Nikolaus Klein
Sind sie etwa keine Menschen?
Antonio de Montesino - eine Predigt mit weitreichenden Folgen (1511)

Die von Thomas von Aquin formulierte Maxime, "das in der Reflexion Erkannte anderen mitzuteilen"[1] , hat sich in der Geschichte des Dominikanerordens immer wieder als innovativ erwiesen. Forderte er doch mit diesem Satz von dem neu gegründeten Orden der Predigermönche, ihre am Evangelium orientierte Reformbewegung mit dem intellektuellen Aufbruch der Theologie, wie er sich im 13. Jahrhundert an den Universitäten in den aufblühenden städtischen Milieus formierte, zu verbinden.
Im Lauf der Jahrhunderte bewies die Formel von Thomas von Aquin immer wieder ihre inspirierende Kraft. So hat sich der französische Theologe Marie-Dominique Chenu OP, einer der Erneuerer der Theologie im 20. Jahrhundert, in seinen programmatischen, historischen und systematischen Entwürfen auf diese Einsicht seines Ordensbruders berufen.

Oft hatten Erneuerungsbewegungen nur lokale oder regionale Bedeutung. Aber es gab immer wieder einige, die eine lang anhaltende und globale Wirkung hatten, auch wenn sie einem begrenzten Kontext entsprungen waren. Die am 21. Dezember 1511, also vor 500 Jahren gehaltene Predigt von Antonio de Montesino OP (1485-1540) in der im selben Jahr zur Kathedrale erhobenen Hauptkirche von Santo Domingo, der Hauptstadt der heutigen Dominikanischen Republik, war ein Ereignis, dessen Auswirkungen bis in unsere Zeit erkennbar sind[2] .

Gemäß der liturgischen Agenda des Dominikanerordens predigte Antonio de Montesino an diesem Sonntag über die Perikope Joh 1, 19 ff., in der berichtet wird, wie die Pharisäer den in der Wüste predigenden Täufer fragten, wer er sei. Dieser gab zur Antwort: "Ich bin die Stimme eines Rufenden in der Wüste" (Joh 1,23). Der sonntägliche Prediger machte sich diese Selbstbezeichnung des Täufers zueigen.

Vor der anwesenden politischen Elite, neben anderen Admiral Diego Columbus, dem Sohn von Christoph Columbus, verglich er die Mentalität, mit der die herrschenden Spanier sich gegenüber der indigenen Bevölkerung verhielten, mit einer "todbringenden Wüste": "Um euch das bekanntzugeben, bin ich auf diese Kanzel gestiegen, ich, der ich die Stimme Christi in der Wüste dieser Insel bin; und deshalb ist es angebracht, daß ihr sie aufmerksam anhört, und zwar nicht so aufmerksam, wie es euch gut dünkt, sondern mit eurem ganzen Herzen und all euren Sinnen; diese Stimme wird für euch ungewöhnlicher sein als alles, was ihr jemals gehört habt, die raueste, härteste, schrecklichste und gefährlichste, die ihr jemals zu hören meintet[3]."

Bartolomé de Las Casas berichtet in seiner "Historia de las Indias", die Anwesenden hätten auf diese Worte mit Schrecken und Bestürzung reagiert. Dass es Antonio de Montesino darum ging, seine Zuhörer für sich zu gewinnen und dadurch zur Einsicht über ihre Situation zu bewegen, wird im Fortgang seiner Predigt deutlich.

