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JAHRGANG |
INFORMATIONSDIENST DER ARBEITSGEMEINSCHAFT VON PRIESTER- UND SOLIDARITÄTSGRUPPEN IN DEUTSCHLAND (AGP) | 2011 / 6 |
AGP-Jahresversammlung 2011 sucht neue Wege
Voraussetzungen und Konsequenzen eines „Aggiornamento
heute“
Wenn die Stichworte Glaubens- oder
Gotteskrise, Kirchen- oder Strukturkrise fallen und an das Konzil oder an die
Synode der deutschen Bistümer erinnert wird, dann geht es im ernsthaften
innerkirchlichen Disput um das Bemühen, die Kirche in der Bindung an das
Evangelium auf die Höhe der Zeit und in die Realität der Menschen
von heute zu bringen. Die Kirche ist nicht um ihrer selbst willen Thema, nicht
um „Schönheitsoperationen“ für ein besseres Image geht
es, sondern um eine Erneuerung der Kirche als Voraussetzung für die Erfüllung
ihrer Pflicht: die Botschaft Jesu in Wort und Tat zu verkünden.
Die diesjährige Jahresversammlung der AGP machte sich auf eine Suche, um
Wege zu entdecken, auf denen die Kirche Zugang zu ihrer Aufgabe und zu den Menschen
finden kann. Als „Pfadfinder“ hatte sie Dr. Ulrich Engel , den Direktor
des Berliner Chenu-Instituts eingeladen. In seinem ersten Impulsreferat verwies
er darauf, dass das Zweite Vatikanische Konzil bereits eine entsprechende Spur
gelegt habe: “Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche
allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht
des Evangeliums zu deuten.“ (Gaudium et Spes Nr. 4; s. auch SOG-Papiere
2011/3, 10f; 2010/8, 30f) Mit dem Stichwort vom „Zeichen der Zeit“
ist zwar ein Schlüsselbegriff genannt, allerdings ein mit vielfältigen
Problemen verbundener. Einerseits ermöglicht die Inkarnation als Strukturelement
des Verhältnisses von Gott und Welt, dass diese „Wirklichkeiten“
nicht auseinanderfallen, und somit bestimmte Phänomene die transparente
Qualität von Zeichen annehmen können. Andererseits sind die Zeichen
nicht eindeutig, auch nicht die biblische oder traditionelle Zeichenwelt.
Die Zeichen der Zeit entdecken und entziffern
Wie aber können wir sie entziffern? Zum einen mit einer „Hermeneutik der Anerkennung“, dass Gottes Handeln überhaupt ersichtlich werden kann; aber auch mit einer „Hermeneutik des Verdachts“, dass bestimmte Phänomene das Kommen des Reiches Gottes eher verdunkeln. Ein Unterscheidungskriterium könnte sein, dass die Zeichen der Zeit als „Einschlagpunkte der Gnade“ diskontinuierliche Phänomene sind. Chenu: „Diese allgemeinen Phänomene sind ?...? nur durch jenen Sprung ?sursaut? wirkliche `Zeichen´, den sie nicht ohne Bruch ?non sans rupture? in die Kontinuität des menschlichen Zeitempfindens ?continuité des temps humains? hineintragen.“ (Die Texte sind übernommen aus: M.-D. Chenu, Les signes des temps, in: ders., Peuple de Dieu dans le monde, Paris 1966, 33-55, hier: 42; Übersetzung von Ch. Bauer) Ein weiteres Erkennungszeichen: Die Zeichen der Zeit sind keine punktuellen Ereignisse, sie weisen mit ihrer Dynamik über sich hinaus. Engel führte als Beispiel den Sturm auf die Bastille an. In den Worten Chenus: Es geht „vielmehr darum, in diesem Ereignis jene verborgene Macht zu erkennen, die aus ihm jenen ?...? `Katalysator´ macht, der von nun an als Symbol den Lauf der Zeiten bestimmt. Es kommt daher weniger auf den ?...? reinen Inhalt ?contenu brut? des Ereignisses an als auf die Bewusstwerdung, die es in Gang setzt, indem es ?...? die Energien und Hoffnungen einer ganzen Gruppe von Menschen ?...? in Beschlag nimmt ?...? und so eine kollektive Bewusstwerdung prägt.“ (a.a.O., S. 40)
Die Interpretation der “Zeichen“ ist also keinesfalls beliebig. Schon im Evangelium werden von Jesus bestimmte Zeichen als Antwort auf die Messiasfrage der Johannesjünger genannt (s. Lk 7, 22; Mt 16, 1-3). Sie ist auch nicht das Privileg weniger Fachleute. Schon die „Stern-Deuter“ aus dem Osten waren keine Eingeweihten, und dennoch konnten sie die Zeichen richtig deuten. Übrigens, Chenu nennt Johannes XXIII. den „Doktor der Zeichen der Zeit“.
