Karl-Heinz Ohlig
Historisch-kritische Betrachtung der frühen Islamgeschichte
Statt einer Rezension eine Leseprobe aus:
Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Die Entstehung einer Weltreligion II. Von der koranischen Bewegung zum Frühislam (Inârah. Schriften zur frühen Islamgeschichte und zum Koran, Bd. 6), Verlag Hans Schiler: Berlin 2011, 814 S.

Der neu erschienene Sammelband gibt Beiträge von Wissenschaftlern aus aller Welt wieder zu den Fragen der Entstehung des Islam und zum Koran. Diese Untersuchungen zeigen ein ganz neues Bild der Frühgeschichte des Islam und ebenso zur Eigenart des Koran. Weil eine Rezension aller Beiträge den hier zur Verfügung stehenden Raum überschreiten würde, soll eine kürzere und allgemein verständliche Leseprobe einen ersten Eindruck vermitteln.

Geschichte und Geschichten
1. Grundsätzliches

In so gut wie allen Gesellschaften findet sich die Überlieferung von Erzählungen und Geschichten, die für das eigene Selbstverständnis konstitutiv sind. Geschichten können kulturelle Identitäten begründen, seien sie ethnischer, nationaler, religiöser Art. Diese Funktion haben sie auch heute noch, obwohl wir über Wissen verfügen, das von ihnen unabhängig ist. Zu Zeiten aber, die noch nichts von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen z.B. zur Entstehung des Kosmos oder zur Evolution alles Lebendigen wussten, die ebenso keine Geschichtswissenschaften oder empirische Humanwissenschaften kannten, bestimmten sie beinahe ausschließlich „das Wissen“ von Welt und Mensch in den Gesellschaften und sicherten die je neue Erinnerung an die eigenen Prägungen und Besonderheiten, gleichgültig ob sie erzählt wurden oder geschrieben vorlagen.

Mit dem Aufkommen eines kritischen Denkens, in Ansätzen im Hoch- und Spätmittelalter, vor allem aber seit der Neuzeit und Aufklärung, wurden viele der seit alters her Orientierung und Sinn stiftenden Geschichten problematisiert. Kritisches Denken „unterscheidet“; es unterscheidet z.B. zwischen dem, was in einer Erzählung berichtet und intendiert wird, und dem, was tatsächlich passiert ist oder passiert sein könnte. Letzteres wurde durch die immer mehr verfeinerten historisch-kritischen Methoden, durch exakte philologische Untersuchungen, empirisch überprüfbare Datenerhebungen (in Geschichtswissenschaften, Archäologie, Epigraphik, Numismatik usf.) und Einbeziehung aller verfügbaren zeitgenössischen Quellen zu eruieren gesucht.

So wurden in Judentum und Christentum z.B. zahlreiche Geschichtenerzählungen als spätere Produkte – viele Jahrhunderte oder (für das Neue Testament) Jahrzehnte nach den berichteten „Ereignissen“ niedergeschrieben – erkennbar. Sie schildern eine „heilige Geschichte“ (historia sacra), wie sie sich die späteren Autoren vorstellten, sie sind eine narrative Theologie der Späteren, die ihre Konzepte mit dem Rückgriff auf eine postulierte Vergangenheit erläutern und zugleich auch absichern wollten. Die Patriarchenerzählungen des Alten Testaments, mittlerweile auch Geschichten von späteren Geschehnissen und Personen, z.B. um Mose, Joschua, Saul, Salomo und David, oder die Wundererzählungen, die Kindheitsgeschichten oder Erscheinungsberichte des Neuen Testaments verloren ihre geschichtliche Grundlage. Man musste realisieren, dass die Geschichte anders verlaufen ist.

Vom historischen Standpunkt aus könnte man diese Geschichten als Erfindungen oder gar Fälschungen bezeichnen. Dies ist nach heutigem Verständnis sicher zutreffend, aber es beschreibt nur eine einzige Dimension dieser Geschichten, nämlich die unserer historischen Fragestellung (ist es so passiert, wie es geschildert wird?), die die damaligen Produzenten und Rezipienten der Erzählungen noch nicht kannten. Sie aber wollten, anhand von Reprojektionen in eine (ausgedachte) Vergangenheit, das herausstellen, klar machen und begründen, was ihnen in ihrer jeweiligen Gegenwart wichtig war. Der „Sitz-im-Leben“ für diese Erzählungen war nicht, Vergangenes so zu schildern, wie es tatsächlich war. Woher hätte man das denn auch, nach langen Zeiten, wissen sollen, ohne irgendwelche Quellen? Vielmehr sammelten die Erzähler oder Schreiber alle möglichen mündlichen oder auch, seltener, schriftlich vorliegenden Geschichten, Namen und Erzählmotive, die in ihren Kontexten in Umlauf waren, brachten sie in einen gänzlich neuen Zusammenhang, schufen weitere Erzählungen und platzierten sie in einer mythischen Vergangenheit, um damit die Gegenwart und Zukunft normativ zu bestimmen.

