neue Art des Kircheseins und des Kirchenverständnisses. Und diese wiederum sind nicht Selbstzweck und wollen nicht aufs Jenseits vertrösten, sondern stehen im Dienste besserer persönlicher Lebensbedingungen und menschenwürdigerer Strukturen in Wirtschaft und politischem Zusammenleben.

Damit gewinnt die Theologie der Befreiung gegenüber den bürgerlichen Verbrämungen und den griechisch-philosophischen Verzerrungen europäischer Theologie die genuin biblische Weltsicht und das prophetisch-jesuanische Menschen- und Gottesbild zurück. Insofern leistet die Theologie der Befreiung nicht zuletzt einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Befreiung der Theologie aus der Umklammerung durch das griechische Paradigma des Denkens und zu einer Wiederentdeckung des Eigenwerts des hebräisch-jüdischen, also des biblischen Deutungsparadigmas.

Als Papst einer christlichen Kirche, die sich auf die Bibel als „Norma normans“ beruft, müsste Benedikt XVI. eigentlich seine helle Freude haben an der Theologie der Befreiung und ihrem Durchbruch. Aber nach all dem Gesagten ist offensichtlich, dass Ratzinger nichts ferner liegt als das. Nur schon die oben genannten biblischen Vorstellungen, dass Gott parteilich sei und sich um seiner Parteilichkeit willen in der menschlichen Geschichte die Hände schmutzig macht, dass er seine Meinung ändert und sich umstimmen lässt usw., müssen ihm ein Dorn im Auge sein. Und so bleibt ihm nur eine Möglichkeit. Und diese wählt er denn auch in seiner „Einführung in das Christentum“; Ratzinger domestiziert also bereits 1968 die Bibel mit Hilfe der griechischen Philosophie:

Ich bin der Überzeugung, dass es im tiefsten kein bloßer Zufall war, dass die christliche Botschaft bei ihrer Gestaltwerdung zuerst in die griechische Welt eintrat und sich hier mit der Frage nach dem Verstehen, nach der Wahrheit verschmolzen hat.[11]

Erst durch die Verbindung mit der griechischen Welt, mit dem griechischen Denken, kommt also nach Ratzinger die Botschaft der Bibel zum Verstehen, der Glaube zur Wahrheit. Das ist wahrlich eine kühne Behauptung! Aber in Ratzingers Denken ist sie konsequent. Und er legt denn auch noch nach in einer schier unglaublichen exegetischen Notiz in der Fußnote dazu:

Man kann in diesem Zusammenhang auf die bedeutsame Perikope Apg 16,6-10 verweisen (der Heilige Geist hindert Paulus, in Asien zu verkündigen, der Geist Jesu lässt ihn nicht nach Bithynien reisen; dazu die Vision mit dem Ruf Makedoniens „Komm herüber und hilf uns“). Dieser geheimnisvolle Text dürfte doch wohl so etwas wie einen ersten „geschichtstheologischen“ Versuch darstellen, der den Übergang der Botschaft nach Europa, „zu den Griechen“, als göttlich verfügtes Müssen herausstellen will.

Die Tatsache, dass Ratzinger die biblische Botschaft erst mit Hilfe des griechischen Denkens zur Wahrheit kommen lässt, dass er also die griechische Philosophie quasi zur Richterin über die Wahrheit der Bibel erklärt und dass er dafür sogar die göttliche Vorsehung bemüht, das zeigt, dass er in erster Linie gar nicht ein genuin jüdisch-christlicher Theologe ist und sein will, sondern im Kern ein verspäteter griechischer Beschauungs- und Ordnungsphilosoph geblieben ist.