U. Engel machte eine – nachher durchaus kontrovers diskutierte – Entwicklung in den Aussagen von „Gaudium et spes“ aus. Während in Nr. 4 nach dem Prinzip sehen, urteilen, handeln das Fremde noch äußerlich bliebe, würde es in GS 11 als Offenbarungsort verstanden, der als solcher zusammen mit allen Menschen vom Volk Gottes - und nicht nur von den Hierarchen - zu entdecken sei. Das erhellende Licht gehe außerdem nicht nur vom Evangelium aus, sondern auch von den Erfahrungen der Menschen (GS, Nr. 46).
Daraus folgt aber, dass nicht ein- für allemal festzulegen ist, welches die Zeichen der Zeit sind und was sie bedeuten, sondern dass dies nur in einem diskursiven Prozess immer neu herausgefunden werden muss. Eine weitere Konsequenz – auch, aber nicht nur für den Dialogprozess – besteht darin, dass die klassischen „loci theologici“ für die Interpretation des christlichen Glaubens, z.B. die hl. Schrift, die Tradition, die Konzilien oder das Lehramt, abgesehen davon, dass es in ihnen keine widerspruchsfreie Pluralität gibt, über keine alleinige Deutungshoheit verfügen. Seit dem Konzil, insbesondere in der lateinamerikanischen Kirche, sind z.B. die Armen als besonderer und bevorzugter Ort der Anwesenheit Gottes wahrgenommen worden (Chenu: „lieux théologiques en acte“). Da die Kirche nicht identisch mit dem Volk Gottes ist und dieses letztlich die Menschheit umfasst, wird die Kirche alle Menschen in den Blick nehmen müssen, wenn sie die Zeichen der Zeit erkennen und ein entsprechendes pastorales Programm des „Aggiornamento“ entwickeln will.
Wer redet von Gott?
Aus diesen Überlegungen ergab sich das Thema für das zweite Impulsreferat und die nächste Gesprächsrunde: Wer redet von Gott? Eine Aussage des Zweiten Vatikanums bildete wieder den Ausgangspunkt: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (1 Jo 2, 20 u. 27), kann im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes dann kund, wenn sie ?...? ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert“ (LG Nr. 12). Der „sensus fidelium“ äußert sich heute aber in recht unterschiedlicher Weise, so dass es angemessener erscheint, von „Glaubenssinnen“ zu sprechen. Dabei geht es auch nicht nur um einen Mangel an Wissen bei bestimmten innerkirchlichen Gruppen, bei denen dann zumindest ein impliziter Glaube angenommen werden könnte. Vielmehr wird häufig der Dissens zwischen offizieller Lehre und persönlichem Glauben ausdrücklich artikuliert. Dadurch verfügt das Lehramt nur noch über eine formale Autorität, die sich nicht mehr auf die Gemeinschaft berufen kann, für die sie spricht. Gerade diese Kluft wird von Seiten der Hierarchie nicht wahr- oder ernst genommen.
Außerdem bestehen grundsätzliche Unterschiede im Glaubensverständnis. Geht es in erster Linie um Satzwahrheiten oder um ein Ereignis? Nach U. Engel ist Glaube zunächst das, was Gott am Menschen wirkt, er ist unwiderrufliche Selbstmitteilung Gottes, hat aber seinen Ankerpunkt in der Welt, ist also immer vermittelt und realisiert sich in der Geschichte. Der „sensus fidelium“ als geschichtlich gelebter Glaube hat seinerseits Bedeutung für die Amtskirche und die theologische Reflexion, denn er geht der offiziellen Lehre voraus und führt sie fort. Der (die) Glaubenssinn(e) muss (müssen) folglich im Dissens immer wieder verantwortet werden. Der Dialog ist demnach grundsätzlich ein andauernder Prozess – der Diskurs ist ein konstitutives Element des Glaubens und der Wahrheitssuche.
Diese Einsicht verdankt sich nicht nur einer zeitgenössischen Diskurstheorie. Bereits die vier Evangelien sind Ausdruck eines kirchlichen Diskurses und entsprechend auszulegen. Auch ist an die trinitarische Grundlegung von Glaubenspluralität zu erinnern. Pluralität ist kein Ausdruck von Relativismus. Vielmehr bewahrt der ständige und kritische Diskurs mit der Tradition und der Praxis vor ihm und führt zu einer überzeugenden Verbindlichkeit.