So trugen die Erzählungen von Romulus und Remus oder die Herleitung der eigenen Geschichte von Troja bei Vergil zur Begründung des römischen Staates und seines Weltreiches bei (ähnlich fand letzteres Motiv auch für die fränkischen Könige eine Nachahmung). Die Herleitung der äthiopischen Könige von der sagenumwobenen Königin von Saba befestigte die Identität Äthiopiens, die Konstruktion eines Aufenthalts des Petrus in Rom, eines von ihm dort ausgeübten Bischofsamtes und der darauf folgenden Sukzession der „Nachfolger des Petrus“ konnten den erst viel später entstandenen Primatsanspruch untermauern, die sogn. Kontantinische Schenkung – „die wohl berühmteste Fälschung der Weltgeschichte“[1] – bestimmte für lange Zeit in Europa das Verhältnis von Kirche und Staat, von Papst und Kaiser im Sinne der damaligen Fälscher. Die „Erfindung“, wie Johannes Fried mit guten Gründen aufgezeigt hat[2] , eines Begründers des Benediktinerordens und der Benediktregel, des Benedikt von Nursia, legte für das abendländische kirchliche und kulturelle Leben ein sicheres und vor allem anschauliches und erzählbares Fundament.

Man denke nur an die nicht wenigen Heiligen und Martyrer/innen der Antike, deren anschaulich erzählte Viten zu tugendhaftem und standhaftem Christenleben motivieren sollten, ohne dass es sie, wie wir heute wissen, tatsächlich gegeben hätte; die schönen Mythen um Elisabeth von Thüringen sollten bestimmte damalige christliche Wertvorstellungen transportieren usw. Auch Klöster oder Wallfahrtsorte schufen Erzählungen, durch die sie ihre Identität und Bedeutung begründen und sichern konnten[3].

Allen diesen Geschichten ist unter historischen Gesichtspunkten gemeinsam, dass das Berichtete nicht auf tatsächlichen Geschehnissen beruht oder wenigstens nicht auf die erzählte Weise passiert ist. Dennoch gibt es bei diesen Geschichten Unterschiede: Einige sind absichtsvolle Fälschungen im eigentlichen Sinn; zu dieser Gattung gehört beispielsweise die Konstantinische Schenkung. Andere Geschichten aber sind wohl „wie von selbst“ entstanden, weil man bestimmte Hinweise aus späterer Sicht und auf Grund der bis dahin gelaufenen Entwicklungen mittlerweile so verstand – und vielleicht sogar verstehen musste.

Dies kann man wohl annehmen für die kärglichen Notizen, die im Sinne eines Aufenthalts des Petrus in Rom (usw.) gedeutet wurden; nachdem sich Jahrhunderte später der Primat der römischen Bischöfe im Westen der Kirche einigermaßen etabliert hatte, konnte man diese vom späteren Blickwinkel aus nur noch als gültige Hinweise auffassen, so dass sie sich allmählich zu einer kontinuierlichen Geschichte von Petrus an verdichteten. Zu dieser Gattung gehören wohl auch die meisten Gründungsmythen von Religionen, in denen sich umlaufende Erzählungen oder Namen aus der Sicht der späteren Erzähler zu einer mehr oder weniger zusammenhängenden – die Lücken wurden besten Gewissens aufgefüllt – Geschichte fügten[4].

