Hans Küng im Interview

Der Tübinger Theologe und Kirchenkritiker Hans Küng glaubt nicht mehr an ökumenische Fortschritte in der Amtszeit von Papst Benedikt XVI. Das erklärte er im Interview mit der PNP.

Herr Prof. Küng, Sie gelten seit Jahrzehnten als einer der bekanntesten Kirchenkritiker. Warum sind sie noch immer Mitglied der Kirche?
Küng: Ich bin nicht wegen der römischen Kurie in der Kirche, sondern wegen des Evangeliums, das in dieser Kirche verkündet und trotz aller Probleme auch gelebt wird.
Und weil es mir in meiner Theologie um die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden geht und nicht um die Kirche als Hierarchie.

Johannes Paul II. hat Ihnen 1979 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen. Auch das hat Sie nicht entmutigt?
Küng: Die vier Monate anschließend waren die schwierigsten meines Lebens und ich bin froh, dass ich sie heil überlebt habe. Ich kenne Kollegen, die daran zerbrochen sind. Aber für mich hat es sich als segensvoll erwiesen. Denn es ist dadurch möglich geworden, dass ich ein eigenes von der katholischen Fakultät unabhängiges Institut an der Universität Tübingen haben konnte. Das hat mir eine neue Freiheit verschafft, die ich auch gründlich genutzt habe.

Jetzt kommen Sie nach Passau zu einer Veranstaltung mit dem Titel "Ist die Kirche noch zu retten?". So heißt auch Ihr jüngstes Buch. Sie sagen: Die Kirche sei ernsthaft krank. Worunter leidet sie?
Küng: Sie leidet unter dem römischen System. Das ist ein mittelalterliches System, das sich im 11. Jahrhundert in der gregorianischen Reform nach Gregor VII., in der Kirche durchgesetzt hat. Seitdem haben wir einen Papalismus, ein absolutes Papsttum, einen forcierten Klerikalismus und das Zölibatsgesetz. Die katholische Kirche hat vorher 1000 Jahre ohne das bestanden und sollte auch ohne das überleben.

Das Buch endet mit dem Satz "Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die Kirche überleben wird." Worauf gründen Sie diese Hoffnung?
Küng: Ich gründe meine Hoffnung auf die christliche Botschaft selber, die sicher immer wieder Gläubige finden wird. Die Frage ist, in welcher Form diese Gemeinschaft in die Zukunft gehen wird. Das ist nach den ganzen negativen Erfahrungen nicht eindeutig.

In dem Buch erwähnen Sie auch Karl Rahners Wort von der "winterlichen Kirche". Sie attestieren der Kirche eine Eiseskälte. Kalendarisch kommt nach jedem Winter aber ein Frühling. Welche Temperatur haben wir gerade?
Küng: Es ist gerade - leider Gottes muss ich das sagen - nach dem Papstbesuch nicht gerade frühlingshaft geworden. Im Gegenteil. Meine Diagnose vom Zustand der Kirche hat sich bestätigt und viele, die von Rom aus eine Reform und Fortschritte in der Ökumene erwartet haben, sind bitter enttäuscht worden. Wir müssen also warten und schauen, was von unten her sprießt und nicht, was von oben herunterregnet. Zwar gilt das Motto der Papstreise "Wo Gott ist, da ist Zukunft", aber leider gilt in Wirklichkeit auch: "Wo der Papst ist, da ist Vergangenheit".

Sie hoffen auf Unterstützung aus der Kirchengemeinschaft und der breiteren Öffentlichkeit, auch auf dialogbereite Bischöfe. Wie sieht es damit aus?
Küng: Ich glaube, dass viele Bischöfe für diese Positionen, die ich ja wahrhaftig nicht allein vertrete, Sympathien haben. Und im Grunde, wenn sie frei wären, dasselbe öffentlich sagen würden. Aber es ist mir bisher nicht gelungen, einen Bischof dazu zu bewegen, dass er mal offen sagt, wie es um die Diözese steht, dass man nicht so weiter machen könne und Reformen anpacken müsse, die seit Jahrzehnten, zum Teil seit Jahrhunderten hinausgeschoben wurden.

In Österreich haben nicht wenige Priester um den früheren Wiener Generalvikar Helmut Schüller zum "Ungehorsam" gegen Rom aufgerufen. Kann das einen Stein ins Rollen bringen?
Küng: Ich glaube, dass diese Initiative im ganzen deutschsprachigen Raum sehr viele Sympathisanten hat. Ich will hoffen, dass sich viele Seelsorger dieser Initiative anschließen. Man hat darüber diskutiert, ob man von Ungehorsam reden soll. Ich habe dagegen nichts einzuwenden. Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Mit Recht hat Helmut Schüller, der in Österreich sehr bekannt und geschätzt ist, gesagt, es muss mal ausgesprochen werden, dass viele Reformanliegen in der Praxis der Gemeinden schon umgesetzt werden. Viele halten an der Laienpredigt fest, geben die Kommunion auch Geschiedenen und Ausgetretenen. Das, was da von Rom gesagt wird, z.B. es sei der Wille Gottes, dass keine Frauen ordiniert werden dürfen, das kann man theologisch nicht beweisen.