Denn im Hauptteil der Ansprache entwickelte er seinen Gedankengang in einer Folge von Fragen. Jedem Hörer ist damit anheim gestellt, wie er diese für sich beantworten will: "Sagt, mit welchem Recht und mit welcher Gerechtigkeit haltet ihr diese Indios in solch grausamer und entsetzlicher Knechtschaft? Mit welcher Machtbefugnis habt ihr solch verabscheuungswürdige Kriege gegen diese Menschen geführt, die ruhig und friedlich in ihren Ländern lebten, in denen ihr so unendlich viele von ihnen getötet und mit unerhörten Verheerungen ausgerottet habt? Wie bedrückt und plagt ihr sie, ohne ihnen Essen zu geben oder sie in ihren Krankheiten zu pflegen, die sie sich durch die übermäßigen Arbeiten zuziehen, die ihr ihnen auferlegt, und durch eure Schuld sterben sie, oder, besser gesagt, ihr tötet sie, um täglich mehr Gold herauszupressen und zu gewinnen? Und wie sorgt ihr für jemanden, der sie in der christlichen Lehre unterweist, damit sie ihren Gott und Schöpfer erkennen, getauft werden, die Messe hören, die Sonn- und Feiertage in Ehren halten? Sind sie etwa keine Menschen? Haben sie keine vernunftbegabten Seelen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie wie euch selbst zu lieben? Versteht ihr das nicht? Fühlt ihr das nicht? Wie könnt ihr in einen so tiefen, so bleiernen Schlaf versunken sein? Haltet es für gewiß, daß ihr euch in dem Zustand, in dem ihr euch befindet, nicht besser retten könnt als die Mauren oder Türken, denen der Glaube an Jesus Christus fehlt und die ihn nicht haben wollen[4]."

Antonio de Montesinos Äußerungen waren in mehrfacher Hinsicht brisant. Sie prangerten nicht nur ein schwerwiegendes Fehlverhalten an, sondern sie stellten auch das Fundament in Frage, auf dem die Kolonisierung und damit die politische und ökonomische Macht seiner Zuhörer beruhte. Der spanische König leitete die Rechtmäßigkeit seiner Herrschaft über die Westindischen Inseln von der Tatsache ab, dass seine politische Gewalt an seine Rolle als Patronatsherr der dortigen lokalen Kirche gebunden ist.

Die Gottesdienstbesucher reagierten heftig und ablehnend auf die Äußerungen Antonio de Montesinos. Sie erkannten, dass er mit seiner Kritik das Kolonialsystem grundsätzlich in Frage stellte. In der Folge beschwerten sie sich beim Oberen der Dominikanerkommunität Pedro de Córdoba und verlangten, dass der Prediger seine Anklagen widerrufen solle. Mit seinen Vorwürfen gegen ihr Verhalten hätte er die Herrschaft des spanischen Königs über Westindien in Frage gestellt, weil doch die Besitztitel ihnen vom König gewährt worden seien.

Auf dieses Drängen hin sagte Antonio de Montesino zu, am darauffolgenden Sonntag sich öffentlich zu seiner Predigt zu äußern. Er benützte diese Gelegenheit, um seine Vorwürfe zu wiederholen. Ja er radikalisierte sie, indem er erklärte, keinem der Kolonialherren werde in Zukunft die Beichte abgenommen werden, wenn dieser nicht zu einer radikalen Bekehrung und zu einer Restitution für das begangene Unrecht bereit sei.

Vertreter der beiden Parteien suchten in der Folge eine Entscheidung im Mutterland. Antonio de Montesino reiste persönlich nach Spanien, weil er hoffte, durch einen Appell an den rechtlichen Sinn des Königs für sein Anliegen Unterstützung zu erhalten. Er erreichte es, daß Ferdinand der Katholische eine Expertenkommission zur Prüfung der Frage einsetzte[5]. Die sogenannte Junta von Burgos formulierte 1512 sieben Leitsätze für eine Neuformulierung der Kolonialgesetzgebung, die noch im selben Jahr als "Leyes de Burgos" Gesetzeskraft erhielten.

Für Antonio de Montesino und seine Mitbrüder bedeuteten die neuen Bestimmun-gen eine Festschreibung des Kolonialsystems, die zwar mit wenigen einschränkenden Bestimmungen der Rechte der Kolonialherren (Encomoderos) verknüpft wurde. Deshalb setzten sie ihre Proteste fort. Die daraufhin 1513 erlassenen "Leyes de Valladolid" brachten aber keine wirksame Verbesserung der Situation der indigenen Bevölkerung.