Und Ratzinger erkennt früh, dass von der Theologie der Befreiung Gefahr droht – jedoch nach ihm nicht jene reale Gefahr, welche die Juden und Christen immer wieder zu Verfolgten und Märtyrern machte (keine und keiner von ihnen ist nota bene für einen beschaulichen platonischen Gott gestorben, welcher die Idee des Guten oder das „summum bonum“ verkörperte). Nein, vielmehr sieht Ratzinger Gefahr für den hierarchischen Machtapparat, für die kirchliche Deutungshoheit und die kirchliche Machterhaltung und -entfaltung. Und weil dies alles mit gesellschaftspolitischen Verhältnissen verbunden ist, droht die Gefahr auch von demokratischen Gesellschaften und deren Einfluss auf die Menschen. Deshalb der Angriff auf die moderne, „relativistische“ Gesellschaft und deshalb auch die lehramtliche Maßregelung und die publizistische Hetzkampagne gegen die zutiefst biblische Theologie der Befreiung und die damit verbundene christliche Praxis in den Basisgemeinden etc. – Nur im Namen des Absoluten, dessen Stellvertreter Ratzinger, völlig unbiblisch, zu sein beansprucht, nur in solcher Verabsolutierung Gottes liegt die Möglichkeit der Domestizierung der „Schäfchen“. Im Namen des relativen Gottes geht das nicht; da hat Gott eine unmittelbare personale Beziehung zu allen Menschen; diese braucht keine hierarchisch-lehramtliche Vermittlung. Sie braucht jedoch spirituelle Nahrung und Wegbegleitung. Statt Dogmen, Katechismen und Dekrete in die Welt zu senden, müsste die amtliche Kirche Hilfen geben, den in jedem Menschen einwohnenden Geist Gottes im Leben zum Zuge kommen zu lassen, Hilfen mithin, auf induktivem Weg zur relativen, relationalen Wahrheit des Lebens zu finden.

Fazit

Die Diktatur ist eine Sache des Absoluten, nie des Relativen. Die suggestive Rede von der „Diktatur des Relativismus“ trägt schon in sich einen logischen Widerspruch. Entsprechend dreist ist eine solche beschwörende Diffamierungsetikettierung. Hingegen hat das Wort „Diktatur“ eine große Affinität zum Absoluten, zu jeder Absolut-Setzung. Entsprechend diktatorisch führt sich der sogenannte Pontifex auf (Brückenbauer wäre schon von der Wortwurzel her ein relativer Beruf!). Mit seiner hellenistisch-platonisierenden Verzeichnung der jüdisch christlichen Tradition und seiner reaktionären gesellschaftspolitischen Position führt Benedikt XVI. die Kirche – ob bewusst oder unbewusst, das sei dahingestellt – immer weiter weg von Jesus und seiner Reich-Gottes-Botschaft.

In diesem Sinne: Ein Hoch dem Relativen! Und nehmen wir uns gut in Acht vor der vollmundigen Beschwörung des Absoluten – um des Guten oder wenigstens um des Besseren willen.


© imprimatur Januar 2012
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[1]Zitiert nach Corell/Koch, Papst ohne Heiligenschein? 93.97.
[2]Häring, Im Namen 76; Vgl. für das Folgende Ebd. 76ff.
[3]Ebd. 88.
[4]GS-Kommentar, LThK2, 331.
[5]Theologische Prinzipienlehre 399 u. ö.
[6]Art. Relativität, in: www.wikipedia.ch
[7]Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen. Ein Beitrag zum Problem der theologia naturalis (nachzulesen in J. Ratzinger, Vom Wiederauffinden der Mitte, Freiburg 1997, 40-59, und in einer von H. Sonnemans besorgten Neuausgabe: Leutesdorf 2004.
[8]Zit nach Waldenfels, Gott des Glaubens u. der Philosophen, in: www.theologie-und-kirche.de/waldenfels.pdf
[9]Vgl. Carter Heyward, Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung, Stuttgart 1986.
[10]Vgl. dazu den programmatischen Aufsatz von Jon Sobrino, Theologisches Erkennen in der europäischen und der lateinamerikanischen Theologie, in: Rahner K. (Hg.), Befreiende Theologie. Der Beitrag Lateinamerikas zur Theologie der Gegenwart, Stuttgart 1977.
[11]Ratzinger, Einführung 43. Vgl. dazu: Häring, Eine katholische Theologie? J. Ratzinger, das Trauma von Hans im Glück, in: Greinacher N./Küng H., Katholische Kirche – wohin? Wider den Verrat am Konzil, München 1986, 250.