Paul Glotter
Sexualverbrechen in der Kirche
Ordensmann geht mit zynischen Bischöfen hart ins Gericht

Als Thomas Doyle 1985 zusammen mit seinen Freunden Mike Peterson und Ray Mouton den sogenannten "Lafayette"-Bericht über die Vergewaltigung von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester in der gleichnamigen Diözese im Bundesstaat Lousiana veröffentlichte, war er noch fest überzeugt, dass die US-Bischöfe die "Sturmwarnung" des Trios und seine Empfehlungen "unmöglich ignorieren können". Denn viel zu schwerwiegend waren die gesammelten Fakten, viel zu deutlich auch die Anzeichen, dass auf die katholischen Kirchenführer eine riesige Prozesswelle zukommen würde.

Umso größer bald die Enttäuschung des inzwischen 67jaehrigen Dominikanerpaters und Kirchenrechtlers, als ihm der damalige Bischof von Pittsburg und spätere Kardinal von Philadelphia, Tony Bevilacqua, vertraulich mitteilte, dass Kollegen von der Bischofskonferenz gelogen hätten, als sie von einer Kommission sprachen, die sich dort "ausführlichst" mit dem "Lafayette"-Bericht befassen würde. "Eine Kommission war nicht eingerichtet worden, und das Gros der Bischöfe wollte ganz einfach seine Ruhe haben", erinnert sich Doyle. "Einer der Erzbischöfe klopfte mir seinerzeit jovial auf die Schultern und sagte: Beruhige dich, Junge, uns wird niemand verklagen!" Mitte der 1980er, so der Ordensmann, hätten viele Bischöfe privat und öffentlich noch selbstsicher erklärt: "Das schaukeln wir schon!"

Statt auf die bis dato bekannten Opfer und deren Familien demütig zuzugehen und ein intensives seelsorgerisches Gespräch mit den Geschändeten zu suchen, hätten sich die meisten Kirchenführer schnell hinter "Verteidigungslinien" zurückgezogen und seien mit einer zum Teil unvorstellbaren Aggressivität auf die Opfer und deren Anwälte losgegangen, bedauert der Dominikaner. Als "geldgierige Prozess-Hähne" und "Kirchenfeinde" hätten sie die Opfer beschimpft, mit Verleumdungsklagen hätten sie gedroht und hätten eiskalt gelogen, wenn es galt, die klerikalen Straftäter zu decken. Vielerorts hätten sie die Kinderschänder klammheimlich in neue Pfarreien und schulische Einrichtungen versetzt und hätten dadurch skrupellos weitere sexuelle Gewalt an Tausenden von Jugendlichen in Kauf genommen. Typisch für das zynische Verhalten vieler "Würdenträger", so Doyle, sei nicht nur der Meineid gewesen, den Kardinal Roger Mahony von Los Angeles in einem Prozess schwor. Auch die feige Flucht zweier anderer amerikanischer Kardinäle vor den Opfern, sei in- und außerhalb der Kirche mit sprachlosem Entsetzen registriert worden: Der eine erklärte, er habe "Wichtigeres zu tun". Der andere gestand, er habe "Angst beschimpft zu werden"!

Thomas Doyle kann nicht vergessen, dass Johannes Paul II. sich weigerte, Opfer in Rom zu empfangen: "Wiederholt haben Einzelpersonen und Gruppen um eine Audienz mit dem Papst gebeten. Vergeblich. Der Vatikan hat noch nicht mal den Eingang ihrer Briefe bestätigt. Bitter, sehr bitter, wenn Priester dein Leben zerstören und du dann obendrein vom Oberhaupt der Kirche so eine Abfuhr hinnehmen musst!"