Ein Lehramt, dass diese „Umwege“ meint vermeiden zu können und gleichsam einen direkten Zugriff auf die Wahrheit und folglich Lösungen zu haben behauptet, wird zu Recht unglaubwürdig, weil es die Vorläufigkeit geschichtlicher Wahrheiten übersieht und letztlich den Schrei der Opfer überhört, deren Leid der entscheidende Auslöser kirchlicher Verständigungsprozesse und Praxis ist bzw. sein muss.
Exil / Diaspora statt Exodus
Angesichts der Uneindeutigkeit der Zeichen der Zeit und eines schwierigen Verstehens- und Verständigungsprozesses fragen sich nicht wenige in der Kirche: Wie geht es weiter mit dieser Kirche, mit dem persönlichen und gemeinsamen („kirchlichen“) Glauben? Was trägt uns noch bei allen Ungewissheiten?
Die Kirche versteht sich selbst als „wanderndes Gottesvolk“ (s. LG Nr. 68). Es war darum nicht überraschend, dass „Exodus“ in der Nachkonzilszeit zu dem Paradigma kirchlicher Verkündigung und Praxis wurde. U. Engel fragte allerdings, ob „Exodus“ nicht ein zu einseitiges Paradigma für unsere Zeit und unsere Herausforderungen als Christen, als Kirche sei und „Exil“ bzw. „Diaspora“ nicht passender seien. „Exil“ meint: Nach der Zerstörung ein erzwungenes Leben in der Fremde, einer unbekannten Kultur ausgesetzt – vorübergehend, mit der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat. „Diaspora“ weckt eher die Assoziation von Dauer, von Einwurzelung in der Fremde. Der Referent erinnerte daran, dass Israel in der exilischen Diaspora eine bzw. die herausragende Glaubensleistung verbrachte: die Errungenschaft des Monotheismus. Dieser führte das Volk zur Konfrontation mit der eigenen Sündhaftigkeit und bei Jeremia zur Magna Charta des Exils: nicht Getto oder Flucht, nicht Resignation, sondern Glaube an die Universalität Gottes (s. Jer 29, 5-7; Dtn 6, 21) Unter den Bedingungen der Diaspora können die kollektiven Erinnerungen nicht mehr einer religiösen Institution überlassen werden, sondern fallen in die Verantwortung des Einzelnen bzw. der Familie. So hat sich Israel in der Zeit des Exils, der Diaspora neu gegründet.
In Anlehnung an M. Gruber (vgl. M. Gruber, Exil und Diaspora. Biblische Paradigmen von Krise und Neubeginn, in: K. Schaupp / C.E. Kunz (Hrsg.), Erneuerung oder Neugründung? Wie Orden und kirchliche Gemeinschaften lebendig bleiben können, Mainz 2002, 72-87) nannte Ulrich Engel sieben Kennzeichen einer Diaspora- / Exilssituation:
Offensichtliche Parallelen zur Situation und zu den notwendigen Änderungsprozessen in der heutigen Kirche bestimmten das dem Referat folgende Gespräch. Hieraus sollen einige wichtige Aspekte benannt werden:
Ut.
„Kampf um Reformen“
Unter diesem Titel hat Thomas Wystrach am 12.August das AGP-Buch in Publik-Forum rezensiert. Es ist also nicht „totgeschwiegen“ worden. Mitglieder unserer Gruppen hatten eine Besprechung zuvor schon vermißt und und dies auch zum Ausdruck gebracht (s. SOG-Papiere Nr. 4/5). Jedoch dauern Rezensionen in PF wohl stets länger. Somit wurde das Buch inzwischen dreimal besprochen, nämlich noch in „Christ in der Gegenwart“ und in der Zeitschrift „Quatember“, die von der ev. Michaelsbruderschaft mitherausgegeben wird. - Vielleicht wird einmal nicht nur das Buch sondern auch die darin dokumentierte jahrzehntelange Arbeit kritisch gewürdigt werden, von der zweifellos auch Publik-Forum profitiert hat.
cp
„unzeitgemäß und dem Geld verhaftet“
„In dieser Form möchten wir nicht, dass du kommst“. So empfindet es einer der Sprecher eines spanischen PfarrerForums, angesichts der Anwesenheit von Benedikt XVI. beim Weltjugendtag in Madrid. Das Forum setzt sich zusammen aus 120 Priestern der ärmsten Pfarreien der Diözese und kritisiert vor allem die wirtschaftliche Zurschaustellung (exhibicionismo económico) seitens der Organisatoren. Diese haben sogar eine eigene Stiftung zur Beschaffung von Geldern (Vorsitz Kard. Rouco) geschaffen, zu der die wichtigsten Unternehmer Spaniens gehören. Im vergangenen Winter wurden sie von Benedikt XVI. empfangen. Eine der angesehensten katholischen Zeitschriften, Vida Nueva, informierte über dieses Gespräch mit einem Foto und der Bildunterschrift: „Das Foto des Ibex“ (spanischer Aktienindex).
