Werner Post
Wider den Jargon der Erbaulichkeit

Dem Bonner Philosophen Heinz Robert Schlette, einem Imprimatur-Autoren seit Anfang an, wurde anlässlich seines 80. Geburtstags in der Karl-Rahner-Akademie in Köln eine Festschrift mit dem Titel „Glaube und Skepsis“ (hg. von C. Hell, P. Petzel, K. Wenzel, Ostfildern 2011) überreicht. Dabei hielt Werner Post, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Dortmund, „anstatt einer Laudatio“ einen Vortrag, den wir nachfolgend in gekürzter Form dokumentieren. Wir verbinden damit unsere nachträglichen Glückwünsche für den Jubilar. Red.

Im Folgenden werde ich mich aus gegebenem Anlass von kritischen Thesen zu Pietät und Empörung leiten lassen, wie sie Heinz Robert Schlette entwickelt hat[1] - nun am Beispiel der gegenwärtigen religiösen Sprachform. Nein, keine Theologie des Wortes oder Metaphysik der Sprache, keine Metaphorologie, sondern ganz altmodisch, eine Polemik und Ideologiekritik des Jargons der Erbaulichkeit.

1.

In illo tempore, damals, als das Beten noch geholfen hat, lebte man – wenigstens in katholischen Gegenden – in einer Atmosphäre religiöser Selbstverständlichkeiten: von der Taufe bis zum Grab, die kirchlichen Feste strukturierten das Jahr, in den Sonntagsgottesdiensten wurden Epistel und Evangelium in Form regelmäßig wiederkehrender Perikopen verlesen, man kannte liturgische Formeln, Gebetstexte und eine Fülle von Kirchenliedern, auf höheren Etagen auch Oratorien und symphonische missae. Die Gemeinde hörte bei den Predigten meist sogar zu, und man bezog - arg brave - katholische Zeitschriften, die allerdings meist nicht gelesen wurden.

Das ist in unserer säkularen Gesellschaft nun nicht mehr so, aber dennoch fiebern wir Woche für Woche einem überkonfessionellen Relikt jener Zeit im Fernsehen entgegen: ich meine natürlich das all-samstägliche „Wort zum Sonntag“. Da der ostfriesische Witzbold Otto schon vor etlichen Jahren die ultimative Parodie dieser Sendung vorgekaspert hat, kann ich mir weitere Kommentare sparen - vielleicht bis auf einen: Warum müssen religiöse Reden und viele Predigten so schrecklich langweilig sein und diesem Jargon der Erbaulichkeit frönen? Man kann diese palavernde Betulichkeit doch einfach nicht mehr anhören, so wenig, wie auch den obligaten Polit-Sprech oder die ewigen Talkshows.

2.

Im NT-Seminar der Uni München versammelte Mitte der 60er Jahre der damalige, persönlich nicht unkomplizierte, aber exegetisch exzellente Otto Kuss die engeren Mitarbeiter zu einer wöchentlichen Sitzung, um mit dem „Nestle“ in der Hand eine neue Übersetzung des NTs zu verfassen. Es ging darum, den Wortlaut und die Satzform des griechischen Textes möglichst, ja pedantisch genau im deutschen Text abzubilden. Natürlich führte das zu akrobatischen Resultaten, eine Holprigkeit, die aber gewollt war, um die Sprachgewohnheiten im Hören und Lesen der biblischen Schriften und Perikopen zu verfremden. Wir Teilnehmer wurden dazu verdonnert, am Ende einer solchen Sitzung jeweils einen guten literarischen Text vorzulesen, um das malträtierte Sprachgefühl wieder einzurenken.

Diese Übersetzung hat einen Nerv getroffen, sie wollte das religiöse Sprachgefühl aufrauhen: Nicht der fromme Brei des Herzens, sondern eine eher hakig-biblische Wortwörtlichkeit. Das war natürlich himmelweit entfernt von jenen periodisch wiederkehrenden Anbiederungen, die Bibel halt ein bisserl gefälliger zu reformulieren oder einem vermeintlichen Jugend-Jargon anzugleichen. Und auch wenn man - dem Rat alter Kirchenlehrer und moderner Pädagogen folgend - lieber ein einziges gutes Buch immer wieder statt ständig Neuem lesen soll: bei den Bibeltexten ergab sich daraus ein Litanei-Effekt, dessen Rituale sich von der Liturgie bis in aktuelle Medien erstrecken und Hirn, Ohren und Augen ermüden.