Sie sind gegen einen absoluten Herrschaftsanspruch des Papstes und sprechen sogar von einer "Putinisierung" der Kirche, auch von einer Diktatur des Absolutismus, der es an Toleranz fehle. An welchen konkreten Ereignissen machen Sie das fest?
Küng: Das mit der Diktatur des Absolutismus habe ich formuliert als Antwort auf das Schlagwort von der Diktatur des Relativismus. Es war paradox, dass Kardinal Ratzinger in seiner Wahlrede vor der Papstwahl von der Diktatur des Relativismus gesprochen hat, wo alle Welt weiß, dass der Papst der letzte absolute Monarch der westlichen Welt ist. Was die Putinisierung betrifft, so habe ich deutlich gesagt, dass ich nicht den heiligen Vater mit dem unheiligen Staatschef Russlands vergleiche. Ich kenne den Unterschied und ich habe mich immer gehütet, von Joseph "Betrübt über Rückschritte" Ratzinger als Person schlecht zu reden. Ich habe Respekt vor ihm und ich weiß auch, dass das gegenseitig ist.
Aber dass strukturell gesehen Parallelen vorliegen, ist eindeutig.
Denn es geht hier darum, dass der Chef der geheimsten Behörde des Vatikans, der Glaubensinquisition, zum Papst gemacht wurde. Das wurde bis dahin als undenkbar angesehen. Aber es ist geschehen. Der Papst hat leider nicht die fähigsten Leute zusammengeholt, um die Kirche in kritischer Zeit voran zu führen. Er hat seine Mitarbeiter aus dem geheimen Sanctum Offizium herangezogen. Er hat überall Leute an die Schaltstellen gesetzt, die irgendwann in der Glaubenskongregation gearbeitet haben.
Faktisch haben wir wieder dieselbe Geheimniskrämerei wie früher. Die Frage des Sexualmissbrauchs z.B. ist auch die Frage der Vertuschung. Die Geheimniskrämerei bezieht sich aber auf alle Regierungsmaßnahmen. Beispielsweise wird die Bischofssynode so behandelt, wie Putin die Duma behandelt. Die haben nichts zu sagen.
Man fragt sich, wie das alles weitergeht, wenn an der Spitze ein Mann steht, der noch mehr Vollmachten hat als Putin, der die Legislative, Exekutive und Judikative in sich vereint, aber seine Vollmachten nutzt, um die Restauration des vorkonziliaren Systems zu betreiben.

Im Buch verwenden sie auch den Begriff Perestroika.
Küng: Ich habe bei Gorbatschow immer gehofft, dass er das Sowjetsystem so verändert wie Johannes XXIII. die katholische Kirche. Insofern sind mir die Begriffe Glasnost und Perestroika sehr sympathisch. Wir brauchen beides, Transparenz und Reform.

Sie waren wie der junge Joseph Ratzinger beim Zweiten Vatikanum dabei. Damals gab es eine große Aufbruchstimmung. Das Konzil wollte eine Liberalisierung und Öffnung herbeiführen. Was ist davon geblieben?
Küng: Es gibt zahlreiche Beschlüsse des Konzils, die auch die gegenwärtige restaurative Kirchenregierung im Vatikan nicht rückgängig machen kann. Im Prinzip haben wir erstens das Paradigma der Reformation integriert: Volkssprache, Liturgie der ganzen Gemeinde, Anpassung an die einzelnen Länder, eine ganze Reihe von Anliegen der Reformatoren. Zweitens haben wir die Anliegen der Moderne realisiert, Religionsfreiheit, Menschenrechte überhaupt, alles was noch bis zu Pius XII. verboten war. Wir haben eine positive Wende gegenüber dem Judentum, gegenüber dem Islam und gegenüber den anderen Religionen genommen und auch eine kritisch-konstruktive Einstellung zur säkularen Welt. Das passt Joseph Ratzinger im Grunde alles nicht so recht, aber er kann nicht alles rückgängig machen. Unser Problem ist, dass wir die Erneuerung mit Kompromissen nur zur Hälfte durchführen konnten. Das Konzil hatte nicht die Freiheit, über die umstrittenen Fragen, z.B. den Zölibat und die Reform des Papsttums selbst, zu diskutieren. Insofern waren die Reformen halbherzig. Und die Kurie hat es gerade unter den beiden Restaurationspäpsten, dem polnischen und dem deutschen, fertiggebracht, dass tatsächlich Restauration im eigentlichen Sinn betrieben wird, indem man die lateinische Liturgie und die vorkonziliare Theologie, barocken Prunk und Pomp wieder erweckte. Ich bin betrübt darüber, dass wir derartige Rückschritte machen.