„Viele dieser Unternehmen gehören zu dem, was die Presse die Märkte nennt, oder sind deren ideologische Propagandisten. Welches sind die Werte und die Spiritualität, die diese Unternehmen und Märkte fördern wollen?“, fragt sich das Pfarrer-Forum. Das Ziel, das der Papst selbst sich mit seiner Anwesenheit in Madrid gesetzt hat, hieß, dass die Jugendlichen „eine Erfahrung machen können mit der Liebe Jesu zu einem jeden von uns“.
Demgegenüber vermisst das Pfarrer-Forum „eine entsprechende Ausrichtung der Jugendpastoral“. Sie fügen hinzu: „Viele Jugendliche betrachten uns als nicht zeitgemäß, und überdies den Privilegien des Geldes und der Macht verhaftet sowie ohne gültige Antwort auf die Fragen ihres Lebens“. „Als Glieder der Gesellschaft, in der wir leben, und als Pfarrer der Kirche, zu der wir gehören, fragen wir uns: Warum sind wir nicht fähig, die jungen Leute zur Beteiligung an der Bewegung Jesu zu motivieren?“
Das Pfarrer-Forum ist ein wichtiger Bestandteil der Bewegung „Redes Cristianas“ (Christliches Netzwerk) und bietet auf die gestellte Frage unter anderem folgende Antwort: der Weltjugendtag ist mehr bemüht, die Stärke der katholischen Kirche darzustellen als die Botschaft des Evangeliums; die finanziellen Kosten des Ereignisses (etwa 50 Millionen Euro) stehen nicht in Einklang mit dem Lebensstil Jesu; und zur Finanzierung des Weltjugendtags gibt es einen Pakt der Hierarchie mit den wirtschaftlichen und politischen Kräften, der das Bild von der katholischen Kirche als privilegierte und der Macht nahestehende Institution verstärkt mit dem Skandal, den dies gerade unter den gegenwärtigen Umständen darstellt.
Hiermit bezieht sich das Pfarrer-Forum auf die Leichtigkeit, mit der die öffentlichen Mächte Geld für die Finanzierung dieses Ereignisses gefunden haben, „und dies angesichts so vieler Kürzungen bei Finanzmitteln und sozialen Rechten, die den Bürgern zugemutet werden.“ „Wir sind nicht gegen den Weltjugendtag, sondern dagegen, wie er durchgeführt wird, wie er organisiert wurde und wie der (Pracht)Aufwand finanziert wird“, so die Anklage eines Textes, in dem sie ihre Kritik detailliert darstellen, erschienen unter dem Titel „Die Mäzene von Rouco“.
Zusammenfassend, erscheint es dem Pfarrer-Forum „wenig evangeliumsgemäß“, was der Kardinal und die Organisatoren des Weltjugendtages als Erfolg des Ereignisses darstellen: eine triumphalistische Kirche, die spektakuläre Mittel einsetzt und auf die Kraft der Zahlen und Menschenmassen vertraut, sowie das Bild eines Papstes und einer Kirche, die sich davon blenden lassen. Das Forum vermisst Bescheidenheit und Einfachheit der Mittel. „Das Evangelium ist umzingelt von Zurschaustellung, Arroganz, Reichtum und Macht“, heißt es abschließend. (nach EL PAÍS, 22.6.11)
AGP-Sprecher: Heinz Missalla zum 85. Geburtstag
Lieber Heinz, ich habe jetzt nicht die verwegene Absicht, in meinem Glückwunsch zu versuchen , den Facettenreichtum deiner Person oder die Vielfalt deiner Arbeit und Wirkungsorte aufzuschlüsseln oder auch nur aufzuzählen. Nur einen Aspekt deines Lebens möchte ich zur Sprache bringen, weil er mich persönlich besonders beeindruckt und auch kirchliche Reforminitiativen in unterschiedlichen Bereichen beeinflusst hat. Ich denke z.B. an den Essener Kreis, die Arbeitsgemeinschaft von Priester- und Solidaritätsgruppen in Deutschland (AGP), Publik-Forum und Pax Christi.