Und, da wir schon in Köln sind: im Dom gibt es das immer noch vielbesuchte Kirchenfenster in der Südwestfassade von Gerhard Richter. Wer immer die Entscheidung dafür durchgesetzt hat: es war nicht der Kardinal, der als Bischof nicht Domherr ist; er meinte, das Fenster könne genau so gut auch in eine Moschee passen. Und in der Tat: die Bemühungen, dem computergeneriert verpixelten Mosaik-Fenster einen christlich-theologischen Gehalt anzumeditieren, gehen wohl fehl. Es ist, vom Standpunkt affirmativ-religiöser Ikonologie gesehen, ungefähr so ergiebig wie ein Kaleidoskop. Nein, der Agnostiker Richter hat dem Dom ein Fenster beschert, das sich bewusst jedweder Botschaft enthält. Und daraus wird dann eine Botschaft, weil es sich in einer berühmten christlichen Kathedrale befindet.

Offenbar haben wir besonders dann Schwierigkeiten mit der religiösen Sprache, wenn sie direkt werden soll; vielleicht ist sie uns sogar verloren gegangen.

3.

Wenn wir einmal die Pius-Brüder und die ultra-orthodoxe Kamarilla ihrem wohlverdienten Abseits überlassen, so gibt es doch auch etwas seriösere Leute, die der lateinisch-tridentinischen Liturgie und anderen tradierten Ritualen oder Praktiken gelegentlich nachtrauern. Einige Publizisten oder Literaten haben gegen unsere religiöse Sprach-Verlegenheit die Formsicherheit der Tradition aufzubieten versucht. Das versteht sich nicht immer nur und allein restaurativ, sondern auch als der Ästhetiker-Wunsch nach Klassizität, hat bisweilen aber auch einfach nur mit religiöser Kindheits-Nostalgie zu tun.

Es sind ja auch keineswegs bloß Vorgestrige, die bei Anlässen wie Taufe oder Begräbnis kirchliche Formen bevorzugen; so hatte z.B. der nicht gerade für religiösen Eifer bekannte Max Frisch testamentarisch bestimmt, dass die Aufbahrung und die Totenfeier in der Stiftskirche St. Peter in Zürich stattfinden solle (9.4.1991), ohne
Amen, Segen, Priester. - Im Hintergrund für diese – auch der (zwinglianisch-reformierten) Pfarrei - etwas befremdliche Entscheidung stand, dass Frisch die meisten nichtreligiösen Bestattungsformen als hilflos-peinlich empfand.

Darin liegt eine Paradoxie: der agnostische moderne Schriftsteller vertraut einem religiös imprägnierten Ritual mehr als säkulareren Formen; zugleich lässt die Pfarrei eine nicht-religiöse Zeremonie in ihrer Kirche zu. Gut möglich, dass die Prominenz von Max Frisch den Pfarrherren einen Bruch mit den kirchlichen Regularien erleichtern konnte; aber auch weniger prominente und nicht weniger laue Christen nehmen die kirchlichen Rituale gern in Anspruch. Es handelt sich offenbar um beidseitige Verlegenheiten.

Wer sich freilich noch an die Zeiten vorkonziliarer Liturgie und Praktiken erinnert, wird auch das Ausgeleierte dieser Formen ebenso im Gedächtnis behalten haben wie gewisse quasi-magische Zumutungen.

4.

Wenn man in einer gotischen Kathedrale einen gregorianischen Choral hört, kann das durchaus zu einer religiösen Erfahrung werden. Und manche Leute sagen, sie wüssten zwar nicht, ob sie an Gott glauben – aber an Bach als fünften Evangelisten schon. Vielleicht hat sich der christliche Glaube nie schöner und vollkommener Gehör verschaffen können als in der sakralen Musik.