Besteht bei einer liberalisierten, dem Zeitgeist angepassten Kirche nicht die Gefahr, dass sie in die Beliebigkeit abdriftet?
Küng: Ich sehe diese Gefahr nicht. Der Einwand kommt von denen, die gar keine Reform wollen. Wir wollen ja nicht eine Anpassung an den Zeitgeist, wir wollen eine Orientierung am Evangelium und nur das in der heutigen Zeit akzeptieren, was evangeliumsgemäß ist.
Ich habe immer drei Arten von Entwicklung unterschieden. Die Entwicklungen secundum, gemäß dem Evangelium, diese sind voranzutreiben. Die Entwicklungen contra, gegen das Evangelium, diese sind zu stoppen oder abzuschaffen. Die Entwicklungen praeter Evangelium, am Evangelium vorbei, das sind diskutable Fragen, z.B. Bekleidung des Klerus usw. Es geht gar nicht darum zu "liberalisieren", es geht darum, die Freiheit eines Christenmenschen auch in der Kirche wieder zur Geltung zu bringen und vor allem eine evangeliumsgemäße Kirche zu gestalten.

Sie wollen die Kirche strukturell erneuern, Papst Benedikt XVI. spricht von einer geistigen Erneuerung. Gibt es nicht die Chance beide Positionen zusammenzubringen, um sich so gegenseitig zu ergänzen?
Küng: Ich sehe überhaupt keinen Gegensatz. Ich sehe die geistige Erneuerung als zentral an. Aber wenn man nur die Erneuerung des Geistes haben will und die Strukturen beim alten lässt, dann erstickt der Geist. Löschet den Geist nicht aus, heißt es im ersten Thessalonikerbrief. Die Konzentration der Hierarchie auf die innere Erneuerung ist eine Ausrede, um keine Strukturreformen durchführen zu müssen.

Glauben die Menschen nicht mehr oder glauben sie nur der Kirche nicht mehr? Kann man eine Strukturerneuerung ohne Glaubenserneuerung durchführen?
Küng: Es braucht vor allem eine Erneuerung der Verkündigung. Mein ganzes Bestreben war schon seit den 70er-Jahren, diese Glaubenserneuerung zu ermöglichen. Wir brauchen weniger eine Christologie "von oben" als eine "von unten", vom Jesus der Geschichte her. Wir können doch nicht nur die alten Dogmen repetieren, nicht einfach nur theologische Spekulationen den Leuten beibringen wollen. Es braucht eine Erneuerung der Verkündigung, die mit der modernen Exegese möglich ist: Jesus so zum Leuchten zu bringen, dass er für die Menschen von heute wieder wahrhaftig das Licht ist und der Weg, die Wahrheit und das Leben sein kann.

Sie haben bereits 2005 ein Gespräch mit dem Papst geführt, betonen auch immer wieder, dass sie das persönliche Verhältnis zu ihm jenseits all ihrer Kritik nicht belasten möchten. Gibt es die Möglichkeit einer wieder verstärkten Annäherung oder gar eines neuen Gesprächs?
Küng: Ich habe immer darauf Wert gelegt, dass die scharfen sachlichen Kontroversen nicht zu persönlichen Diffamierungen und Verletzungen führen. Ich habe auch erwartet, dass der Papst jetzt auf dieser schicksalshaften Reise durch das Land der Reformation einen entscheidenden Schritt macht. Den hat er nicht gemacht. Ich habe keine Hoffnung, dass er noch einen machen wird. Die Resignation, die sich nach diesem Besuch weitgehend breit macht, zeigt, dass das Land von diesem Papst nichts mehr erwartet. Sollte er ein Gespräch wünschen, an meiner Gesprächsbereitschaft hat es nie gefehlt.

Der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller bezeichnete das jüngste Treffen von Papst und EKD als "Sternstunde der Ökumene".
Küng: Das ist ein Paradebeispiel für die Verlogenheit, die manche Mitglieder der Hierarchie auszeichnet, dass sie fähig sind, sogar das Gegenteil noch zu rechtfertigen. Es ist ganz klar, dass das Treffen in Erfurt keine reale Annäherung gebracht hat, abgesehen von schönen Worten. Das als Sternstunde zu bezeichnen, da muss man schon verblendet sein.