Du bist geprägt von der Zeit des Nationalsozialismus. Du hast das Grauen eines politischen Unrechtssystems und die unvorstellbare Grausamkeit, zu der Menschen fähig sind, erlebt. Du hast das verhängnisvolle Versagen weiter Teile der Kirche – und besonders derer, die eine herausragende Verantwortung hätten tragen müssen – schmerzlich erfahren. Du hast in die Abgründe geschaut, die Menschen und Politik, Kirchen und Religion aufreißen können.
Darum bedeutet „Geprägtsein“ in deinem Fall mehr als nur „beeinflusst“. Die Prägung dieser Zeit, deiner frühen Jahre bestimmt bis heute deine Person, also dein Denken, deine Haltung, deine Einstellung zu den Geschehnissen in Kirche und Welt. Sie kettet dich aber nicht an den Horror der Vergangenheit, sondern bewirkt eine bleibende Wachsamkeit, die dich immer auf der Höhe der jeweiligen Zeit sein lässt. Mit der Geschichte der gerade angesprochenen zweifachen Verwundung konnten du und deinesgleichen – ich denke z.B. an Joseph Stemmrich, der dir in so vielem ähnlich war – zu authentischen Zeitzeugen nicht nur einer vergangenen Zeit werden.
Meine Generation musste nicht durch die „Terrorschule“ gehen; wir haben somit keine auch nur ähnliche Prägung oder Erfahrung durchgemacht. Aber natürlich sind auch wir „Kinder“ einer bestimmten Zeit und ihrer besonderen Einflusskräfte. Wir sind in unseren grundsätzlichen Entscheidungen und Einstellungen gekennzeichnet durch das Zweite Vatikanische Konzil und die Um- und Aufbrüche der sechziger und siebziger Jahre – Ereignisse bzw. Entwicklungen, die natürlich auch in deinem Wirken deutliche Spuren hinterlassen haben. In jüngster Zeit erscheint es mir so, als würden wir von zwei Seiten ins Gestern verwiesen: von den Konservativen, die das Vorgestern immer schon für das Heute hielten, und von Vertretern der jüngeren „Reformgeneration“, die unsere uns verpflichtende Bindung an das Konzil, an die humanisierenden, weil befreienden Impulse der damaligen Zeit als gestrig und somit überholt, für Konzilsnostalgie ansehen. Es kommt mir manchmal vor, als führten wir eine „Sandwich-Existenz“.
Deiner Generation, besser: Menschen wie dir, ging es, wenn auch viel existenzieller und bei aller grundsätzlichen Verschiedenheit, vergleichbar: Die einen wollten ihre Ruhe, taten so, als sei das schier Unvorstellbare auch wirklich nicht geschehen – die anderen verlangten nach einem Schlussstrich, wollten sich nicht ständig erinnern (lassen), sondern lieber „nach vorne schauen“. Doch der Verlust der Vergangenheit, ihr Verdrängen und damit der Verrat an ihren Opfern verhindern, dass wir glaubwürdige Zeitzeugen werden – denn zur Zeit gehören die Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Bertolt Brechts Herr Keuner lässt uns wissen, dass es zum Erbleichen ist, wenn wir uns nicht ändern. Veränderung ist in der Tat Voraussetzung und Kennzeichen von Identität. Geprägt sein, mit sich identisch bleiben und Veränderung widersprechen sich nicht, sondern bedingen einander. Nur im lebendigen Wandel bleibt man sich selbst treu, mit sich identisch – sonst ist man nur starrköpfig.
Lieber Heinz, so ist es nicht verwunderlich, sondern nur konsequent, dass auch dein Leben viele Veränderungen und Umbrüche kennt: persönliche, berufliche, geistige – und auch religiöse. Diese Veränderungen waren zum Teil so tiefgreifend, dass sie verwirrend und verstörend wirken konnten, nicht mehr als Widerspiegelung der einen Identität erkennbar schienen, wie Brüche, die anderen gegenüber fremd machen – und manchmal sogar vor sich selbst!
Ich gestehe: Mir ist es manchmal mit dir so ergangen. Deine Veränderungen erschienen mir zuweilen so radikal, gingen nach meinem Eindruck so an die Fundamente humanen und damit auch religiösen Lebens, dass ich sie kaum nachvollziehen konnte. Doch nie fiel es mir schwer, deinen Entscheidungen und Schritten mit Respekt zu begegnen. Das lag wohl daran, dass deine „Identität im Wandel“ immer von deiner Authentizität umgriffen war. In den Wandlungen bist du dir treu geblieben – und somit glaubwürdig.
Zum Schluss ein paradox klingender Wunsch: Bleib wie du bist, damit du uns noch manches Mal überraschen kannst.
Edgar Utsch
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