Kaum ein bedeutender Komponist, der nicht auch eine Missa geschrieben hätte; und es gibt, neben byzantinischen Cherubim und Seraphim oder dem Schmalz von Schmerz-Herz- himmelwärts, ewigem Taufbund und Maria-zu-lieben auch viele schöne poetische Kirchenlieder, evangelische fast noch mehr als katholische.

Doch diese Schönheiten teilen den Schmerz alles Schönen: die Vergänglichkeit. Indem man es ständig beschwört, wird es museal. Blumenberg hat das in seiner Studie über die Matthäus-Passion gut beschrieben: bei aller Ergriffenheit setzen wir uns nicht mehr in Tränen nieder wie noch Bach, sondern realisieren bekümmert die Ferne dieser Lebenswelt[2]. Oder, wie es Hegel von der Kunst sagte: „Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen – es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr“ (WW 13,142).

Wir können diese Formen zitieren, aber es bleiben schöne und würdige - Zitate. Wie bei den erwähnten Begräbnis-Ritualen ist uns offenbar auch hier nichts wirklich adäquat Neues eingefallen. Es hilft auch kaum, sich bei anderen Religionen und Regionen umzusehen; die Erweckungsrituale in amerikanischen oder afrikanischen Gospel-Gemeinden und Pfingstkirchen eignen sich da kaum als Vorbild.

Den Normalfall bildet heute die üblich homiletisch imprägnierte Form der religiösen Rede und Unterweisung. Zuhörern wird es nahezu unmöglich, diesem seltsam zahnlosen Reden länger aufmerksam zu folgen; gelingt es ihnen dennoch einmal, so hören sie doch nur, was sie schon immer gehört haben.

Daneben gibt es, wie kürzlich noch beim päpstlichen Heimspiel zu beobachten, den etwas weihrauchig-hohen Ton der vatikanischen Verlautbarungen; sie vermögen es unvergleichlich, auch in diplomatisch feinem Kirchenlatein, dogmatische Penetranz noch als Ausdruck reiner Sanftmut zu zelebrieren.

Gelungener erscheint hingegen die spezielle Sprachform der Theologie, soweit diese sich an die Standards wissenschaftlicher Abhandlungen hält; aber sie gerät häufig unter Orthodoxie-Druck und ist gehalten, die Ebene der Argumentation in Richtung Bekenntnis und Verkündigung zu überschreiten; es gibt ja auch immer mal wieder Überlegungen, die akademische Theologie zu „entweltlichen“ und sie in eigenen kirchlichen Instituten unter Kuratel zu stellen.

Das bisher Gesagte betrifft natürlich nicht alle jene, die trotz leergebeteter Kirchen als Bischöfe oder Priester gescheit Seelsorge betreiben und so oder so versuchen, den religiösen Diskurs offen zu halten, wie zum Beispiel im Bildungswesen, in der Publizistik, in der Theologie oder auch in aktiven Pfarrgemeinden. Es scheint freilich, dass deren Aktionsradius immer stärker restringiert wird. – Gut, auch eine ältere Generation frommer Gutgläubiger oder die jüngeren Halleluja-Schlümpfe bei kirchlichen Groß-Events wird man respektieren dürfen. Ebenso genießt der Sozialkatholizismus und besonders das kirchliche Engagement für die Dritte Welt zu Recht vielfache Anerkennung. Und angesichts der aktuellen synkretistischen Gemengelage von Weltanschauungen, Sinnversprechen, esoterischem Hokuspokus oder evangelikalem Schwachsinn weiß man bisweilen auch das Aufklärungs-Minimum eines ordentlichen Religionsunterrichts aus der Schulzeit zu schätzen.