Aber selbst wenn z.B. der Verfasser der neutestamentlichen Apostelgeschichte nach – sagen wir einmal: rund 50 bis 60 Jahren – eine Petrusrede oder die Areopagrede des Paulus „erfindet“ oder unbekannte Kirchenleute noch einmal später unter dem Namen des Petrus Briefe oder über die „echten“ Paulusbriefe hinaus weitere unter seinem Namen niederschrieben (Pseudepigraphie), sie selbst also wohl wussten, dass nicht Petrus oder Paulus so gesprochen und geschrieben haben, wäre der Begriff Fälschung wohl unangemessen. Schrieben sie doch so, wie nach ihrer Überzeugung Petrus oder Paulus geredet oder geschrieben haben müssten – und damit ließ sich dann noch eine positive Wirkung erzielen, wenn man ihnen, anerkannten Autoritäten, die jeweiligen Inhalte in den Mund legte. Das für uns heute so zentrale Kriterium der historischen Authentizität spielte damals keine nennenswerte Rolle, ebenso wenig wie für Abschreiber von überlieferten Texten ein Bemühen um die Echtheit der Originale; man schrieb einfach weiter oder ergänzte sie mit Einschüben vom neuen „Wissensstand“ her – oder man schuf einfach ganz neue Schriften: So gibt es viele pseudepigraphe Schriften, z.B. Pseudo-Augustinus, Pseudo-Bonaventura usf. Vor allem die Spätantike und das Mittelalter, im Okzident wie im Orient, waren eine Brutstätte für die Produktion immer neuer Geschichten und Schriften, auch unter fingierten Autorennamen, sowie für die Einfügung neuer Textstücke in vorliegende Schriften im Vorgang des Kopierens (Interpolationen).

Mögen sich die beiden Gattungen auch gelegentlich überschneiden, so wäre es doch falsch, alle Geschichten über einen Kamm zu scheren und als Fälschungen zu bezeichnen. Dies allerdings tut der historischen Feststellung keinen Abbruch, dass sie nicht Geschichte wiedergeben, also, wenn man so will, „erfunden“ sind. Historisch wichtig sind sie nur insofern, als man an ihnen analysieren kann, was ihre Produzenten zu ihrer Zeit, in ihren Kontexten dachten und was sie angesichts ihrer Hörer bzw. Leser für wichtig hielten – im Fall religiöser Geschichten also: welche Theologie, welche kerygmatischen oder „politischen“ Interessen die späteren Verfasser vertraten.

Johannes Fried bezeichnet solche wirkmächtigen Geschichten als „Implantate ins kollektive Gedächtnis“[5] der jeweiligen Kulturen, oft ohne jegliches oder jedenfalls mit nur kärglichem historischem Fundament. In ähnlicher Weise bezeichnet der israelische Historiker Shlomo Sand die Gründungsmythen Israels als 'implantiertes Gedächtnis'[6]. Dies gilt vor allem für Geschichten, die sich auf (angebliche) mündliche Traditionen stützen: „Alle Erfahrung lehrt, dass bei ausschließlich mündlicher Tradition, zumal wenn autoritative Momente in Anschlag zu bringen sind, mit extremer Selektion und unmerklicher Erinnerungsmodulation zu rechnen ist, ja, dass im Extremfall zwischen Mythos oder Sage, Erfindung und Realität nicht mehr unterschieden werden kann und Fiktionen als Wirklichkeit gelten[7].“

Die historischen Probleme verstärken sich noch, wenn aus mündlichen Überlieferungen nur eine einzige schriftliche Aufzeichnung hervorgegangen ist: „Höchste Vorsicht ist etwa geboten, wenn der gesamte Überlieferungsstrom nach langer (für den Historiker unkontrollierbaren) Mündlichkeit in eine einzige Quelle mündet, die durch keine Parallelquelle bestätigt werden kann[8].“

Johannes Fried berücksichtigt vor allem die antike und europäisch-mittelalterliche Situation, Shlomo Sand die jüdischen Traditionen. Aber seine Feststellungen der beiden gelten ebenso für andere Kulturen. Uns interessieren hier die ensprechenden Implantate ins kollektive Gedächtnis der Muslime.

2. Zu den islamischen Geschichten

Alles, was islamische Gelehrte über die Geschichte der eigenen Religion erzählen und was westliche Islamwissenschaftler in der Regel bekräftigen, beruht auf Sammlungen bunter Geschichten: die vier „Biographien“ des Propheten, die Sammlungen der Sunna, die spanische Eroberungsliteratur[9] . Bei den Biographien handelt es sich um: 1. Die Sira des Ibn Hisham, gest. 834, die sich – tatsächlich oder fiktiv? – auf einen nicht erhaltenen Text von Ibn Ishak, gest. 768, bezieht; 2. eine Geschichte der Kriegszüge von al-Waqidi, gest. 822; 3. ein Buch namens „Klassen“ oder „Generationen“ von Ibn-Sa’ad, gest. 845; 4. ein Buch „Annales“ von at-Tabari, gest. 922. Die sechs kanonischen Hadithsammlungen der Sunna werden folgenden Autoren/Redaktoren zugeordnet: 1. al-Bukhari, gest. 870; 2. Muslim, gest. 875; 3. Abu Dawud, gest. 888; 4. Tirmidhi, gest. 892; 5. Nasa’i, gest. 915; 6. Ibn Madscha, gest. 886).

