Norbert Sommer
Erinnerung für die Zukunft

War es Zufall? Fast auf den Tag genau nach 25 Jahren stieß ich unverhofft auf eine Ausgabe der Zeitung „Kölnische Rundschau“ vom 23. August 1986. Ich fand sie beim dringend nötigen Aufräumen bzw. Aussortieren meiner umfangreichen Dokumenten-Sammlung zwischen dem Buch von Petra Kelly „Um Hoffnung kämpfen – Gewaltfrei in eine grüne Zukunft“ und dem Sammelband „Die Grünen und die Religion“. Damals hatte diese Zeitungs-Nummer für Furore gesorgt. Warum? Der Hauptartikel auf der Titelseite verriet es: „Höffner: Grüne für Katholiken nicht wählbar.“ Das bezog sich auf ein ausführliches Interview im Innern des Blattes mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, dem Kölner Kardinal Joseph Höffner. Darin sprach er von seiner Verwunderung darüber, dass im Programm der Grünen für die kommende Bundestagswahl die völlige Streichung des Paragraphen 218 verlangt worden sei und „somit die Preisgabe des staatlichen Schutzes des ungeborenen Kindes“. Außerdem sei er überrascht, „wenn die Grünen im Parteiprogramm sagen, dass Ehe, nichteheliches Zusammenleben, Alleinerziehende und homosexuelle Paare gleichgestellt werden sollen. Die Ehe als Institution wird dadurch in Frage gestellt.“ Auf die Nachrage, ob das konkret heiße, dass diese Partei für Katholiken nicht wählbar sei, antwortete der Kardinal eindeutig: „Das ist meine Überzeugung, wegen des Programms, nicht wegen einer vorgefassten Meinung über Grüne.“

Zu diesem Zeitpunkt lag bereits ein brisantes Dokument in einer Schublade der Bischofskonferenz: ein von ihr selbst in Auftrag gegebenes Gutachten, das den Grünen große Nähe zu christlichen Werten und Vorstellungen bescheinigte wie Gewaltfreiheit und Ökologie, besonders im Blick auf die Bewahrung der Schöpfung. Ein Dokument, das nie veröffentlicht wurde. Auf einer Pressekonferenz während des 89. Deutschen Katholikentages in Aachen im September 1986 bekräftigte der Kardinal stattdessen seine These von der Unwählbarkeit, nachdem bereits das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) die Grünen als einzige Partei nicht zur Teilnahme an diesem Katholikentreffen eingeladen hatte. Begründung von ZdK-Präsident Hans Maier, die Parteitagsbeschlüsse liefen „unseren Grundhaltungen diametral entgegen“: „’Das Tischtuch ist zerschnitten’. Grüne sind allenfalls als einzelne, nicht aber als Partei beim Katholikentag geduldet.“ Im November schließlich warb die Mitbegründerin der Grünen, Petra Kelly, in einer ARD-Sendung – zunächst vergeblich - für vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Kirchen und flickte dafür symbolisch an einem Tischtuch herum...

In der gleichen Sendung erklärte der evangelische Theologe Jörg Zink: „ Die Grünen sind unentbehrlich; die Kirchen finden kein eindeutiges Wort“. Zu den Äußerungen von Kardinal Höffner hatte er bereits am 31. August gesagt: „ Er übersieht, dass das Thema Abtreibung bei den Grünen durchaus kontrovers diskutiert wird. Es gibt z.B. eine Arbeitsgemeinschaft ’Christen bei den Grünen’, zu der auch viele Katholiken gehören und in der das Thema Abtreibung ganz anders gesehen wird, nämlich im Zusammenhang der Grundabsicht der Grünen, eine Politik für das Leben zu machen. Sie fordern, dass der Schutz des Lebens auf allen Gebieten zum Thema der Politik gemacht wird und nicht nur bei der Abtreibung.“ Es hat lange gedauert mit der gesetzlichen Änderung des Paragraphen 218, nämlich von 1974 bis 1995. Immer wieder wurden Klagen besonders von CDU/CSU gegen neue Gesetzesvorlagen vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, bis schließlich 1995 die Fristenregelung bei vorgeschriebener Beratung in Kraft trat.