Sogar eine gewisse Form der Weltfremdheit – „ich bin der Welt abhanden gekommen“ – die mit jener Pietät der Wagenburg nichts gemein hat, hat ja recht, wenn sie sich nicht nur selbst leid tun, sondern Distanz gegenüber gewissen Zumutungen von Normalität wahren will. Nicht alles, was wirklich ist, ist ja deshalb schon wahr, und diese Differenz kann eine religiöse Dimension eröffnen; allerdings auch selbstreflexiv in puncto amtskirchlicher Praxis. Es ist ja ehrenwert, wenn Päpste über Antimodernismus, Syllabus etc. den Mantel des Schweigens decken und Menschenrechte und Religionsfreiheit, also demokratische Tugenden anerkennen – wenn aber diese Rhetorik für den Hausgebrauch folgenlos bleibt, insofern es auch an nur einfachen Formen von Gewaltenteilung fehlt und ein hierarchischer Zentralismus die Ordnung der kirchlichen Dinge bestimmt?

5.

Den kirchlichen Offiziellen ist natürlich auch nicht verborgen geblieben, dass sie mit ihrer Sprechweise kaum noch Aufmerksamkeit erreichen; dass sich die Kirchen leeren, der Priester- und Ordensnachwuchs massiv abnimmt und die Kirchenaustritte massiv gestiegen sind. In bewährter klerikaler Mentalität und dank tiefsitzender institutioneller Selbstbehauptungsreflexe reagiert die (höhere) Amtskirche darauf zwar bisweilen mit vorgezeigter Reue und Buße, aber nicht wirklich selbstkritisch. Ursache sind ohnedies ja immer äußere Umstände, der moderne Relativismus, mangelnde Glaubensfreude bei Laien und Kritikern oder die bösen Medien (derer man sich zugleich virtuos zu bedienen weiß). Man versucht vielmehr apologetisch, Verfehlungen zu personalisieren und den kirchlichen Antimodernismus mit dem Heiligenschein einer diasporalen Minderheitensituation zu adeln. Es ist dann der heilige Rest, der sich gegen die Gottvergessenheit und Indolenz einer heillos säkularisierten Welt sammelt.

Es fehlen nicht nur ein paar charismatische Wortführer, sondern es fehlen die Worte. Wie philosophisch gut bekannt, wohnt der Sprache eine kommunikative Intention inne, die symbolisch vermittelte intersubjektive Verständigung. Von Descartes bis Wittgenstein ist deshalb immer wieder die Privatsprachen-These verworfen worden. Sie stellt demnach, in aller Kürze, eine Form des Solipsismus dar; der ist bekanntlich kaum theoretisch zu widerlegen, sondern nur praktisch. Eine Privatsprache bezieht sich auf die je individuell nur dem jeweiligen Sprecher zugängliche Erfahrung und Realität. Die kirchlich-religiöse Redeform nähert sich mitunter diesem Zustand an. Mir fällt dazu der bekannte Satz von Wittgenstein ein: die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt. Ich glaube nicht, dass das so stimmt, eher leuchtet mir eine Umkehrung in puncto klerikalisierter Religion ein: die Grenzen unserer Welt sind die Grenzen unserer Sprache.

Kritische Überlegungen dieser Art erscheinen in Rom gern als deutsche Spezialität. Voi siete tutti lutheri: die deutschen Katholiken, Laien und Theologen gelten insgeheim als verkappte Lutheraner. Mit der souveränen Herablassung gegenüber Provinzlern pflegt man darauf hinzuweisen, dass es weltweit etwas über eine Milliarde Katholiken gibt, in Deutschland gerade mal 26 Millionen, und das mit abnehmender Tendenz. Mit anderen Worten. Die Deutschen und überhaupt die Europäer sollen sich gefälligst nicht so wichtig nehmen, die Weltkirche hat andere Perspektiven als diese intellektuellen Quisquilien einer quengeligen globalen Minderheit. Zuwachsraten gibt es vielmehr in anderen Erdteilen mit weit schönerer religiöser Unbefangenheit.

Diese Zahlenverhältnisse hängen freilich nicht allein mit größerer Frömmigkeit, sondern mindestens auch mit unterschiedlichen Geburtenraten und wohl auch mit noch ausstehenden Modernisierungseffekten zusammen. Natürlich ist es auch nicht einfach, die Pluralität der höchst unterschiedlichen Kulturen unter dem römischen Dach der Alleinseligmachenden auszutarieren. Wer mal in fremden Kontinenten unterwegs war und erlebt hat, wie sich Liturgie und Praktiken überall gleichen, kann der Katholizität ja durchaus eine sympathischere Version von Globalisierung abgewinnen.