Diese sind allesamt erst einige Jahrhunderte nach den in ihnen thematisierten Ereignissen niedergeschrieben worden; einigermaßen zeitgenössische islamische Literatur zu diesen Abläufen gibt es nicht. Zudem drängt sich dem Leser dieser späteren Schriften deren legendarischer Charakter unmittelbar auf.

So bieten diese Schriften zwar durchaus historisch verwendbare Informationen, nämlich zu dem Denken und dem Vorstellungsmaterial ihrer Produzenten zur Zeit ihrer Abfassung. Sie zeigen, wie der Islam zu späteren Zeiten, in denen er sich in den jeweiligen Heimatregionen der Autoren durchgesetzt hatte, beschaffen war, und
ebenso, wie diese Situation durch die Schaffung und den Rückgriff auf eine Vorgeschichte erklärt, begründet und somit gesichert werden sollte.

In Summe entwerfen sie – trotz aller Widersprüche und Ungereimtheiten – eine „heilige Geschichte“ von den Anfängen um den Propheten Mohammed in Mekka und Medina, über die dynamische Eroberung weitester Gebiete im Osten, Süden und Westen des Mittelmeers unter Führung der vier „rechtgeleiteten Kalifen“ und der Omaiyaden bis in die frühe Abbasidenzeit, in Spanien von der angeblichen Eroberung im Jahre 711 bis zum Sieg des Islam.

(wird fortgesetzt)


© imprimatur März 2012
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[1]Johannes Fried, Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, München vierte Aulage 2009, 95.
[21]Johannes Fried, Ungeschehenes Geschehen. Implantate ins kollektive Gedächtnis – eine Herausforderung für die Geschichtswissenschaft (Millenium 5/2008. Jahrbuch für Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends, hrsg. von W. Brandes, A. Demandt, H. Leppin, H. Krasser u. P. von Möllendorf), Berlin, New York 2008, 1-36; vgl. ders., Das Mittelalter, a.a.O. 38.
[3]Vgl. z.B. die Studie von Christofer Zwanzig, Gründungsmythen fränkischer Klöster in Früh- und Hochmittelalter (Beiträge zur Hagiographie, Bd. 9), Stuttgart 2010.
[4]Vgl. hierzu vom Verf., Von Bagdad nach Merv. Geschichte, rückwärts gelesen, in: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig Hg.), Vom Koran zum Islam (Inârah. Schriften zur frühen Islamgeschichte und ´zum Koran, Bd. 4), Berlin 2009, 29-106; für die Anfangsmythen bes. 56-63.
[5]So der Untertitel seines Aufsatzes „Ungeschehenes Geschehen“, a.a.O.
[6]Shlomo Sand, Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand (erste Auflage 2008), zweite Auflage (deutsche Übersetzung aus dem Hebräischen von Alice Meroz) Berlin 2010. Der zweite Abschnitt seiner Einleitung trägt die Überschrift „Das implantierte Gedächtnis“ und bezieht sich auf die biblischen und nachbiblischen Gründungsmythen Israels (40-52).
[7]J. Fried, Ungeschehenes Geschehen, a.a.O. 18.
[8]Ders., ebd.
[9]Vgl. zur spanischen Geschichte die drei Beiträge von Johannes Thomas, Frühe spanische Zeugnisse zum Islam ..., in: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Schlaglichter. Die beiden ersten islamischen Jahrhunderte, Berlin 2008, 93-186; „Ibaditen“ / Kharidjiten“ / „Mutaziliten“ ..., in: M. Groß / K.-H. Ohlig (Hg.), Der frühe Islam. Eine historisch-kritische Rekonstruktion anhand der zeitgenössischen Quellen, Berlin zweite Aufl. 2010, 250-321; Arabo-islamische Geschichtsschreibung und ihre Auswirkungen auf Geschichtsbilder von al-Andalus (8. Jh.) ..., in: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Die Entstehung einer Weltreligion I. Von der koranischen Bewegung zum Frühislam (Inârah. Schriften zur frühen Islamgeschichte und zum Koran, Bd. 5), Berlin 2010, 140-232.