Und heute, 25 Jahre nach dem kirchlichen Verweis der Grünen in die Isolation? Eine kaum zu glaubende Entwicklung: Mitte der neunziger Jahre kam es - wohl weil sich die Partei etabliert hatte und ihre Bedeutung nicht länger negiert werden konnte - zu einer Annäherung zwischen der Bischofskonferenz und der Spitze der Grünen. Diese stellten bereits den Vizekanzler in der rot-grünen Koalitionsregierung im Bund, sie sind inzwischen in allen Landtagen vertreten, sie stellen mit Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg den ersten grünen Ministerpräsidenten, der zudem noch Mitglied des damals so rigoros anti-Grünen ZdK ist. Bischof Gebhard Fürst von Rottenburg-Stuttgart gratulierte ihm „von Herzen“ und sprach von Freude über eine „gute und fruchtbare Partnerschaft“. Der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch bezeichnete Kretschmann gar als „überzeugten und überzeugenden christlichen Politiker und politischen Christen“. Der Leiter des Katholischen Büros in Berlin, Prälat Karl Jüsten, schließlich nannte die Beziehungen zwischen Kirche und Grüne „ganz normal“ und sprach von „vielen Gemeinsamkeiten“ z.B. in der Migrations- und Umweltpolitik sowie beim Lebensschutz. Differenzen sieht er dagegen noch in der Familienpolitik und teilweise beim Staatskirchenrecht. Völlig überraschend dann eine Passage in der Rede von Benedikt XVI. am 22.September vor dem Bundestag: „Ich würde sagen, dass das Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er Jahren zwar wohl nicht Fenster aufgerissen hat, aber ein Schrei nach frischer Luft gewesen ist und bleibt, den man nicht überhören darf und nicht beiseite schieben kann, weil man zuviel Irrationales darin findet.“ Eingepackt war diese Äußerung in die absichernde Vorbemerkung, er erinnere an einen Vorgang in der jüngeren politischen Geschichte „in der Hoffnung, nicht allzu sehr missverstanden zu werden und nicht zu viele einseitige Polemiken hervorzurufen“. und die Nachbemerkung: „Es ist wohl klar, dass ich hier nicht Propaganda für eine bestimmte politische Partei mache – nichts liegt mir ferner als dies“. Trotz dieser ängstlichen Einschränkungen war dies eine unerwartete kirchliche Würdigung der Grünen nach 25 Jahren. Fast gleichzeitig verbot Bischof Gerhard Müller von Regensburg, der ebenso wie sein Augsburger Kollege Walter Mixa die Grünen weiter als eine Gefahr sieht, ausgerechnet dem früheren ZdK-Präsidenten Hans Maier die Präsentation seines Buches „Böse Jahre, gute Jahre“ in kirchlichen Räumen des Bistums, weil er „für eine Schwangerenberatung eintritt, die die Option für die Tötung des Kindes beinhaltet“, d.h. weil er darin die von Katholiken getragene Beratungs- und Hilfsorganisation „Donum vitae“ lobt und unterstützt.

Die unrühmliche Rolle der Ausgrenzung und Abweisung der Grünen, wie sie 1986 von Höffner und Maier betrieben wurde, haben inzwischen andere Christen übernommen. So tönt es aus dem rechten katholischen Spektrum von kreuz.net bis zur Piusbruderschaft nicht nur „Stopp die Grünen!“, nein mit Häme und Polemik werden sie überschüttet: „ Die ’grünen’ Desperados sind ein Instrument der Rache Gottes - Die ’grünen Teufel’ kann man nicht mit dem CDU-Beelzebub austreiben - Freiheit ist nicht grün – Mit voller Kraft in die grüne Jauchegrube – Die Grünen sind eine linksextreme Bewegung von Desperados die sich der Zerstörung von Gesellschaft, Familie, Moral und Religion verschrieben haben.“ Und natürlich werden auch die Protestanten attackiert. Alexander Kissler z.B. polemisierte: „Wir erleben, wie sich eine Kirche von einer Partei kapern lässt – fast ohne Widerstand... Keine große Schnittmenge, nur das dünne Fädlein namens ’Bewahrung der Schöpfung’ eint die beiden konkurrierenden Welt- und Menschenbilder. Wer die Bibel ernst nimmt, kann nicht guten Gewissens die ’Grünen’ wählen. Und wer sich den ideologischen Kern der ’Grünen’ zu eigen macht, muss die christliche Botschaft arg verbiegen.“ Dass mit der Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckhardt erstmals eine Grüne Präses der Synode der Evangelischen Kirche und Präsidentin des Evangelischen Kirchentages wurde, gilt diesen Kritikern als letzter Beweis für den „verhängnisvollen“ Kurs der Protestanten.