Doch der römische Integralismus vergisst trotz aller feierlichen Beteuerungen von Enkulturation nicht, dass es auch um Statussicherung geht. Sozialpsychologen haben gut untersucht, dass und wie geschlossene Gesellschaften einen esprit de corps auszubilden pflegen, eine corporate identity, dank derer die Außenwelt immer mehr mit Tunnelblick wahrgenommen wird. Das gilt für das Funktionärs-Personal in Parteien, Behörden, Unternehmen oder Gewerkschaften nicht minder als für die Amtskirche. Wenn man sich in Rom die Mühe macht, die mächtige Kuppel im Inneren des Petersdoms hochzusteigen und dann auf den Platz mit den prachtvollen Bernini-Kolonnaden und die breite Via della Conciliazione hinunterschaut, scheint jeder Gottesbeweis entbehrlich. Und wer Jahre oder Jahrzehnte in diesem Ambiente samt seinen Ritualen, Kabalen und Sprachregelungen zubringt, sollte sich nicht wundern, wenn er irgendwann die Welt nicht mehr versteht.

6.

Aktuell haben zwei renommierte Autoren das Problem einer heutigen religiösen Semantik diskutiert: Charles Taylor und Bruno Latour[3]. Taylor macht vor allem die materialistisch verkürzten Wissenschaften der Moderne für die religiösen Verluste verantwortlich; Latour will die religiöse Rede von jeglicher kognitiven Ambition freihalten und auf eine wortlos erfüllte Gegenwart religiöser Lebensführung reduzieren. Beide Versionen helfen hier nicht viel weiter: Latours Vorschlag läuft auf eine objektlose Innerlichkeit hinaus; Taylors weit ausholendes Opus unterschätzt, dass Aufklärung und Wissenschaft auch zum Abbau von Angst verholfen haben: Das traditionelle religiöse Drohpotential mit Sündenstrafen, Weltgericht und Höllenangst hat ausgedient. Es war auffallend gern mit einer Sexualmoral verbunden, deren Atavismus heute als nachgerade peinlich gilt.

Wenn man schon einen Vergleich wagen will, dann könnte man eher an Sprachschöpfungen in der Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts denken, also etwa an Joyce, Kafka, Trakl, Musil, Beckett, Pirandello und viele andere; Ingeborg Bachmann hat, beeindruckt von Wittgensteins und Heideggers Sprachdenken, auch von Paul Celan, geradezu flehentlich nach einer neuen Sprache gerufen, gegen das „Geröll der Worte“.

Gewiss, das ist Literatur, Kunst, Ästhetik, nicht einfach vergleichbar mit religiöser Rede und Metaphorik. Aber Empfindlichkeit gegenüber Sprachverschleiß sollte sich nicht aufs Belletristische beschränken.

7.

Früher mussten die Gläubigen nach Rom kommen, um den Papst zu sehen, seit einiger Zeit reisen Päpste quer durch die Welt zu den Gläubigen und liefern den Medien dabei viel, viel Bildmaterial. Der Unterschied dieser Pietät zu folkloristischen Trachtenveranstaltungen oder auch zu Pop-Star-Events ist oft nur noch graduell. Man sollte das freilich nicht mit Kommunikation verwechseln, es gleicht wohl eher der alten biblia pauperum für ein illiterates Publikum.

Der Kern der Pietät soll im „Glauben“ bestehen, wie uns immer wieder nahegelegt wird. Aber „Glauben“ ist per se noch keine Tugend, Menschen haben immer wieder allen möglichen Blödsinn geglaubt. Deshalb war es 2000 Jahre lang Aufgabe der Theologie, sich von Fehldeutungen und Aberglauben abzugrenzen.

Das scheint heute immer weniger zu gelingen. Die religiösen Energien, die es nach wie vor durchaus gibt, verwahrlosen, weil sie sich in der kirchlich-religiösen Rede nicht mehr aufgehoben finden. Und diese Rede hat den Anschluss an das zeitgenössische Bewusstsein allzu oft verloren, weil sie darin nur die uneigentliche Sprache des Zeitgeists und des Relativismus erkennen will. – Die Kirche hat sich damit in eine Falle manövriert: das alte Kommunikationskonzept funktioniert nicht mehr, und ein moderneres neues passt nicht zur überkommenen kirchlichen Struktur.