Ein geradezu vernichtendes Armutszeugnis hätten sich unlängst die US-Bischöfe mal wieder selbst ausgestellt und damit bewiesen, wie weit sie mit ihren Herzen noch immer von den Opfern pädophiler Priester weg sind, betont der Ordensmann. Als nämlich ihr Amtsbruder, der emeritierte Weihbischof von Detroit, Thomas Gumbleton (80), auf einem SNAP-Kongress (Survivers Network for Abused by Priests) aufgetreten war und detailliert über seine eigene Vergewaltigung durch einen Priester gesprochen hatte, sei er nicht nur von Rom wegen seiner "die Einheit der Bischöfe" schädigenden öffentlichen Beichte postwendend abgestraft und von seinem Dienst als Pfarrer in einem Armenviertel der Großstadt "suspendiert", sondern darüber hinaus von seinen Kollegen mit "eisigem Schweigen" bedacht worden. Keiner der
über 400 katholischen US-Bischöfe habe sich bei Gumbleton mal telefonisch gemeldet und gesagt: Du, Tom, das tut mir aber leid, was dir da passiert ist, und wenn du demnächst mal hier vorbeikommst, schau rein, damit wir ein bisschen reden können!

Dass der in den USA geborene und in Kanada aufgewachsene Dominikaner wie kaum ein anderer in der katholischen Kirche die Ursachen, Umstände und Folgen klerikaler Sexualverbrechen kennt, hat ihm über die letzten 25 Jahre nicht nur Respekt und Freundschaft eingebracht, sondern auch Intrigen und Feindschaft. "Manche Leute in der katholischen Hierarchie haben mich seit langem auf der Abschussliste", ist Doyle sicher. "Ich habe ihnen nämlich den Spiegel vorgehalten, habe ihr doppelbödiges Verhalten gegeißelt und ihre ganzen Verdunklungsmanöver als den eigentlichen Skandal beschrieben!"

Doyle hält es für einen "schlechten Witz", wenn Vertreter des Vatikans oder auch nationaler Bischofskonferenzen uns neuerdings immer häufiger glauben machen wollen, dass die katholische Kirche "vorbildlich mit der Missbrauchskrise" umgehe und als Beispiel für andere Institutionen dienen könne. "Das ist bestenfalls frommes Wunschdenken", stellt der Amerikaner fest." Denn wer behauptet, wir seien bereits über den Berg hinweg, handelt unverantwortlich!" Sehr viel realistischer sei es, so der Pater, sich auf weitere "Schreckensnachrichten" einzustellen, zumal nicht nur in den erzkatholische Ländern Europas wie Polen, Italien, Spanien und Deutschland die "ganze Wahrheit" noch lange nicht zu Tage gefördert wurde, sondern auch aus Länder der Karibik, Lateinamerikas und Afrikas noch mit manch "bösen Überraschungen" zu rechnen sei.

Der ehemalige Militärpfarrer der amerikanischen Luftwaffe Thomas Doyle, der u.a. in Deutschland und im Irak zum Einsatz kam, betont ausdrücklich, dass er durch die traumatischen Erfahrungen von US-Kriegsveteranen wie auch durch die Lebensbeichten vergewaltigter Kinder und deren Eltern ein anderer Mensch geworden sei - feinfühliger, demütiger, geduldiger. Er habe im Umgang mit "verwundeten Menschen" gelernt, Worte zu "gewichten" und ein Gespür dafür zu entwickeln, wie "leicht wir jemanden verletzen können". Das sei vielleicht auch einer der Gründe, warum er so empfindlich reagiere, wenn Kirchenleute "vom Ende der Krise" reden und dabei vergessen, dass die Leiden der Opfer oft vor 20 oder gar 30 Jahren begannen und ein Ende der Höllenqualen noch lange nicht in Sicht ist. "Wir können so taktlos sein", sagt Doyle: Wenn in päpstlichen Verlautbarungen zum Beispiel nur von den "Sünden der Priester" die Rede ist, statt von "abscheulichen Sexualverbrechen", bei denen es nicht einfach nur zu "unziemlichen körperlichen Kontakten" kam, sondern u.a. zu "bestialischen Reihenvergewaltigungen hilfloser, kleiner Mädchen durch Priester und Seminaristen". Oder sei es denn nicht eine Taktlosigkeit sondergleichen, fragt der Kirchenrechtler empört, wenn der Bostoner Kardinal Bernard Law, der es vorzog, im notorischen Pädophilen-Skandal seiner Diözese die klerikalen Täter statt die über 1000 Opfer zu schützen, 2002 für all seine "Verdienste" (?) in Rom mit dem Titel des "Erzpriesters der päpstlichen Basilika Santa Maria Maggiore" von Papst Johannes Paul II. ausgezeichnet wurde und drei Jahre später im Konklave seine Stimme für Benedikt XVI. abgeben durfte?! "Das war", so der Dominikaner, "für alle von Priestern geschändeten Menschen ein harter Schlag ins Gesicht".