Sie betonen immer wieder, das Papsttum nicht abschaffen zu wollen. Welche Rolle wollen Sie dem Papst in einer reformierten Kirche zuweisen?
Küng: Ich habe immer Johannes XXIII., bei all den Fehlern, die auch dieser Papst gemacht hat, als richtungsweisend angesehen. Wir brauchen nicht den Jurisdiktionsprimat eines absoluten Herrschers, der meint, er könne in alle Kirchen und Menschenleben der Welt hineinregieren. Wir brauchen einen Pastoralprimat, einen Seelsorgeprimat, ein Petrusamt, das durch die Inspiration wirkt, durch Vermittlung und Öffnung auf die gegenwärtigen Probleme hin. Was mich traurig macht, ist, dass der Papst derartige Möglichkeiten hätte, um in der Kirche und der Welt Segensreiches zu bewirken, sie aber überhaupt nicht nutzt.

Was kann sich in der Ökumene tun?
Küng: Der Papst hätte kommen können und sagen, ich habe die seit Jahrzehnten vorliegenden ökumenischen Konsensdokumente studiert und ich sehe keine Schwierigkeit, die Gültigkeit protestantischer und anglikanischer Ämter und deren Abendmahl anzuerkennen. Das hätte eine gewaltige Wirkung gehabt. Das wäre ein Riesenerfolg gewesen. Das hätte nicht von oben her die Einheit dekretiert, sondern ermöglicht, dass auf Ortsebene eine Osmose stattfindet, die faktisch schon im Gange ist, die gerade auch für konfessionsverbindende Ehen wichtig ist.

Wie ist die Situation in Sachen Kinder Israels?
Küng: Da will der Papst nicht sehen, dass das Judentum nicht einfach eine Größe der Vergangenheit ist, aus der die Kirche hervorgegangen ist. Er müsste das Judentum als lebendige Religion wahr- und ernstnehmen. Wir müssen die jüdische Glaubensgemeinschaft achten, aber uns nicht einfach mit der Politik des Staates Israel identifizieren.

Wie beurteilen Sie die Situation in Sachen Zölibat?
Küng: Man hat oft erlebt, dass autoritäre Systeme in Osteuropa oder jetzt im arabischen Bereich rascher zusammenfallen können, als man denkt. Wenn sich mal Gemeinden im Klaren sind, dass sie in Bälde keine Pfarrer mehr haben, auch keine polnischen oder indischen Pfarrer mehr zu holen sind und jeder noch so heroische Einsatz der verbliebenen Geistlichen, auch der Pensionäre, nicht mehr möglich ist und kein Nachwuchs mehr kommt, dann wird der Zölibat aufgegeben werden müssen. Wenn man den Bischöfen Freiheit geben würde, hätte man rasch eine positive Entscheidung.

Wie sieht es mit der Stärkung der Frau in der Kirche aus?
Küng: Der Diakonat der Frau ist so offensichtlich auch in der Bibel zu finden, dass man sich nur wundern kann, dass man ihn nicht einführt. Der Grund ist evident. Man hat Angst, dass, wenn man den Diakonat zulässt, man dann auch den Presbyterat zugestehen müsste. Das zeigt die Morschheit dieses römischen Systems. Jesus selber hatte Frauen in seiner Gemeinschaft, die eine große Rolle gespielt haben. Nach dem Lukasevangelium haben sie sogar bezahlt für seine Jünger. Die paulinischen Gemeinden waren zum Teil von Frauen geleitet. Da kann man doch nicht sagen, das sei nicht möglich. Freilich, solange der Zölibat der Männer besteht, wird auch die Ordination der Frauen nicht eingeführt. Man müsste mit der Abschaffung des Zwangszölibats anfangen.

Was heißt es eigentlich, katholisch zu sein?
Küng: Katholisch sein hat zwei Dimensionen. Es gilt, die ganze Tradition der Kirche in der Zeit zu akzeptieren. Und es heißt sogleich, die katholische Weite im Raum zu sehen. Katholischsein heute ist begründet im Evangelium. Insofern muss alles Katholische dem Kriterium des Evangeliums unterworfen werden. Das Katholischsein verlangt also, dass man zugleich evangelisch, das heißt auf das Evangelium konzentriert ist. Das heißt, es können auch Evangelische katholische Weite haben in Raum und Zeit. Und umgekehrt können Katholiken die Konzentration aufs Evangelium haben und insofern gut evangelisch sein. Diese Gegensätze, die wir früher hatten, sind von denen, die ökumenisch denken, schon längst überwunden. Ökumenisch sein heißt, katholische Weite und evangelische Konzentration zu verbinden.

Gespräch: Stefan Rammer
Aus: Passauer Neuen Presse, 17.10.2011


© imprimatur Januar 2012
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