Die neuerlich ins Spiel gebrachte Forderung nach „Entweltlichung“ unterstreicht das noch: ihre Kehrseite heißt doch Re-Sakralisierung. Eine nicht-theologische,
aber durchaus sympathetische Modernisierungsabsicht schlägt zwei andere Deutungen für die Gegenwart der religiösen Vergangenheit vor: erstens, dass wir auf den überlieferten Reichtum an religiöser Metaphorik für rational (noch) nicht lösbare Kontingenzprobleme angewiesen bleiben; und zweitens, dass Religion die Differenz zwischen Sichtbar und Unsichtbar sichtbar machen kann.

Das sind natürlich ziemlich formale Bestimmungen, und die religiöse Kontingenzbewältigung gelingt nur insoweit, als die entsprechenden Metaphern glaubwürdig erscheinen. Aber wie viele Katholiken glauben z.B. für sich noch an die österliche Auferstehung des Fleisches und ein Leben nach dem Tod?

Ich möchte zum Schluss stattdessen zwei Vorschläge (ohne Anspruch auf Unfehlbarkeit) riskieren: Erstens gehört zur Sprachform avancierten zeitgenössischen Bewusstseins die Idee des kommunikativen Diskurses; sie schlägt sich praktisch nieder in demokratischen Strukturen. Diese sind nicht hierarchisch, sondern sollen frei-egaltär sein. Zu ihnen gehört, dass öffentlich diskutiert und gestritten wird, auch heftig, wie es in der alten kirchlichen Tradition und in der Bibel übrigens durchaus der Fall war. Mitglieder von Pfarrgemeinden, die sich gegen obrigkeitliche Weisungen - ohne vorher angehört worden zu sein - zur Wehr setzen, haben das verstanden, wie überhaupt die Basis ihren Hierarchen meist längst voraus ist.

Zweitens: Als amtliche Gegenthese wird bis zum Überdruss zelebriert, dass man über das Evangelium nicht nach Mehrheitsprinzip abstimmen könne. Wohl wahr, aber ich habe noch nie gehört, dass irgendjemand das gefordert hätte; demokratische Struktur lässt sich ja nun nicht auf das Durchpauken von Mehrheiten reduzieren. Es geht vielmehr um Hermeneutisches, um die Deutung und Bedeutung der biblischen Texte, deren Sinn gegenüber mündigen Bürgern nicht mehr einfach autoritativ verfügt werden kann.

Eine wirklich revolutionäre Wende in der Theologie spielt in diesem Kontext leider fast kaum eine Rolle: ich meine die historisch-philologische Bibelkritik seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Sie gehört in den Kontext der Entzauberung der Welt durch Wissenschaft oder nietzscheanischer Entlarvung; aber sie hat zugleich ermöglicht, die Sprache der biblischen Texte zu verstehen, ohne dem eigenen Denken Selbstverleugnung aufzuerlegen. Es gab und gibt gute katholische Exegeten, aber sie geraten in der dogmatischen Orthodoxie immer wieder mal unter Protestantismus-Verdacht. Getragen von der Tradition der historisch- philologischen Forschung und unter dem Eindruck Heideggerscher Philosophie hat beispielsweise Rudolf Bultmann einen Begriff geprägt, von dem ich meine, dass er - mit freilich anderen Prämissen - heute erneut auf die Tagesordnung für eine Reform der religiöse Rede gehört: ich spreche von „Entmythologisierung“. Vielleicht könnte das Projekt auch „Skeptische Religionsphilosophie“ heißen?


© imprimatur März 2012
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[1]H.R. Schlette, Skeptische Religionsphilosophie. Zur Kritik der Pietät, Freiburg 1972.
[2]H. Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt/M. 1988.
[3]Ch. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/M. 2009; B. Latour, Jubilieren, Berlin 2011.