Wenn es darum geht, Opfer kirchlicher Gewalt zu schützen oder den Geschädigten zu ihrem Recht zu verhelfen, fallen die Briefe Doyle´s sowie seine Kommentare und Stellungnahmen in den Medien darum immer unmissverständlich und kompromisslos aus. Bei "konditionellen Nebensätzen" hält sich der Kirchenrechtler nie lange auf. Dem Beobachter des Vatikans bei den Vereinten Nationen in New York, Erzbischof Silvano Tomasi, empfiehlt er beispielsweise, seinen "ahnungslosen Redenschreiber fristlos zu entlassen, weil der mit seinem zu Papier gebrachten Blödsinn das Ansehen der katholischen Kirche schädigt". Kardinal Tarcisio Bertone, dem Staatssekretär Benedikt XVI., schreibt Doyle in einem Brief vom 22, November 2007, dass es jederzeit wünschendwert ist, sich vor Interviews und sonstigen öffentlichen Statements "korrekt und umfassend zu informieren" und nicht zu meinen, Briefings durch die amerikanischen Bischöfe - den Hauptverantwortlichen für das schreckliche Ausmaß des Skandals in den USA - würden für ein zutreffendes Urteil ausreichen.

Auch Benedikt XVI. kriegt sein Fett ab. Am Schreiben des Papstes an die irischen Katholiken vom März 2010 kritisiert Thomas Doyle, dass der Papst in einem Atemzug vom Schaden der Sexualverbrechen "für die Kirche" und vom Schaden der Sexualverbrechen "für die Opfer" spricht. Wenn es um das Wohlergehen von Menschen gehe und ums Ende ihrer unsäglichen Leiden, so der Dominikaner, sei es ein regelrechter Affront, das Ansehen der Institution Kirche ins Spiel zu bringen. Sodann fragt der Ordensmann in seinem Kommentar zum Brief des Papstes, ob Benedikt XVI. nicht besser die Bischöfe Irlands zu Gebet, Umkehr und Buße aufgerufen hätte, statt die armen Laien-Christen, die man ja nun wirklich für den ganzen abscheulichen Skandal nicht verantwortlich machen könne.

Wo immer Thomas Doyle ans Rednerpult tritt oder in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen Interviewfragen beantwortet, fordert er leidenschaftlich drei Reformen, die nach gründlicher Analyse der Sexualverbrechen in der Kirche "unerlässlich" geworden seien: Erstens, so ist er überzeugt, müsse man innerkirchlich endlich mit der furchtbaren Häresie aufräumen, Kleriker seien "ontologisch" etwas Besseres als die Laien - Elite-Christen und kleine Götter sozusagen, denen man unterwürfigst die Hände zu küssen hätte. Zweitens, müsse der Pflichtzölibat abgeschafft werden, weil er samt der ganzen repressiven katholischen Sexuallehre ("Wo überall Todsünde draufsteht") für ein Klima verantwortlich gemacht werden muss, wo Triebtäter leichtes Spiel haben und schließlich zu einer ernsten Gefahr für ihre Umwelt werden. Drittens, müsse es so schnell wie möglich zu einer "Demokratisierung der Entscheidungs-Prozesse" in der Kirche kommen, wo alle Mitglieder des Gottesvolkes ihre Talente und Geistesgaben einbringen können. Erst wenn man die extrem monarchistisch ausgerichtete und auf höchste Geheimhaltung bedachte kleine Herrscher-Clique "von ihrem Podest runterhole", sei mit größerer Transparenz und Menschenfreundlichkeit in unserer Kirche zu rechnen.


© imprimatur März 2012
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