Doch zurück zum Höffner-Interview von 1986: Damals wurde fast nur über dessen Absage an die Grünen gestritten. Dabei äußerte er sich – ganz im Sinne der Grünen - in dem Gespräch auch pointiert zum Thema Kernkraft: „Als Bischof kann ich nicht feststellen, ob sichere Atomkraftwerke gebaut werden können. Das ist Sache der zuständigen Wissenschaftler. Wenn nachgewiesen wird, dass sichere Atomkraftwerke gebaut und betrieben werden können, soll man sie nicht verteufeln. Solange Kernkraftwerke jedoch nicht mit der menschenmöglichen Sicherheit betrieben werden können, ist man verpflichtet, nach anderen Energien wie Sonnenenergie und Erdwärme Ausschau zu halten... Eine Katastrophe hat, wie wir in Tschernobyl gesehen haben, schlimme Auswirkungen. Wegen dieser Gefährlichkeit bin ich aus meiner Überzeugung, dass wir alles zum Schutz und zur Würde des Lebens der Menschen tun müssen, der Meinung, man sollte nach anderen Energiequellen Ausschau halten, wenn keine absolute Sicherheit erreicht werden kann.“

Damit bezog der Kardinal eine Position, die selbst nach dem Debakel von Tschernobyl 1986 keineswegs unumstritten war, weder in der Kirche noch in der Gesellschaft. So war in der gleichen Ausgabe der „Kölnischen Rundschau“ am 23. August u.a. zu lesen, dass Betriebsräte die SPD aufforderten, den geplanten Ausstieg aus der Kernenergie „noch einmal zu überdenken“. Und die Kernforschungsanlage Jülich veröffentlichte eine Studie, wonach es auch nach Tschernobyl für eine „übertriebene Angst“ vor schwachen Strahlendosen „keinerlei wissenschaftliche Grundlage“ gebe. Eine krebserregende oder das Erbgut verändernde Wirkung lasse sich den Angaben zufolge nicht direkt bestimmen.

25 Jahre später: die atomare Katastrophe von Fukushima. Die Grünen im Aufwind wegen ihrer klaren Haltung zu Kernenergie, d.h. zum Ausstieg. Diesmal haben sie nicht nur die meisten Bischöfe und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken auf ihrer Seite, sondern erreichen auch ein Umdenken , ja Umschwenken in den Reihen der anderen Parteien .Quasi stellvertretend für die meisten seiner Kollegen spricht der Linzer Bischof Ludwig Schwarz davon, die Atomenergie berge Risiken mit todbringenden Folgen. Deshalb sei für ihn als Mensch, der an den „Gott des Lebens und des Friedens“ glaube, die Forderung nach einer Welt ohne Atomwaffen und
Atomkraftwerke notwendig. Ausgerechnet der jetzige Kölner Kardinal, Joachim Meisner, konterkarierte die Position seines Vorgängers Kardinal Höffner von 1986 und die inzwischen mehrheitliche Meinung der Bischofskonferenz mit seiner Aussage, die Abtreibungen in Deutschland seien ein „täglicher Super – GAU“, um den man sich mehr kümmern sollte als um Atomenergie und Atomausstieg. Atomkraft stelle keine existenzbedrohende Gefahr mehr dar...

Es ist faszinierend, zu welchen Überlegungen, Schlussfolgerungen, Recherchen und Vergleichen die Lektüre einer 25 Jahre alten Zeitung anregen kann. Man stößt auf Veränderungen und nach wie vor bestehende Probleme, auf Entwicklungen und Stillstand, auf Vergangenes und auch in Zukunft zu lösende Aufgaben. Einige weitere Beispiele dafür aus der Nummer 195 der „Kölnischen Rundschau“ vom 23. August 1986:

Und was wird man in 25 Jahren über den Papstbesuch 2011, über den Dialog-Prozess, über „Wir sind Kirche“ und deren Gegenspieler, über die Entwicklung der Kirche in Deutschland, über die „Piratenpartei“ denken und sagen?


© imprimatur Januar 2012
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