Trotz dieser offenkundigen Niederlage entfaltete die Adventspredigt Antonio de Montesinos eine nachhaltige Wirkung. Die Argumente, die er damals formuliert hatte, finden sich durchgehend in den politischen, juristischen und theologischen Debatten über die "Westindische Frage" unter den spanischen Königen Ferdinand dem Katholischen, Karl I. und Philipp II. wieder.

Am bekanntesten unter seinen Rezipienten sind wohl Bartolomé de Las Casas OP (1484-1566) und Francisco de Vitoria OP (1483-1546). Für den Erstgenannten war die Predigt Antonio de Montesinos ein entscheidender Anstoß dafür, seine Rechtstitel eines Encomodero aufzugeben und sich bis zu seinem Tod als Mönch, Bischof und Schriftsteller für die Rechte der indigenen Bevölkerung einzusetzen.

Francisco de Vitoria hielt 1539 Vorlesungen über die "Westindische Frage" (Relectio de Indis), in denen er die Rechtsansprüche der spanischen Krone prüfte. Schon sein Projekt einer Kritik war bemerkenswert, auch wenn es vor der unlösbaren Aufgabe stand, wie man mit den seit dem Beginn der Conquista geschaffenen politischen und rechtlichen Realitäten umgehen soll[6]. Angesichts dieser Situation vertrat Francisco de Vitoria den Standpunkt, jeder Rechtsanspruch müsse nach einem "übernationalen" Maßstab geprüft werden. Mit dieser Forderung schuf er grundlegende Voraussetzungen für das moderne Völkerrecht[7].

Nikolaus Klein SJ, geb. 1947 in Brig im Wallis (Schweiz), ist stellvertretender Chefredakteur der „Stimmen der Zeit“; er war seit 1982 Redakteur der „Orientierung“ in Zürich und deren Chefredakteur von 1991 bis zur Einstellung dieser Zeitschrift 2009. – Der Artikel ist zuerst erschienen in: Stimmen der Zeit. Online exklusiv Januar 2012. Wir danken für die Nachdruckerlaubnis. Red.


© imprimatur März 2012
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[1]Thomas von Aquin, Summa Theologiae III, q 40, a.1 ad 2: "Vita activa secundum quam aliquis praedicando et docendo contemplata aliis tradit, est perfectior quam vita quae solum contemplatur."
[2]Vgl. R. Hernández, Primeros dominicos del convento de San Esteban en América, in: Ciencia Tomista 113 (1986) 317-342, 326 ff.; M. Sievernich, Anfänge prophetischer Theologie. Antonio de Montesinos Predigt (1511) und die Folgen, in: Conquista und Evangelium. Fünfhundert Jahre Orden in Lateinamerika, hg. v. dems. (Mainz 1992) 77-98.
[3]B. de Las Casas, Geschichte Westindiens, in: ders., Werkauswahl, Bd. 2: Historische und ethnographische Schriften, hg. v. M. Delgado (Paderborn 1995) 139-253, 226.
[4]Ebd.
[5]Vgl. R. Streit, Die erste Junta von Burgos im Jahre 1512, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft 13 (1923) 65-78, 67 ff.
[6]Vgl. Francisco de Vitoria Vorlesungen I (Relectiones), hg. v. U. Horst, H.-G. Justenhoven u. J. Stüben (Stuttgart 1995) 84-99; R. Hernández, La escuela dominicana de Salamanca ante el descubrimiento de America, in: Actas del I congreso international sobre los Dominicos y el nuevo mundo, ed. por Fundación Bartolomé de Las Casas (Madrid 1988) 101-132, 112.
[7]Vgl. Politische Philosophie u. Rechtstheorie des Mittelalters u. der Neuzeit. Reihe II, Serie II, Bd. 3: Francisco de Vitorias "De Indis" in interdisziplinärer Perspektive, hg. v. N. Brieskorn u. G. Stiening. (Stuttgart 2011).